
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteile vom 24.04.2024, Az.: 8 CN 1.23 und 8 C 9.23
Problem: Abschied vom „Weihnachtsmarkturteil“ des BVerwG
Einordnung: Kommunalrecht
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Einleitung
Ob aus der in Art. 28 II 1 GG verankerten Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden in bestimmten Situationen eine Selbstverwaltungspflicht folgt, ist seit dem berühmten „Weihnachtsmarkturteil“ des BVerwG vom 27.05.2009 (8 C 10.08) heftig umstritten. Aufgrund einer Revision gegen zwei Urteile des OVG Münster (Urteile vom 14.06.2023, 4 D 125/22.NE und 4 A 2078/), über die die „RA“ berichtet (in RA 8/2023, 421) hatte, musste sich das BVerwG erneut zu diesem Meinungsstreit positionieren.
Die nachfolgende Darstellung der Urteile des BVerwG beschränkt sich auf die Prüfung des Art. 28 II 1 GG, da im Übrigen die Berufungsurteile ohne examensrelevante inhaltliche Ausführungen bestätigt wurden.
Sachverhalt
Die Stadt Düsseldorf (Antragsgegnerin) betreibt seit über 86 Jahren einen Großmarkt als öffentliche Einrichtung. Rechtsgrundlage ist eine von ihr erlassene Großmarktsatzung. Auf dem Großmarkt bieten mehr als 100 Händler, darunter die Antragstellerin, überwiegend Obst und Gemüse zum gewerblichen Weiterverkauf an. Nach mehrjährigen Diskussionen mit den beteiligten Akteuren entschied die Antragsgegnerin, den Großmarkt aufzulösen. Am 01.07.2021 beschloss ihr Rat die entsprechende Satzungsänderung mit Wirkung zum 31.12.2024.
Den dagegen gerichteten Normenkontrollantrag der Antragstellerin hat das OVG Münster mit der Begründung abgelehnt, die Auflösung des Großmarkts durch die Änderungssatzung sei von der Garantie der gemeindlichen Selbstverwaltung gedeckt. Eine Pflicht zum Weiterbetrieb des Großmarkts gebe es nicht. Dem hält die Antragstellerin in ihrem Revisionsvorbringen entgegen, durch die Selbstverwaltungsgarantie seien die Gemeinden nicht nur vor Eingriffen in den Kernbestand ihres Aufgabenbereichs geschützt, sondern dürften sich vielmehr solcher Aufgaben, die zu den Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises zählten, nicht ohne Weiteres entledigen. Anderenfalls könnten sie den Inhalt der kommunalen Selbstverwaltung selbst beschneiden oder in Gänze aushöhlen, indem sie ureigene gemeindliche Aufgaben auf- gäben oder nicht wahrnähmen. Das verpflichte die Kommunen nicht allein zur Aufrechterhaltung des Kernbestands ihres Aufgabenbereichs, sondern auch dazu, ihren Aufgabenbestand darüber hinaus zu wahren, zu sichern und gegebenenfalls auch zu erweitern, wenn dieser in den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft wurzele und es das Wohl der Gemeindeangehörigen erfordere.
Ist die Rechtsauffassung der Antragstellerin zutreffend, kann sich also aus Art. 28 II 1 GG die Pflicht einer Gemeinde zur Wahrnehmung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben ergeben?
Leitsatz
Aus der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG ergibt sich für die Gemeinden keine Pflicht, bestimmte Aufgaben der freiwilligen Selbstverwaltung zu übernehmen oder fortzuführen.
Lösung
Die Rechtsauffassung der Antragstellerin ist zutreffend, wenn sich Art. 28 II 1 GG im Wege der Auslegung nicht nur ein Selbstverwaltungsrecht, sondern auch eine Selbstverwaltungspflicht der Gemeinden entnehmen lässt.
„[13] Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet den Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Damit wird den Gemeinden ein grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfassender Aufgabenbereich sowie die Befugnis zu eigenverantwortlicher Führung der Geschäfte in diesem Bereich gesichert. Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG sind solche Aufgaben, die das Zusammenleben und -wohnen der Menschen vor Ort betreffen oder einen spezifischen Bezug darauf haben (Hinweis: für die Definition „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ i.S.v. Art. 28 II 1 GG vgl. BVerfG, Urteil vom 21.11.2017, 2 BvR 2177/16, Rn 70 – std. Respr.). Zum Wesensgehalt der gemeindlichen Selbstverwaltung gehört danach kein gegenständlich bestimmter oder nach feststehenden Merkmalen bestimmbarer Aufgabenkatalog, wohl aber die Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die nicht durch Gesetz bereits anderen Trägern öffentlicher Verwaltung übertragen sind, ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.11.1988, 2 BvR 1619/83 und 2 BvR 1628/83, Leitsatz 2 („Rastede“ – std. Respr.).
