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examensrelevant

HLB Schumacher Hallermann präsentiert examensrelevante Fälle: Neues zu den sog. Retterfällen (Strafrecht)

Aufbereitete Fälle bekannt aus Assessor Juris

In Kooperation mit der Kanzlei HLB Schumacher Hallermann präsentieren wir dir die aus unserem Leitfaden Assessor Juris bekannten examensrelevanten Fällen. Diese werden unter der Supervision von Rechtsanwalt Dr. Lennart Brüggemann sowie mit Unterstützung seines Teams aus qualifizierten wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen und Referendar:innen für dich und deine Fallbearbeitung ausformuliert bzw. bearbeitet.

Der Verfasser dieses Beitrags ist Christian Lederer, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei HLB Schumacher Hallermann.

Es geht um einen Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 05.05.2021 – 4 StR 19/20.

Hinweis vom HLB-Team:

Das Strafrecht nimmt im Studium der Rechtswissenschaften und in den späteren Examen eine ganz besondere Stellung ein: Kaum ein Fach polarisiert mehr. Verliert sich manch einer in den spannenden und plastischen Lebenssachverhalten, verzweifelt manch anderer an den schier endlosen Details eines im Grunde unstreitigen Meinungsstreits. Doch in den beiden Staatsexamen gilt es nun einmal eine bzw. zwei Klausuren zu lösen – und das unter Zeitnot. Keine Frage, da lohnt sich ein vertiefender Blick auf das Geschehen in der Rechtsprechung. Genauer gesagt auf die Entscheidungen der sechs Strafsenate des Bundesgerichtshofs (BGH).

In diesem Fall geht es nun um die Rechtsprechung des BGH zu den sog. Retterfällen (Feuerwehr, Polizei etc.) und um die spannende Frage der Erfolgszurechnung bei bewusster Selbstgefährdung von Rettungspersonen im Rahmen der §§ 222, 229 StGB (Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20).

Die Hintergründe zur Entscheidung

Im Herbst 2016 erfolgten auf dem Werksgelände Ludwigshafen der BASF SE Routinereparaturarbeiten an einer Rohrleitung. Letztere dienen dem Transport von Fluiden (Gase, Flüssigkeiten) oder rohrtauglichen Feststoffen sowie der Übertragung von Energie. Vier Tage lang waren fachkundige Mitarbeiter eines auf Rohrleitungsbau spezialisierten Subunternehmens am 17. Oktober 2016 bereits in dem rund 20 Meter breiten Rohrgraben mit Arbeiten an den Rohrleitungen beschäftigt. Die Arbeiter sollten im Auftrag der BASF bei einer „Propylen flüssig 95%“-Leitung ein Element zum Spannungsausgleich („Dehnungsbogen“) ausbauen und ersetzen.

Menschliches Versagen führte am Unfalltag um 11:26 Uhr zu einem katastrophalen Verlauf, der in einem Inferno gipfelte. Der Angeklagte schnitt mit einem Trennschleifer eine falsche, nicht entleerte Rohrleitungstrasse 20 Zentimeter rechts neben dem zu sanierenden Rohr an. Der rund 15 Zentimeter lange Schnitt in die acht Millimeter dicke Leitung war nach den späteren landgerichtlichen Feststellungen ein so exakt getätigter Schnitt, dass ein Versehen ausgeschlossen werden konnte. In dem Rohr floss ein brennbares Butene-Gemisch, das wenig später (vermutlich durch Funken) entzündet wurde.

Vergebens kämpften die Arbeiter mit Handlöschern gegen die Flammen. Als die nach drei Minuten dazu geeilten Feuerwehrmänner der Werksfeuerwehr gerade einen Wasserwerfer aufbauten, um die anderen Rohre zu kühlen, kam es zur Explosion. Fünf Menschen, darunter vier Feuerwehrmänner der Werkfeuerwehr und ein Matrose eines Tankschiffs im Betriebshafen, starben in der Folge der Explosion. Es gab 44 Verletzte. Insgesamt entstand ein Sachschaden in Höhe von rund 100 Millionen Euro.

Die Entscheidung

Das Landgericht Frankenthal verurteilte den Angeklagten („A“) im Jahr 2019 wegen tateinheitlicher fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr (Urt. v. 27.08.2019 – 3 KLs 5122). Dem Gericht zufolge hatte A Schweißarbeiten an einer stillgelegten Rohrleitung vorzunehmen und setzte seinen Trennschleifer versehentlich an einer benachbarten gasführenden Leitung an. Infolgedessen kam es zu einer Explosion mit Toten (u.a. eingesetzte Feuerwehrmänner der Werkfeuerwehr) und Verletzten. Gegen das Urteil legte A durch seinen Verteidiger Revision ein.

Der BGH hat die Revision des A mit Beschluss v. 05.05.2021 – Az. 4 StR 19/20 – verworfen und das Delikt der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) lehrreich geprüft.

