BGH, Beschluss vom 19.07.2023 – 5 StR 165/23, BeckRS 2023, 27852
Schwerpunkte: §§ 105, 261, 337 StPO
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Fall
A und B sind wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angeklagt.
Das zugrundeliegende Ermittlungsverfahren wurde durch Erkenntnisse aus Telefonüberwachungsmaßnahmen und Observationen bestimmt. Hierauf gestützt wurden Durchsuchungsbeschlüsse für die Wohnungen der Angeklagten sowie eine vermeintliche „Bunkerwohnung“ durch das zuständige Amtsgericht erlassen. Wenige Tage später wurden A und B bei Betreten einer noch unbekannten Wohnung observiert, welche sie kurze Zeit später mit einer Reisetasche verließen. Aufgrund der Erkenntnisse aus der laufenden Telefonüberwachung bestand der Verdacht, dass sich in der Reisetasche Betäubungsmittel befanden. A und B wurden sodann außer Sichtweite der Wohnung in der Nähe eines Pkw um 14:40 Uhr vorläufig festgenommen. Bereits um 14:38 Uhr, dann nochmals um 14:40 Uhr, versuchte die Staatsanwältin, den im Bereitschaftsdienst befindlichen Ermittlungsrichter telefonisch zu erreichen, um sowohl eine Durchsuchung des Pkws als auch der Wohnung zu ermöglichen. Von der Geschäftsstelle wurde mitgeteilt, dass der Richter zu Tisch sei. Die Staatsanwältin ordnete sodann um 14:51 Uhr wegen möglichen Beweismittelverlusts selbst die Durchsuchung der Wohnung an. Laut eines von ihr gefertigten Vermerks hatte sie den Einsatzleiter der Ermittlungsbehörde zuvor nach der Eilbedürftigkeit befragt und zur Antwort erhalten, dass weitere Personen in der Wohnung sein könnten, die Beweismittel vernichten könnten. Um 14:56 Uhr erreichte die Staatsanwältin den diensthabenden Richter, der mündlich die Durchsuchung des Pkw anordnete. Eine richterliche Anordnung der Durchsuchung der Wohnung oder eine Bestätigung ihrer eigenen Anordnung holte sie bei dieser Gelegenheit nicht ein. Ab 15:00 Uhr begaben sich Beamte zur Wohnung und sicherten diese von außen ab. Nachdem der Versuch einer Öffnung der Wohnung mittels im Pkw der Angeklagten aufgefundener Schlüssel misslungen war, wurde die Wohnung um 16:00 Uhr durch einen Techniker geöffnet und durchsucht. Es befand sich niemand in den Räumlichkeiten. In der Wohnung wurden Betäubungsmittel sowie weitere Beweismittel sichergestellt.
In der Hauptverhandlung widersprachen A und B der Verwertung der aufgrund der Durchsuchung der Wohnung gewonnenen Beweismittel. Beide werden schuldig gesprochen und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. A und B legen jeweils zulässig Revision ein und erheben die Rüge der Verletzung formellen sowie materiellen Rechts. Haben die Revisionen Erfolg?
Leitsätze
- Wegen des Ausnahmecharakters der nichtrichterlichen Anordnung und wegen der sichernden Schutzfunktion des Richtervorbehalts für das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG ist das Tatbestandsmerkmal der „Gefahr im Verzug“ eng auszulegen. Reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder lediglich auf kriminalistische Alltagserfahrungen gestützte, fallunabhängige Vermutungen reichen für die Annahme von Gefahr im Verzug nicht aus. Die bloße Möglichkeit eines Beweismittelverlusts genügt nicht.
- Für die Überprüfung der Annahme von Gefahr im Verzug ist allein die Lage in der Anordnungssituation maßgeblich.
- Jede Durchsuchungsanordnung verliert durch Zeitablauf ihre rechtfertigende Kraft, weil sich ihre Entscheidungsgrundlage im Lauf der Zeit vom Entscheidungsinhalt immer weiter entfernt. Eine Eilanordnung legitimiert dabei nur jene Eingriffe, die im unmittelbaren Fortgang ins Werk gesetzt werden und keinen Aufschub dulden.
- Die Staatsanwaltschaft ist nach einer rechtmäßigen Eilanordnung nicht gehalten, nachträglich eine richterliche Genehmigung einzuholen.
- Die Unzulässigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Beweiserhebung führt nicht ohne Weiteres zu einem Beweisverwertungsverbot. Ein Beweisverwertungsverbot ist von Verfassungs wegen aber bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten.
