
BVerwG, Beschluss vom 24.09.2024, Az.: 6 B 10/24
Problem: Qualifizierter Grundrechtseingriff im Falle einer Erledigung
Einordnung: Verwaltungsprozessrecht
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Einleitung
Der Beschluss des BVerwG verbindet die Aufarbeitung der Corona-Pandemie mit einem aktuellen Problem des Verwaltungsprozessrechts. Konkret geht es um die Frage, ob eine inzwischen erledigte Corona-Schutzmaßnahme einen qualifizierten Grundrechtseingriff darstellt und damit ein berechtigtes Interesse an einer gerichtlichen Überprüfung begründet.
Sachverhalt
Die Klägerin, eine GmbH, vertreibt Silvester-Feuerwerk. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde zu den Jahreswechseln 2020 und 2021 durch eine Rechtsverordnung verboten, Feuerwerk der Kategorie F2 an Verbraucher abzugeben. Die Klägerin sieht sich dadurch in ihrem Grundrecht aus Art. 12 I GG verletzt. Sie erwirtschafte mit dem Silvestergeschäft ca. 85 % ihres Jahresumsatzes, sodass die Verbote sie in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet hätten. Die Umsatzverluste hätten auch nicht nachträglich ausgeglichen werden können, weil es sich bei dem Verkauf von Silvester Feuerwerk um ein absolutes Saisongeschäft handele. Da sie das Feuerwerk von dem Produzenten weit vor Erlass der Verbote habe abnehmen müssen, entstanden weitere Kosten für Transport, Lagerhaltung und Vorfinanzierung. Die Beklagte hält dieser Argumentation entgegen, die Klägerin hätte das Feuerwerk weiterhin außerhalb des Bundesgebiets vertreiben dürfen. Auch sei die Klägerin noch in anderen Geschäftsfeldern wie z.B. Groß- und Musikfeuerwerken oder Bühnenpyrotechnik aktiv. Die umstrittenen Verbote hätten sie daher nicht zur gänzlichen Aufgabe ihrer Berufsausübung gezwungen. Außerdem sei das Eingriffsgewicht durch staatliche Hilfsprogramme („Corona-Überbrückungshilfen“) gemindert worden. Es fehle somit an einem qualifizierten Eingriff in das Grundrecht der Klägerin aus Art. 12 I GG.
Weist die Klägerin ein schutzwürdiges Interesse i.S.v. § 43 I VwGO auf?
Leitsatz
Ein qualifizierter Grundrechtseingriff in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG, der die Erhebung einer Feststellungsklage gegen bundesverordnungsrechtliche Überlassungsverbote von Pyrotechnik zum Jahreswechsel als sich typischerweise kurzfristig erledigende Maßnahmen rechtfertigt, verliert seinen Charakter nicht dadurch, dass der betroffene Unternehmer staatliche Sekundärleistungen (Ausgleichszahlungen oder Überbrückungshilfen) erhält.
Lösung
„[12] […] Für die Zulässigkeit einer auf das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses gerichteten Feststellungsklage im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO ist jedes als schutzwürdig anzuerkennende Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art ausreichend (= Definition „berechtigtes Interesse“ i.S.v. § 43 I VwGO). Entscheidend ist, dass die gerichtliche Feststellung geeignet erscheint, die Rechtsposition des Klägers in den genannten Bereichen zu verbessern. Dies gilt auch für Rechtsverhältnisse, die einen in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt betreffen (= Problem: Rechtsverhältnis hat sich erledigt), mithin auch für solche Klagen, die auf die inzidente Überprüfung einer außer Kraft getretenen Rechtsnorm zielen. Die Klärung von in der Vergangenheit bestehenden Rechtsverhältnissen kann nach der Rechtsprechung in den zu § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO anerkannten Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitationsinteresses sowie bei der Absicht zum Führen eines Schadensersatzprozesses erreicht werden (Lösung: Heranziehen der Fallgruppen der FFK). Ein Feststellungsinteresse kann sich aber auch bei Vorliegen eines sich typischerweise kurzfristig erledigenden, qualifizierten Eingriffs ergeben. Denn der in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz kann die Anerkennung eines Feststellungsinteresses erfordern, wenn sich die unmittelbare Belastung durch den schwerwiegenden Hoheitsakt auf eine Zeitspanne beschränkt, in der die Entscheidung des Gerichts kaum zu erlangen ist.
[14] Nach den zutreffenden Erwägungen des Berufungsgerichts liegt mit den hier streitigen Überlassungsverboten jeweils für den Jahreswechsel 2020 und 2021 eine Fallgestaltung vor, in der nach der Eigenart des geregelten Sachverhalts typischerweise eine Hauptsacheentscheidung durch die Gerichte vor deren Außerkrafttreten kaum zu erlangen ist (Hier: Typischerweise kurzfristige Erledigung (+)).. Denn die vom Überlassungsverbot betroffenen „Silvester-Feuerwerke“ der Kategorie F2 unterliegen gemäß § 22 Abs. 1 der Ersten Verordnung zum Sprengstoffgesetz einem ganzjährigen Überlassungsverbot an Verbraucher, das jeweils nur für den Jahreswechsel aufgehoben ist. Damit beschränkte sich der Anwendungszeitraum des zusätzlich durch die streitigen Normen jeweils im Dezember eingefügten Überlassungsverbots lediglich auf die letzten Tage des Jahres 2020 und 2021. Eine Überprüfung dieses – ergänzenden – Verbots war während ihres jeweiligen Gültigkeitszeitraumes in einem Hauptsacheverfahren nicht zu erlangen.“
Fraglich ist jedoch, ob es sich zudem um einen qualifizierten Grundrechtseingriff handelt.
