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Rechtsprechung des Monats April 2025: Ermessensergänzung in der mündlichen Verhandlung

VGH BW, Beschluss vom 30.01.2025 – 12 S 1070/24 (BeckRS 2025, 1001)

Schwerpunkt: § 114 VwGO

In Kooperation mit Alpmann Schmidt präsentieren wir die Rechtsprechung des Monats. Hierbei handelt es sich um examensrelevante Rechtsprechung, die dir von erfahrenen Praktiker:innen vorgestellt wird. Zusätzlich bieten dir diese Fälle die Möglichkeit, das Schreiben von Assessorklausuren zu üben.

Fall

Die Kl. stellt Altkleidersammelcontainer auf Straßen auf. Das Tiefbauamt hat ihr die dazu nötige straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis verweigert. Im Ermessen hat es sich u.a. darauf berufen, dass die Container der gemeinnützigen Hilfsorganisationen den Bedarf seit Jahren voll abdeckten. Außerdem seien die karierten Container hässlich.

Sie gehören dem Rechtsamt an und begleiten das Tiefbauamt in die mündliche Verhandlung. Dort weist der Vorsitzende darauf hin, dass die angeführten Gründe straßenrechtlich kaum haltbar seien. Auf Ihre Bitte hin unterbricht er die Sitzung kurz. Auf dem Gerichtsflur gesteht Ihnen der Fachbeamte des Tiefbauamts zerknirscht, dass der Bescheid zwar „vermasselt“ worden sei. Es gebe aber eine ganze Reihe durchgreifender Ermessenserwägungen, mit denen der Antrag rechtmäßig abgelehnt werden könne (trifft zu).

Was tun Sie, um den Prozess doch noch zu gewinnen?

Leitsätze

  1. Die Ergänzung von Ermessenserwägungen ist prozessual in § 114 S. 2 VwGO geregelt. Sie unterliegt formellen und materiellen Anforderungen.
  2. Die Änderung (= Ergänzung) des VA muss vom Verteidigungsvorbringen deutlich unterscheidbar sein.
  3. Der für einen schriftlichen VA erforderlichen Schriftform der Ermessensergänzung wird durch das gerichtliche Protokoll genügt.
  4. Auf Antrag des Behördenvertreters muss das Gericht die Ermessensergänzung protokollieren.

Entscheidung

Zur Sondernutzung: AS-Skript Materielles Verwaltungsrecht in der Assessorklausur (2023), Rn. 541 ff.

I. Der Erlass eines völlig neuen Bescheids scheidet in der Verhandlungssituation aus tatsächlichen Gründen aus. Für eine Vertagung der Verhandlung gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 227 ZPO gibt es keinen Grund. In Betracht kommt nur eine nachträgliche Ermessensergänzung. Das materielle Straßenrecht und das VwVfG lassen eine solche Ermessensergänzung zu. Straßenrechtlich durchgreifende Ermessenserwägungen kann das Tiefbauamt anführen.

AS-Skript Die verwaltungsgerichtliche Assessorklausur (2023), Rn. 670; missverständlich Kopp/Schenke, VwGO (2024), § 114 Rn. 50 a.E., 113 Rn. 232, wonach § 114 S. 2 VwGO bei Verpflichtungsklagen unanwendbar sein soll.

II. Allerdings muss dafür gesorgt werden, dass die veränderten Ermessenserwägungen im laufenden Prozess auch berücksichtigt werden, um den drohenden Prozessverlust abzuwenden. Die prozessualen Anforderungen an „nachgebesserte Ermessenserwägungen“ ergeben sich aus § 114 S. 2 VwGO.

„[10] An die Form und Handhabung der Nachbesserung von Ermessenserwägungen sind zur Wahrung der Rechtsverteidigung im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG, den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und das rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot strenge Anforderungen zu stellen.“

§ 114 S. 2 VwGO stellt formelle und materielle Anforderungen.

1. Die Behördenvertreter können die formellen Anforderungen einhalten.

a) Die Behördenvertreter müssen formal deutlich hervorheben – am besten durch ausdrückliche Erklärung –, dass der nun folgende neue Vortrag zum Ermessen nicht der Verteidigung des bisherigen Bescheids dient.

„[10] … Will eine Behörde im laufenden Verwaltungsprozess die Begründung des Verwaltungsakts ändern oder ergänzen, dann muss sie u.a. erkennbar trennen zwischen neuen Begründungselementen, die den Inhalt ihrer Entscheidung betreffen, und Ausführungen, mit denen sie lediglich als Prozesspartei ihre Entscheidung verteidigt.“

Kopp/Schenke, VwGO (2024), § 114 Rn. 50

b) Ist – wie hier – der Bescheid schriftlich ergangen, muss eigentlich auch die Ermessensergänzung schriftlich erfolgen. Das ergibt sich zunächst aus den allgemeinen Anforderungen an Verwaltungsakte.