Rufen wir uns den Aufbau eines fahrlässigen Erfolgsdelikts einmal in Erinnerung (genaueres im dogmatischen Teil):

1. Tatbestandsmäßigkeit

„Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und wenn gerade die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg herbeigeführt hat“ (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 11).

a. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung

Dem BGH nach habe A objektiv seine Sorgfaltspflicht verletzt, indem er versehentlich den

Trennschleifer an der gasführenden Leitung ansetzte, obgleich es ihm möglich und er dazu verpflichtet war, das zu bearbeitende Rohr insbesondere anhand der Markierungen zu identifizieren. Der Schnitt in die Gasleitung für den Eintritt des Todeserfolges und der Verletzungen der Geschädigten sei kausal (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 14 ff.).

b. Objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges

Die Folgen des Handelns waren nach allgemeiner Lebenserfahrung auch (objektiv) vorhersehbar. Maßgeblich sind dabei die Kenntnisse des betreffenden Verkehrskreises (vgl. Kindhäuser/Hilgendorf, StGB, 9. Aufl. 2022, Rn. 52). Sowohl das Landgericht Frankenthal als auch der BGH haben die objektive Vorhersehbarkeit nicht näher angesprochen, sondern schon an dieser Stelle die subjektive Vorhersehbarkeit des A geprüft und bejaht (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 19; LG Frankenthal, Urt. v. 27.08.2019 – 3 KLs 5122 Js 36045/16, Rn. 180 ff., BeckRS 2019, 34451). Nach dem zweistufigen Fahrlässigkeitsaufbau wäre diese Prüfung in der Schuld zu verorten (vgl. Kindhäuser/Hilgendorf, StGB, 9. Aufl. 2022, Rn. 78). Unzweifelhaft hätte ein gewissenhafter und einsichtiger Angehöriger eines auf den Rohrleitungsbau spezialisierten Unternehmens allerdings erkannt, dass eine Verletzung der Sorgfalt bei Rohrleitungsarbeiten in einem Chemiebetrieb zu einer Explosion mit tödlichen Folgen führen kann.

c. Objektive Zurechenbarkeit des Erfolges

Für die Zurechenbarkeit des Erfolges bedarf es neben der Vorhersehbarkeit des Erfolges eines Schutzzweck- & Pflichtwidrigkeitszusammenhangs.

„Maßgebliches Kriterium […] ist neben der objektiven Vorhersehbarkeit des Erfolgs das Vorliegen des Schutzzweck- und des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs. Eine Zurechnung des Erfolgs ist nur möglich, wenn sich gerade die durch die mangelnde Sorgfalt des Täters gesetzte Gefahr im eingetretenen Erfolg realisiert hat und der Erfolg in den Schutzbereich der Norm fällt. Ferner werden Erfolge nur dann zugerechnet, wenn sie im Falle eines pflichtgemäßen Verhaltens des Täters nicht eingetreten wären“ (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 21).

Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang ist immer dann zu bejahen, wenn der Erfolg für den Täter vermeidbar war. Dies richtet sich wiederum insb. nach dem Schutzzweck der Norm.

aa. Schutzzweckzusammenhang der verletzten Norm / Verkehrssitte
„Der Schutzzweck der den A treffenden Pflichten umfasste den Erfolg, denn die bei den Arbeiten an Rohrleitungen zu beachtende Aufmerksamkeit diente gerade dazu, Leib und Leben von Personen auf dem Werksgelände zu schützen“ (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 22).
bb. Pflichtwidrigkeitszusammenhang
„Bei pflichtgemäßem Handeln wären der Unfall und damit die Folgen mit Sicherheit verhindert worden“ (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 22).
cc. Bewusste Selbstgefährdung / Pflichtverletzung Dritter

Problematisch und damit eingehender zu prüfen war die Frage, ob die Zurechnung der Tötungs- und Verletzungserfolge ggf. nach den Grundsätzen der sog. bewussten Selbstgefährdung entfällt (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 23 ff.). Hier lag der Prüfungsschwerpunkt des IV. Strafsenats. Muss der Verursacher einer Gefahrenquelle für den bei der Gefahrbekämpfung eingetretenen Tod oder für dabei erlittene Körperverletzungen von Berufsrettern strafrechtlich einstehen?

Hierzu hält der BGH fest: Die Zurechnung entfällt nicht aufgrund einer bewussten Selbstgefährdung.

„Nach den Grundsätzen der bewussten Selbstgefährdung ist […] ein Verletzungserfolg, insbesondere auch der Tod eines Menschen, einem Dritten, der dafür eine Ursache gesetzt hat, möglicherweise dann nicht zuzurechnen, wenn der Erfolg die Folge einer bewussten, eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung ist und sich die Mitwirkung des Dritten in einer bloßen Veranlassung oder Förderung des Selbstgefährdungsaktes erschöpft hat“ (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 24).