Gutachten
Die Revision hat Erfolg, wenn das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht, § 337 Abs. 1 und 2 StPO.
Es könnte ein Verstoß gegen § 261 StPO vorliegen, soweit die aus der Durchsuchung hervorgegangenen Beweismittel einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Hiernach darf das Tatgericht seine Überzeugung nur auf solche Beweismittel stützen, die in einem prozessual ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen sind. Eine Unverwertbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse könnte anzunehmen sein, wenn die Eilanordnung der Staatsanwaltschaft unter Verstoß gegen den in § 105 Abs. 1 StPO angeordneten Richtervorbehalt erlassen worden wäre. Eine Eilzuständigkeit der Staatsanwaltschaft ist hiernach lediglich dann eröffnet, wenn Gefahr im Verzug zu begründen ist. Dies ist anzunehmen, wenn die richterliche Anordnung nicht eingeholt werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme gefährdet wird.
„[17] Wegen des Ausnahmecharakters der nichtrichterlichen Anordnung und vor allem wegen der sichernden Schutzfunktion des Richtervorbehalts für das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG ist diese Vorgabe eng auszulegen. Reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder lediglich auf kriminalistische Alltagserfahrungen gestützte, fallunabhängige Vermutungen reichen daher für die Annahme von Gefahr im Verzug nicht aus. Eine solche muss vielmehr mit Tatsachen begründet werden, die auf den Einzelfall bezogen sind. Die bloße Möglichkeit eines Beweismittelverlusts genügt nicht.“
1.
Fraglich ist zunächst, ob die Tatsache, dass die Wohnung erst 70 Minuten nach der Durchsuchungsanordnung geöffnet werden konnte, die Rechtmäßigkeit der Anordnung selbst oder ihre Vollziehung berührt.
„[20] Auf die Rechtmäßigkeit der Anordnung … bleibt dies … ohne Auswirkung. Denn für die Überprüfung der Annahme von Gefahr im Verzug ist allein die Lage in der Anordnungssituation maßgeblich. Dabei ist zu berücksichtigen, wie groß der Beurteilungs- und Handlungsdruck war oder ob ausreichend Zeit für Rücksprachen mit Kollegen und Vorgesetzten sowie zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft bestand. Ferner sind die si-tuationsbedingten Grenzen von Erkenntnismöglichkeiten in Rechnung zu stellen, deren mögliche Unvollständigkeit und vorläufige Natur. Dass der späte Vollzug der Durchsuchung vorliegend durch Umstände bedingt gewesen wäre, welche für die Staatsanwältin schon zum Zeitpunkt der Anordnung erkennbar waren und daher in ihre prognostische Einschätzung des zeitlichen Spielraums für weitere Kontaktversuche zum Gericht hätten eingehen müssen, ist nicht erkennbar.
[21] Auch der Vollzug der Durchsuchung war durch die Anordnung der Staatsanwältin noch hinreichend gedeckt. [22] Allerdings steht es bei einer kraft Eilkompetenz ergangenen Durchsuchungsanordnung nicht im Belieben der Ermittlungsbehörden, wann sie von ihr Gebrauch machen … Schon allgemein gilt, dass jede Durchsuchungsanordnung durch Zeitablauf ihre rechtfertigende Kraft verliert, weil sich ihre Entscheidungsgrund-lage im Lauf der Zeit vom Entscheidungsinhalt immer weiter entfernt. Sie darf nur vollstreckt werden, solange sich die für den Erlass maßgeblichen Umstände nicht wesentlich geändert haben. Für eine Eilanordnung kommt hinzu, dass sie schon ihrem Wesen nach nur Eingriffe zu legitimieren vermag, die im unmittelbaren Fortgang ins Werk gesetzt werden. Nur für solche, keinen Aufschub duldende Maßnahmen besteht die Zuständigkeit der Ermittlungsbehörden, nur für solche darf sie ausgeübt werden und kann dann auch nur ein unverzügliches Handeln gestatten.
[23] Dem haben die Ermittlungsbehörden vorliegend jedoch hinreichend Rechnung getragen. Die Durchsuchung wurde unverzüglich, nämlich schon wenige Minuten nach der Anordnung, mit der Absicherung der Wohnung von außen ins Werk gesetzt. Die Bemühungen wurden sodann ohne Unterbrechung bis zur Öffnung der Wohnung fortgesetzt. Dem Einzelfall geschuldete Verzögerungen, etwa durch technische Schwierigkeiten, beenden die Legitimität des Vollzugs der Eilanordnung nicht.“
Im vorliegenden Fall könnte jedoch eine anderweitige Beurteilung gerechtfertigt sein, da nur wenige Minuten nach der Durchsuchungsanordnung der Richter telefonisch erreicht werden konnte.
