
Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster, Urteil vom 26.10.2023, Az.: 11 A 339/23
Problem: Abstellen von E-Scootern im öffentlichen Straßenraum
Einordnung: Straßenrecht (Verwaltungsrecht)
In Kooperation mit Jura Intensiv präsentieren wir dir den #examensrelevanten Fall des Monats. Dieser bietet einen Sachverhalt mit Fragestellung, sodass der Fall eigenständig gelöst werden kann. Die hier präsentierten Lösungen enthalten in aller Regel auch weiterführende Hinweise für eine optimale Examensvorbereitung.
Einleitung
Das Problem hat die „RA“ schon mehrfach beschäftigt: Stellt das Abstellen von Mietfahrrädern, E-Scootern und Carsharing-Fahrzeugen eine genehmigungspflichtige und damit gebührenpflichtige straßenrechtliche Sondernutzung dar? Hierzu gehen die Ansichten in der obergerichtlichen Rechtsprechung deutlich auseinander wie das Urteil des OVG Münster beweist. Der zugrunde liegende Sachverhalt wurde zu Ausbildungszwecken auf das examensrelevante Problem reduziert.
Sachverhalt (gekürzt)
Die Klägerin verleiht E-Scooter im sog. Free-Floating-Modell. Sie stehen im öffentlichen Straßenraum und sind dort nach der Benutzung wieder abzustellen. Die Nutzer müssen eine Applikation auf ihrem Smartphone installieren und ein Benutzerkonto eröffnen, um die E-Scooter mieten zu können. Für das Entsperren der E-Scooter und ihre Nutzung erhebt die Klägerin ein Entgelt. Sie liegt mit der Stadt Köln im Streit, ob es sich bei diesem Geschäftsmodell um eine straßenrechtliche Sondernutzung handelt. Die Klägerin verweist in diesem Zusammenhang auf Rechtsprechung des VG Berlin* und des OVG Berlin-Brandenburg*, nach der das stationsungebundene Carsharing keine Sondernutzung, sondern genehmigungsfreier Gemeingebrauch sei. Dann könne aber für ihr Geschäftsmodell nichts anderes gelten.
Handelt es sich beim Abstellen von E-Scootern im sog. Free-Floating-Modell um eine straßenrechtliche Sondernutzung?
Leitsatz (Der JI-Redaktion)
Die Nutzung der öffentlichen Straßen durch das Abstellen von E-Scootern ist straßenrechtlich als Sondernutzung zu qualifizieren (im Anschluss an die Rechtsprechung zu Mietfahrrädern, vgl. OVG Münster, Beschluss vom 20.11.2020, 11 B 1459/20, in: RA 1/2021, 29).
Lösung
Gem. § 18 I 1, 2 StrWG NRW liegt eine genehmigungspflichtige Sondernutzung vor, wenn eine Benutzung der Straßen über den Gemeingebrauch hinaus erfolgt.
Der Senat hat bereits entschieden*, dass die Nutzung der öffentlichen Straße durch Abstellen von Mietfahrrädern Sondernutzung ist. Die Sondernutzung hat der Senat damit begründet, dass das Abstellen von Mietfahrrädern nicht vorwiegend dem Zweck der späteren Wiederinbetriebnahme der Fahrräder diene. Im Vordergrund stehe vielmehr der mit dem abgestellten Mietfahrrad verfolgte Zweck, den Abschluss eines Mietvertrags zu bewirken. Eine solche Nutzung unterscheide sich deshalb nicht wesentlich von sonstigem Straßenhandel, also dem Anbieten von Waren und Leistungen im öffentlichen Straßenraum, der regelmäßig als Sondernutzung zu qualifizieren sei. […]
Das Abstellen oder Parken von E-Scootern dürfte rechtlich ebenso zu beurteilen sein wie das Abstellen oder Parken von Mietfahrrädern. […]
[…] das stationsungebundene Abstellen bzw. Parken von Mietfahrrädern oder zugelassenen und betriebsbereiten Elektrokleinstfahrzeugen erfolgt […] „bei objektiver Betrachtung der Gesamtumstände“ nicht „einzig“ zum Zwecke der späteren Wiederinbetriebnahme. Dieser Zweck ordnet sich im Rahmen des Abstellvorgangs vielmehr dem – verkehrsfremden – Zweck unter, zuvor eine Vereinbarung (in digitaler Form) über die Anmietung des im öffentlichen Straßenraums abgestellten Fahrrads oder Fahrzeugs zu treffen, die ihrerseits überhaupt erst die spätere Inbetriebnahme ermöglicht.
Dieser dem Abstellvorgang innewohnende verkehrsfremde Zweck ist für den objektiven Beobachter auch ohne Weiteres erkennbar. Die fraglichen Fahrzeuge sind […] mit technischen Vorrichtungen ausgestattet, welche einerseits ihre jederzeitige Inbetriebnahme ausschließen, andererseits dem Interessenten die Möglichkeit eröffnen, das zuvor ausgewählte Fahrzeug internet-basiert freizuschalten, um es zu Verkehrszwecken zu nutzen. Die Ermöglichung einer internet-basierten Freischaltung ist dabei ersichtlich nicht in erster Linie einem Interesse des Vermieters geschuldet, das betreffende Fahrzeug Verkehrszwecken zuzuführen. Sie dient vielmehr dem vorrangigen geschäftlichen Interesse an der Erzielung von Umsatz, indem der Vermieter durch die technische Ausstattung des Fahrzeugs sicherstellt, dass seine Nutzung zu Verkehrszwecken im Ergebnis nur gegen Entgelt nach Abschluss einer Vereinbarung in digitaler Form erfolgen kann. Dieser Zusammenhang erschließt sich jedem, der versucht, ein entsprechend ausgestattetes Fahrzeug ohne vorherigen Vertragsabschluss in Bewegung
zu setzen […].