Jedoch ist dieser Grundsatz nach der Rspr. des BGH in solchen Fällen einzuschränken, in denen sich das Opfer durch eine vom Täter geschaffene Gefahrenlage verpflichtet fühlt, rettend in das Geschehen einzugreifen und sich dabei selbst schädigt.

„Dies gilt, wenn der Täter durch seine deliktische Handlung die naheliegende Möglichkeit einer bewussten Selbstgefährdung dadurch schafft, dass er ohne Mitwirkung und ohne Einverständnis des Opfers eine erhebliche Gefahr für ein Rechtsgut des Opfers oder ihm nahestehender Personen begründet und damit für dieses ein einsichtiges Motiv für gefährliche Rettungsmaßnahmen schafft.“ (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 25).

„FREIWILLIGER BERUFSRETTER ≈ BERUFSMÄßIGER RETTER“

„Dieser für die Konstellation eines freiwillig eingreifenden Dritten entwickelten Rechtsgrundsatz ist auf die Zurechnung der Schäden solcher Personen übertragbar, die rechtlich aufgrund von Berufspflichten zum Eingreifen in Gefahrenlagen verpflichtet sind und sich in Erfüllung dieser Rechtspflicht selbst gefährden. Deren Tod oder Verletzung ist grundsätzlich demjenigen zuzurechnen, der die Gefahrenlage geschaffen hat.“ (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 26).

Anstelle des einsichtigen Motivs des freiwilligen Retters trete beim berufsmäßigen Retter seine Rechtspflicht zum Einschreiten, welche Eigenverantwortlichkeit der Entscheidung des Retters weiter einschränke. Hinzu käme, dass solche Retter aufgrund ihrer Fachkompetenz und des damit verbundenen geringeren Verletzungsrisikos höhere Risiken infolge gefährlicher Rettungsmaßnahmen eingehen müssten. Da dem Täter auch eine erfolgreiche Rettungshandlung zugutekäme, ist es nur konsequent, ihm auch Gefahren bei einem missglückten Rettungsversuch zuzurechnen und den pflichtigen Retter in den Schutzbereich der Strafvorschrift mit einzubeziehen. Zudem könnte keine eigenverantwortliche Selbstgefährdung angenommen werden, wenn den betroffenen Rettern die volle Kenntnis des Risikos fehle. Jene müssten sich weder das Wissen noch die Sorgfaltspflichtverletzungen anderer am Einsatz oder an dessen Vorbereitung beteiligter Personen zurechnen lassen (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 27).

2. Schuld

Keine Zweifel hatte der Senat daran, dass der tatbestandmäßige Erfolgseintritt auch für den A persönlich vorhersehbar war (subjektive Vorhersehbarkeit). Prägnant stellte er fest, dass „der langjährig auf dem Werksgelände tätige und mit dem Gefahrenpotenzial der Anlagen vertraute Angekl. vorhersehen [konnte], dass seine Sorgfaltspflichtverletzung zu einer Explosion führen würde und dadurch Menschen im Gefahrenbereich getötet und verletzt würden (vgl. BGH, Beschl. v. 05.05.2021 – 4 StR 19/20, NJW 2021, 3340 Rn. 19).

Ausführliche Feststellungen finden sich im Urteil des LG Frankenthal (vgl. LG Frankenthal, Urt. v. 27.08.2019 – 3 KLs 5122 Js 36045/16, Rn. 184, BeckRS 2019, 34451).

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Wer sind HLB Schumacher Hallermann?

HLB Schumacher Hallermann ist eine mittelständische Rechtsanwaltskanzlei, die von der steuerzentrierten Rechtsberatung kommt und sich nunmehr intensiv auch auf klassische Rechtsgebiete ausrichtet hat. Besonderes Merkmal: Konsequente Entwicklung spezieller und innovativer Beratungsfelder (Glücksspielbesteuerung, Glücksspielregulierung, eSport). Aus dem Herzen von Münster heraus beraten wir Mandanten persönlich und lösungsorientiert. Dabei ist uns eine offene und ehrliche Kommunikation gegenüber dem Mandanten wichtig.

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Beitragsautor:

Dr. Lennart Brüggemann

Dr. Lennart Brüggemann

HLB Schumacher Hallermann ist eine mittelständische Rechtsanwaltskanzlei, die sich intensiv auch auf klassische Rechtsgebiete ausrichtet hat. Rechtsanwalt Dr. Lennart Brüggemann, Partner bei HLB, betreut unter anderem das Projekt „Entscheidung des Monats“, bei dem regelmäßig unter seiner Supervision wissenschaftliche Mitarbeiter:innen oder Referendar:innen eine aktuelle Entscheidung analysieren und aufbereiten.

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