[14] Art. 28 Abs. 2 GG wendet sich an die Länder, die den Gemeinden das Selbstverwaltungsrecht gewährleisten müssen, und an den Bund. Eine Verpflichtung der Kommunen, bestimmte Aufgaben wahrzunehmen oder fortzuführen, ergibt sich aus der Vorschrift nicht (anders noch BVerwG, Urteil vom 27.05.2009, 8 C 10.08 – „Weihnachtsmarkturteil“). Dagegen spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift, die den Gemeinden ausdrücklich ein Recht gewährleistet, nicht aber Pflichten auferlegt (= Wortauslegung, vgl. auch Donhauser, NVwZ 2010, 931, 933; Schoch, DVBl. 2009, 1533, 1534). Auch ihrer Entstehungsgeschichte lassen sich keine Anhaltspunkte für eine verfassungsunmittelbare Pflicht der Kommunen zur Wahrnehmung bestimmter Aufgaben entnehmen. Vielmehr stand dem Parlamentarischen Rat bei ihrem Erlass allein vor Augen, die Kommunen vor staatlichen Übergriffen zu schützen (= historische Auslegung). Die schließlich in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Bestimmung war im Herrenchiemseer Entwurf noch nicht enthalten, sondern wurde erst im Laufe der Beratungen eingefügt (= Dreier, GG, Art. 28 Rn 17). Der Vorschlag zu ihrer Einführung orientierte sich an Art. 127 der Verfassung des Deutschen Reiches (Weimarer Reichsverfassung – WRV), wonach Gemeinden und Gemeindeverbände das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze hatten. Damit sollte der bis dahin ohne Erwähnung der Gemeinden auskommende Entwurf um eine institutionelle Garantie zur Sicherung der kommunalen Selbstverwaltung ergänzt und die Selbstverwaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände gewährleistet werden (vgl. Bonner Kommentar zum GG, Art. 28 Rn 3). […] In den Beratungen war durchweg nur vom Recht der Gemeinden oder von der gemeindlichen Selbstverwaltung nicht jedoch von einer kommunalen Pflicht die Rede (vgl. etwa Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Akten und Protokolle, Bd. III, S. 413, Bd. XIV/1, S. 148, 150 ff.). […]
[15] Systematisch spricht ebenfalls nichts dafür, aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG eine Pflicht der Kommunen zur Aufgabenerfüllung abzuleiten (= systematische Auslegung). Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b GG räumt den Kommunen das Recht ein, gestützt auf eine (behauptete) Verletzung von Art. 28 GG Verfassungsbeschwerde zu erheben, was nur mit dem Charakter des Art. 28 GG als einer Rechte –und nicht auch Pflichten – regelnden Bestimmung vereinbar ist (Kommunalverfassungsbeschwerde
spricht gegen eine Selbstverwaltungspflicht.). Zudem unterscheidet der Verfassungsgeber in anderen Normen des Grundgesetzes ausdrücklich zwischen Rechten und Pflichten (vgl. etwa Art. 1 Abs. 1 Satz 2, Art. 25 Satz 2, Art. 33 Abs. 1 GG).[16] Schließlich stehen auch Sinn und Zweck des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG der Annahme einer aus der Regelung folgenden kommunalen„Aufgabenerfüllungspflicht“ entgegen (= teleologische Auslegung). Das durch die Norm verbürgte „Aufgabenfindungsrecht“ im örtlichen Wirkungskreis würde durch eine zugleich aus der Vorschrift folgenden Pflicht zur Aufgabenerfüllung schrittweise ausgehöhlt. Wegen ihrer begrenzten finanziellen Mittel wären Kommunen schnell außerstande, sich neuer freiwilliger Aufgaben anzunehmen, da die Aufgabenerfüllung nur selten kostenneutral möglich sein wird (Aufgabenerfüllungspflicht bzw. Aufgabenfortführungspflicht würde der Gemeinde die Möglichkeit nehmen, auf neue Entwicklungen zu reagieren und beschränkt die Entscheidungsmöglichkeiten zukünftiger Generationen.). Mit fortschreitender Zeit und der wachsenden Zahl einmal angenommener Aufgaben liefe das Recht, neue Aufgaben übernehmen zu können, zunehmend leer. Um den kommunalen Aufgabenkreis […] entwicklungsoffen zu halten, muss mit dem Recht, Aufgaben der freiwilligen Selbstverwaltung an sich ziehen zu können, das Recht einhergehen, die Erfüllung solcher Aufgaben nicht fortzuführen. Schließlich enthält Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG auch eine spezifisch demokratische Funktion. Die Bestimmung verlangt für die örtliche Ebene eine mit wirklicher Verantwortlichkeit ausgestattete Einrichtung der Selbstverwaltung, die den Bürgern eine effektive Mitwirkung an den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ermöglicht. Diese demokratische Funktion, deren Verwirklichung ein hinreichendes Maß an Kompetenzen der gewählten kommunalen Vertretungsorgane erfordert (vgl. Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG), wäre durch eine Aufgabenfortführungspflicht gefährdet. Angesichts endlicher Ressourcen ginge neu gewählten Organen der legitime Einfluss auf die Wahrnehmung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben schrittweise verloren. Es träte eine Bindung an frühere Entscheidungen ein, ohne die Möglichkeit, sich daraus zu lösen.“
Demnach lässt sich Art. 28 II 1 GG im Wege der Auslegung nicht eine Selbstverwaltungspflicht der Gemeinden entnehmen, sodass die Rechtsauffassung der Antragstellerin unzutreffend ist.
Fazit
Die Zentralaussage des Urteils lautet: Aus Art. 28 II 1 GG folgt nicht die Pflicht einer Gemeinde, freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben zu übernehmen oder fortzuführen. Damit ist das „Weihnachtsmarkturteil“ des BVerwG Geschichte. Diese Rechtsprechungsänderung hat eine große Bedeutung für die juristischen Prüfungen, weil sie eine Grundsatzfrage zu Art. 28 II 1 GG betrifft, die in der Vergangenheit äußerst strittig diskutiert wurde. Darüber hinaus ist das Urteil des BVerwG auch aus didaktischer Sicht wertvoll, weil das Gericht mustergültig die juristischen Auslegungsmethoden anwendet.
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