„[16] Der Senat hat zuletzt in seinem Urteil vom 24. April 2024 Kriterien herausgearbeitet, die zur Prüfung des Vorliegens eines qualifizierten Grundrechtseingriffs herangezogen werden können (BVerwG, Urteil vom 24.04.2024, 6 C 2.22, in: RA 8/2024, 421). In der vorliegenden Konstellation eines Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG ist dabei eine Einzelfallwürdigung – der Ermittlung des durch Art. 19 Abs. 2 GG garantierten Wesensgehalts des jeweiligen Grundrechts vergleichbar – geboten, die zum einen die besondere Bedeutung des betroffenen Grundrechts im Gesamtsystem der Grundrechte berücksichtigt und zum anderen ist zu bewerten, inwieweit die fragliche Maßnahme die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung in dem durch das Grundrecht erfassten Lebensbereich beschränkt (= Kriterien für qualifizierten Eingriff in Art. 12 I GG). Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sind zur sachgemäßen Eingrenzung nur ausnahmsweise als so gewichtig anzusehen, dass sie in dem Fall ihrer Erledigung die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses rechtfertigen.
[17] Vorliegend waren die Überlassungsverbote […] von gravierender Auswirkung auf deren Berufsausübung (Hier: Qualifizierter Grundrechtseingriff (+)). Denn ausweislich ihrer Darlegungen war der Klägerin die Durchführung ihres Kerngeschäfts in Form des Vertriebes von Silvesterfeuerwerk in den Jahren 2020 und 2021 nicht möglich. Dem Berufungsgericht ist zwar zuzugeben, dass die Überlassungsverbote kein Eingriffsgewicht erreichten, das einem temporären Berufsverbot gleichkäme, weil es nicht mit einer völligen Betriebsschließung einherging, wie dies etwa für bestimmte Geschäfte oder Freizeiteinrichtungen der Fall war. Die Überlassungsverbote betrafen aber nach den Schilderungen der Klägerin nicht lediglich ein untergeordnetes Teilsortiment, sondern das für ihren wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zentrale Produkt. Die Klägerin hatte […] erläutert, dass sie 85 % ihres Umsatzes mit Silvesterfeuerwerken der betroffenen Kategorie F2 erziele […]. Sie hat auch geschildert, dass Lagerhaltung und Transport sowie die erforderliche Vorfinanzierung erhebliche Zusatzkosten auslösten, die grundsätzlich existenzgefährdend hätten sein können. Sie sei aufgrund der streitgegenständlichen Vorschrift gezwungen gewesen, die Abgabe von bereits beschafften Feuerwerkskörpern der Kategorie F2 für den gewinnträchtigsten Zeitraum der beiden Jahre einzustellen, ohne dass sich der versäumte Umsatz zu einem späteren Zeitraum hätte nachholen lassen. Dies lässt eine nicht nur geringfügige oder für die gewählte Form der Berufsausübung irrelevante Beeinträchtigung ihres Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG möglich erscheinen. […] Nicht unberücksichtigt darf zudem bleiben, dass die weiteren im Berufungsbeschluss angeführten Geschäftszweige der Klägerin wie Groß- oder Musikfeuerwerke, Firmenevents oder pyrotechnische Inszenierungen durch anderweitige coronabedingte Einschränkungen wie Kontaktbeschränkungen in den Jahren 2020 und 2021 gleichfalls erheblich eingeschränkt waren. Die von der Klägerin geschilderten Auswirkungen des Überlassungsverbots auf ihren Geschäftsbetrieb sind in ihrer grundrechtlichen Bedeutung von erheblichem Gewicht, weil sie nicht lediglich Gewinnchancen beeinträchtigen, sondern die generelle wirtschaftliche Tragfähigkeit des von der Klägerin unter erheblichem Einsatz von finanziellen und personellen Ressourcen ausgeübten Geschäftsmodells „Vertrieb von Pyrotechnik“ berühren. Hinzu kommt, dass ihr die Abgabe der pyrotechnischen Gegenstände in zwei aufeinanderfolgenden Jahren untersagt worden ist.
[18] Das Feststellungsinteresse wird […] nicht durch staatliche Hilfsprogramme beseitigt oder gemindert (= staatliche Hilfsprogramme irrelevant) […]. Auch wenn staatliche Ausgleichszahlungen oder Überbrückungshilfen das Gewicht eines Eingriffs in die Berufsfreiheit bei der Prüfung von dessen Verhältnismäßigkeit mindern und in milderem Licht erscheinen lassen können, sind sie als sekundäre Kompensationsleistungen nicht geeignet, einem Kläger die prozessrechtlich grundsätzlich gebotene gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit der Gültigkeit von nicht weiter vollzugsbedürftigen untergesetzlichen Normen zu nehmen. Denn eine finanzielle Kompensation kann für sich genommen dem Bedeutungsgehalt der Berufsfreiheit nicht gerecht werden, die in erster Linie persönlichkeitsbezogen ist, also im Bereich der individuellen beruflichen Leistung und Existenzerhaltung das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit konkretisiert.“
Somit weist die Klägerin ein schutzwürdiges Interesse i.S.v. § 43 I VwGO auf.
Fazit
Der Beschluss knüpft bzgl. der Fallgruppe des qualifizierten Grundrechtseingriffs, der sich typischerweise kurzfristig erledigt, an die Grundsatzentscheidung des BVerwG vom 24.04.2024 an, über die wir in der RA 8/2024, 421 berichtet haben. Das BVerwG veranschaulicht anhand des Art. 12 I GG, was es unter einem qualifizierten Grundrechtseingriff versteht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass etwaige finanzielle Kompensationen erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen sind, also beim Prüfungspunkt „Feststellungsinteresse“ / „Fortsetzungsfeststellungsinteresse“ (im Fall einer FFK) keine Rolle spielen.
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