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Rechtsprechung des Monats Januar 2024: Öffentlichkeit trotz fehlender elektronischer Sitzungsrolle

By 1. Januar 2024Mai 3rd, 2024No Comments
Rechtsprechung des Monats

BVerwG, Beschl. v. 19.09.2023 – 9 B 14.23, BeckRS 2023, 30397

Schwerpunkt: § 55 VwGO; § 169 GVG; § 295 ZPO

In Kooperation mit Alpmann Schmidt präsentieren wir die Rechtsprechung des Monats. Hierbei handelt es sich um examensrelevante Rechtsprechung, die dir von erfahrenen Praktiker:innen vorgestellt wird. Zusätzlich bieten dir diese Fälle die Möglichkeit, das Schreiben von Assessorklausuren zu üben.

Fall

Auszug aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 21.12.2023:

… Der Einzelrichter schließt die mündliche Verhandlung.

Beschluss

Eine Entscheidung wird zugestellt.

Der Einzelrichter will das klageabweisende Urteil nach seinem Weihnachtsurlaub schreiben. Währenddessen legt der RA des Kl. am 29.12.2023 Handyfotos vom Sitzungstag vor, auf denen zu sehen, dass die elektronischen Anzeigetafeln mit den Sitzungsrollen, die im Foyer des Gerichts und neben dem Eingang des Sitzungssaals angebracht sind, ausgefallen waren. Der RA des Kl. versichert, die Fotos seien vor der Sitzung und während einer Sitzungspause angefertigt worden, allerdings nicht von ihm. Dem Einzelrichter, der den Saal von hinten durch die Richtertür betreten hatte, war der Defekt nicht aufgefallen. Zudem fehlte die Sitzung auch auf dem Terminplan des Gerichts, den es auf seiner Homepage veröffentlicht.

Entwerfen Sie die nächste Entscheidung des Verwaltungsgerichts (Hauptsache- und Kostentenor, Entscheidungsgründe).

Leitsätze

  1. Eine Verhandlung ist öffentlich i.S.d. § 169 Abs. 1 GVG, wenn sich jedermann ohne besondere Schwierigkeiten Kenntnis von ihr verschaffen kann und der Zutritt i.R.d. tatsächlichen Gegebenheiten eröffnet ist.
  2. Der vom Gericht unbemerkte Ausfall der elektronischen Anzeige der Sitzungsrolle am Saaleingang und im Foyer des Gerichts stellt die Öffentlichkeit noch nicht infrage.
  3. Muss der RA des Kl. das Fehlen der Sitzungsrolle kennen, verliert der Kl. sein Rügerecht, wenn er den Fehler nicht bis zum Schluss der mdl. Verhandlung geltend macht.

Begriffsbestimmung

Sitzungsrolle: Auflistung der Verhandlungen an einem Sitzungstag mit den Namen der Richter, der Beteiligten und der Prozess-bevollmächtigten sowie der Aktenzeichen und Uhrzeiten des Verhandlungsbeginns

Urteil

IM NAMEN DES VOLKES

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kl. trägt die Kosten des Verfahrens

 

Entscheidungsgründe:

Der Einzelrichter ist nach § 6 VwGO zur Entscheidung berufen.

I.
Das Gericht konnte ohne Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung entscheiden, obwohl die mündliche Verhandlung in der Sache des Kl. weder im Gericht noch auf dessen Homepage angezeigt worden war.
(Dolderer, in: Sodan/Ziekow, VwGO (2018), § 104 Rn. 54)

1.
Nach § 104 Abs. 3 S. 2 VwGO kann das Gericht die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beschließen, nachdem der Vorsitzende sie gemäß § 104 Abs. 3 S. 1 VwGO geschlossen hat. Die auch ohne Antrag mögliche Wiedereröffnung kommt in Betracht, wenn das Gericht nach Schluss der mündlichen Verhandlung zum Ergebnis kommt, dass seine Entscheidung verfahrensfehlerhaft wäre. Ein Verstoß gegen die Öffentlichkeit der Verhandlung würde einen Verfahrensfehler darstellen.

55 VwGO
(1) Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist öffentlich.

[9] Nach § 55 VwGO i.V.m. § 169 Abs. 1 S. 1 GVG ist die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse öffentlich. Eine Verhandlung ist im Sinne dieser Vorschriften öffentlich, wenn sie in Räumen stattfindet, die während der Dauer der mündlichen Verhandlung jedermann zugänglich sind.