„[24] … [Die] Staatsanwaltschaft ist nach einer rechtmäßigen Eilanordnung nicht gehalten, nachträglich eine richterliche Genehmigung einzuholen … Ergibt sich eine Möglichkeit hierzu ausnahmsweise noch vor Beginn der … Durchsuchung, so gilt nichts anderes. Ansonsten müsste der anordnende Beamte fortwährend einerseits Verbindung mit den Vollzugskräften halten und andererseits Kontaktversuche zum Gericht unternehmen, nur um Letzteres um Entscheidung ersuchen zu können, sofern dessen Erreichbarkeit schneller eintritt als der Vollzug der Maßnahme beginnt.“
2.
Fraglich ist jedoch, ob die Voraussetzungen für die Annahme von Gefahr im Verzug tatsächlich vorlagen, § 105 Abs. 1 StPO.
„[27] Dass … schon bei Abwarten einer richterlichen Entscheidung ein Beweismittelverlust gedroht hätte, ist durch die Dokumentation der vorliegenden Anordnung nicht belegt. Diese enthält allein den Hinweis des Einsatzleiters auf die – offensichtlich abstrakte – Möglichkeit der Anwesenheit weiterer Beteiligter in der Wohnung. Konkrete Anhaltspunkte dafür werden nicht benannt. Ebenso wenig finden sich dort Aussagen zu der Frage, ob die Angeklagten bei ihrer Festnahme noch Gelegenheit hatten, andere Beteiligte zu warnen, sowie generell zur Einschätzung der Gefahr, dass etwa in der Wohnung sich aufhaltende Personen von der außer Sichtweite vorgenommenen Festnahme unmittelbar erfahren und deshalb Anlass zur Vernichtung von Beweismitteln sehen könnten. [28] Der im Vermerk noch sehr abstrakt beschriebenen Gefahr eines Beweismittelverlusts stand zum Zeitpunkt der Anordnung zudem eine hohe Wahrscheinlichkeit gegenüber, zeitnah eine richterliche Entscheidung herbeiführen zu können.“
3.
Es bleibt daher zu prüfen, ob ein solcher Verstoß gegen den Richtervorbehalt aus § 105 Abs. 1 StPO auch ein Verwertungsverbot für die im Rahmen der Durchsuchung gewonnenen Beweismittel zur Folge hat.
In seiner Begründung führt der Senat weiter aus, dass auch die verantwortliche Staatsanwältin bei ihrer Entscheidung davon ausgehen durfte, dass eine richterliche Anordnung ergangen worden wäre, da bereits zuvor in dieser Sache mehrere Durchsuchungsbeschlüsse vom Ermittlungsrichter erlassen worden waren. Bestätigt werde dies auch durch die im Anschluss ergangene Durchsuchungsanordnung für den Pkw der Angeklagten (sog. hypothetisch rechtmäßiger Ermittlungsverlauf).
„[30] Die Unzulässigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Beweiserhebung führt nicht ohne Weiteres zu einem Beweisverwertungsverbot; dies gilt auch für Fälle einer fehlerhaften Durchsuchung. Ein Beweisverwertungsverbot ist von Verfassungs wegen aber zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten. Das kommt in Betracht, wenn der Richtervorbehalt bewusst missachtet oder seine Voraussetzungen in gleichgewichtig grober Weise verkannt wurden.
[31] Eine derart massive Rechtsverletzung steht vorliegend jedoch nicht im Raum. Hiergegen sprechen im Rahmen der gebotenen Abwägung neben dem erheblichen Gewicht der in Rede stehenden Straftaten bereits die immerhin vorhandene, wenn auch noch eher abstrakte Gefahr eines Beweisverlustes, der in einer dynamischen Zugriffslage unternommene zweimalige Versuch der vorherigen Kontaktaufnahme zum Gericht sowie der Umstand, dass die betroffene Wohnung ausschließlich als ,Bunker‘ für die Lagerung von Betäubungsmitteln diente und schon bei Anordnung der Durchsuchung kein Anhaltspunkt für eine Nutzung zu Wohnzwecken bestand.“
Ergebnis
Ein Beweisverwertungsverbot und somit eine Verletzung des § 261 StPO liegen nicht vor. Die Revisionen sind als unbegründet zu verwerfen, § 349 Abs. 2 StPO.
Diese Rechtsprechung wurde für dich von StAin Dr. Christina Lang aufbereitet.
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