„[10] … Aus Gründen der Rechtsklarheit und -sicherheit [müssen] die Nachholung und Nachbesserung von Ermessenserwägungen grundsätzlich schriftlich erfolgen.“

Auch § 39 Abs. 1 VwVfG verlangt regelmäßig die Schriftform.

„[10] … Da die Form der Begründung eines Verwaltungsakts der Form zu folgen hat, in der der Verwaltungsakt erlassen wurde, müssen Ermessensergänzungen, auch wenn sie im Gerichtsverfahren erfolgen, dann schriftlich vorgenommen werden, wenn – wie meist – der Verwaltungsakt selbst schriftlich erlassen worden ist.“

c) Zwar können faktisch in der laufenden mündlichen Verhandlung keine (längeren) schriftlichen Erklärungen erstellt werden. Das hindert die Einhaltung der Schriftform allerdings nicht.

„[10] … Die Schriftform wird dabei auch durch eine Erklärung zu Protokoll des Gerichts gewahrt.“

Das gilt auch, wenn der Verwaltungsakt elektronisch i.S.v. § 3a VwVfG erlassen worden ist und auf diese Weise die Schriftform „ersetzt“ hat.

„[10] … Denn eine den Formvorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung gerecht werdende Ermessensergänzung hält immer auch die Vorgaben des Verwaltungsverfahrensgesetzes ein. Insbesondere ist im Verwaltungsprozess selbst die Übermittlung eines Dokuments in elektronischer Form rechtlich nicht möglich, weil die Verwaltungsgerichtsordnung die Einreichung als elektronisches Dokument im Sinne des § 55a Abs. 1 VwGO als Unterfall der Schriftlichkeit kategorisiert und keine eigene elektronische Form kennt.“

d) Das Gericht muss die Ermessensergänzung nicht von sich aus ins Protokoll aufnehmen, weil sie kein wesentlicher Verhandlungsvorgang i.S.d. § 105 VwGO i.V.m. § 160 Abs. 2 ZPO ist. Denn wesentliche Verhandlungsvorgänge sind nur solche, die zum äußeren Hergang der Verhandlung zählen. Die Behördenvertreter können die Protokollierung der Ermessensergänzungen aber beantragen und haben auch einen Anspruch auf Aufnahme ins Protokoll.

„[12] … Bei einer mündlich vorgenommenen Nachbesserung des Ermessens im Termin zur mündlichen Verhandlung handelt es sich nämlich um eine bestimmte Äußerung im Sinne von § 105 VwGO i.V.m. § 160 Abs. 4 ZPO.“

2. Darüber hinaus muss die Nachbesserungserklärung materiellen (inhaltlichen) Anforderungen genügen.

„[10] … Die Behörde muss klar und eindeutig zu erkennen geben, mit welcher ‚neuen‘ Begründung die behördliche Entscheidung letztlich aufrechterhalten bleibt, da nur dann der Betroffene wirksam seine Rechte verfolgen kann und die Gerichte die Rechtmäßigkeit der Verfügung überprüfen können. Dafür genügt es nicht, dass die Behörde bei einer nachträglichen Änderung der Sachlage im gerichtlichen Verfahren neue Ermessenserwägungen geltend macht. Sie muss zugleich deutlich machen, welche ihrer ursprünglichen bzw. bereits früher nachgeschobenen Erwägungen weiterhin aufrechterhalten bleiben und welche durch die neuen Erwägungen gegenstandslos werden.“

Diesen Vorgaben können die städtischen Vertreter durch hinreichende Deutlichkeit in ihrem Vortrag genügen.

AlpmannSchmidt informiert:

Praxishinweis:
Hält der RA des Kl. den VA nach der Ermessensergänzung nunmehr für rechtmäßig, kann er den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklären (§ 161 Abs. 2 VwGO), um der Kostenlast zu entgehen.

Diese Rechtsprechung wurde für dich von VRVG Dr. Martin Stuttmann aufbereitet.

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Beitragsautor:

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt ist ein juristischer Fachverlag, der zudem juristische Lehrgänge und Repetitorien anbietet. In Kooperation mit JurCase präsentiert Alpmann Schmidt bei uns monatlich eine Rechtsprechung des Monats. Mehr Informationen zu Alpmann Schmidt gibt es hier.

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