Die Verhandlung muss jedoch nicht, wie der Kl. meint, durch einen Aushang oder eine elektronische Anzeige im Gericht bekannt gemacht werden.

A.A. BAG NJW 2016, 3611 unter Berufung auf die Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens

[9] … Das Merkmal der Öffentlichkeit setzt keine an jedermann gerichtete Bekanntgabe voraus, wann und wo eine Gerichtsverhandlung stattfindet … Es genügt vielmehr, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten von einer mündlichen Verhandlung Kenntnis zu verschaffen, und dass der Zutritt im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten eröffnet ist.

Es gibt keine Hinweise dafür, dass der Verhandlungssaal nicht von jedermann betreten werden konnte oder es im Gerichtsgebäude (Pförtner, Geschäftsstellen) keine Möglichkeit gab, sich über stattfindende mündliche Verhandlungen zu informieren.

[10] … Auf die fehlende Ankündigung des [Termins] auf der Homepage kam es nicht an, da die Aufstellung sämtlicher stattfindender Sitzungstermine auf der Website eines Gerichts nur einen zusätzlichen Service darstellt. Im Übrigen wird von § 169 GVG der Schutz des Vertrauens in Terminankündigungen nicht erfasst.

„Rügeverlust“

Gedanke der Verwirkung

2.
Selbst wenn der Öffentlichkeitsgrundsatz verletzt gewesen sein sollte, hat der Kl. sein Rügerecht nach § 173 S. 1 i.V.m. § 295 Abs. 1 ZPO verloren.

[12] Danach kann die Verletzung einer Verfahrensvorschrift, auf deren Befolgung eine Partei wirksam verzichten kann, u.a. nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei den Mangel bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die aufgrund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, nicht gerügt hat, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste.

a)
Auf die Öffentlichkeit der Verhandlung kann im Verwaltungsprozess verzichtet werden …

A.A. BAG NJW 2022, 2949 (arbeitsgerichtliche Besonderheiten) und Kopp/Schenke, VwGO (2023), § 55 Rn. 5

[12] … weil nach § 101 Abs. 2 VwGO auf die mündliche Verhandlung insgesamt verzichtet werden kann.

b)
Den Beteiligten trifft die Obliegenheit, die ihm nach der Prozessordnung zu Gebote stehenden Möglichkeiten zu nutzen, um den Verfahrensmangel in der Instanz zu beseitigen. Er muss eindeutig zum Ausdruck bringen, er werde sich mit dem Verstoß nicht abfinden. Daran fehlt es hier.

aa)
Es lässt sich nicht feststellen, dass der Defekt der Anzeigetafeln dem Kl. oder seinem RA positiv bekannt war. Zwar sind die vorgelegten Fotos vor der Sitzung und während einer Sitzungspause angefertigt worden, jedoch – unwiderleglich – von einem Dritten. Hieraus lässt sich eine positive Kenntnis des Kl. bzw. seines RA während der laufenden Verhandlung nicht ableiten.

bb)

13] … Letztlich kommt es auf die Frage des genauen Zeitpunkts der Kenntnisnahme der Wahrnehmungen … aber nicht an. Denn nach § 295 Abs. 1 ZPO reicht es für den Rügeverlust aus, dass der Verfahrensmangel der Partei bekannt sein musste, sie ihn dem Gericht gegenüber aber trotzdem nicht geltend macht. Von einem Kennenmüssen ist hier deshalb auszugehen, weil der Prozessbevollmächtigte des Klägers (vgl. zur Zurechnung § 85 Abs. 2 ZPO) auf seinem Weg zum Verhandlungssaal an den genannten Infotafeln vorbeikam und ihm der Ausfall der Anzeigen hätte auffallen müssen.

Unbegründetheit ist SV-Vorgabe

II.
Die Klage hat keinen Erfolg. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kl. nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Anmerkung: Bei den Angaben in kursiv handelt es sich um besondere Hinweise, die nicht Teil der eigentlichen Klausurlösung sind.

Diese Rechtsprechung wurde für dich von VRVG Dr. Martin Stuttmann aufbereitet.

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Beitragsautor:

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt ist ein juristischer Fachverlag, der zudem juristische Lehrgänge und Repetitorien anbietet. In Kooperation mit JurCase präsentiert Alpmann Schmidt bei uns monatlich eine Rechtsprechung des Monats. Mehr Informationen zu Alpmann Schmidt gibt es hier.

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