Dass das Abstellen der angebotenen Fahrräder oder Fahrzeuge (auch) dem Zweck dient, diese nach Freischaltung in Betrieb zu nehmen, reicht […] nicht für die Annahme aus, diesen Vorgang (insgesamt) als Gemeingebrauch zu qualifizieren. Vorwiegend zielt das Abstellen dieser Fahrräder und Fahrzeuge auf den „Geschäftszweck“ der Anbieter und erst in zweiter Linie und diesem Zweck untergeordnet auf den „Widmungszweck“ ab, weshalb der mit dem Abstellen solcher Fahrräder oder Fahrzeuge auch verbundene und im Rahmen der Widmung liegende Zweck der Wiederinbetriebnahme nicht daran hindert, den Abstellvorgang bis zur Freischaltung durch den jeweiligen Nutzer als Sondernutzung einzuordnen. […]
Der Senat sieht sich auch nicht zu einer Änderung seiner Rechtsprechung zur Qualifizierung des stationsungebundenen Abstellens von Mietfahrrädern als Sondernutzung veranlasst, soweit das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zur Begründung seiner Auffassung, beim stations ungebundene Carsharing handele es sich um Gemeingebrauch, auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts* verweist, wonach das Aufstellen von Mietfahrzeugen auf der öffentlichen Straße durch eine Kraftfahrzeugvermietungsfirma als zulässiges Parken im Sinne von § 12 Abs. 2 StVO Ausübung des Gemeingebrauchs sei.
Denn zum einen verhält sich diese Rechtsprechung zu einer Fallgestaltung, bei der die öffentliche Straße (nur) zum Abstellen von Mietfahrzeugen genutzt wurde, weil die dort beigeladene Firma auf ihrem Betriebsgelände nicht genügend Einstellplätze besaß, Mietverträge über die dort abgestellten Fahrzeuge aber grundsätzlich auf dem privaten Betriebsgelände abgeschlossen worden sein dürften und nicht – wie aber bei den hier betroffenen Fallgestaltungen – notwendigerweise immer auf der öffentlichen Straße zustande kommen mussten. Zum anderen handelt es sich um eine mehr als 41 Jahre alte Entscheidung aus dem vordigitalen Zeitalter, die zu Fallgestaltungen der hier betroffenen Art, bei denen weder Anbieten noch Vermieten eines im öffentlichen Straßenraum ordnungsgemäß abgestellten Fahrrads oder zugelassenen und betriebsbereiten Fahrzeugs durch Personen, also analog, erforderlich ist, schon denknotwendig keine Feststellungen treffen konnte. […]
Soweit die Klägerin darauf hinweist, das Abstellen von Taxis an eigens hierfür eingerichteten Taxiständen, stelle keine Sondernutzung dar, kann dies zu keiner anderen Beurteilung der Rechtslage führen. Das Anbieten von Beförderungsleistungen durch Kraftfahrzeuge wie Taxis ist vom Bundesgesetzgeber durch ein Spezialgesetz, und zwar das Personenbeförderungsgesetz, geregelt. Die Sonderregelungen dieses Gesetzes finden auf die Klägerin keine Anwendung. Denn nach § 1 Abs. 1 PBefG unterliegt die entgeltliche oder geschäftsmäßige Beförderung von Personen mit Straßenbahnen, mit Oberleitungsbussen (Obussen) und mit Kraftfahrzeugen den Vorschriften dieses Gesetzes. Weder die Antragstellerin in dem vom Senat zu den Mietfahrrädern entschiedenen Fall noch die Klägerin betreiben eine Personenbeförderung in diesem Sinne. […]
Auch der Einwand der Klägerin, der Vergleich des Senats in seinem Beschluss vom 20. November 2020 – 11 B 1459/20 – zu Mietfahrrädern mit Warenautomaten könne nicht gezogen werden, greift nicht durch. Für die Qualifizierung eines Verkehrsvorgangs als Sondernutzung kommt es nicht darauf an, ob die Straße für das Anbieten einer verkehrsfremden Ware durch einen Warenautomaten oder – wie vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingewandt – durch einen „Straßenhändler“, oder eines Verkehrszwecken dienenden Fahrrads oder – wie hier – E-Scooters genutzt wird. Allein entscheidend ist, dass die Nutzung der Straße in diesen Fällen jeweils zu einem – verkehrsfremden – Zweck erfolgt, nämlich entweder zum Abschluss eines Kaufvertrags über eine in einem Warenautomaten oder von einem Straßenhändler angebotene Ware oder – wie bereits aus geführt – eines Mietvertrags über das im öffentlichen Straßenraum abgestellte Fahrrad oder Fahrzeug.
FAZIT
Solange das BVerwG die Streitfrage nicht höchstrichterlich klärt bleibt es wohl bei der aufgezeigten Uneinigkeit in der Rechtsprechung. Letztlich geht es im Kern um die Frage, was der primäre Zweck des Abstellens der Mietfahrräder, E-Scooter und Carsharing-Fahrzeuge im öffentlichen Straßenraum ist: der Abschluss eines Mietvertrages oder die Teilnahme am Straßenverkehr?
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