
Die Entscheidung des Quartals von HLB Schumacher Hallermann
In Kooperation mit der Kanzlei HLB Schumacher Hallermann präsentieren wir dir zusätzlich zu den aus unserem Leitfaden Assessor Juris bekannten examensrelevanten Fällen – die Entscheidung des Quartals. Diese wird unter der Supervision von Rechtsanwalt Dr. Lennart Brüggemann sowie mit Unterstützung seines Teams aus qualifizierten wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen und Referendar:innen für dich und deine Fallbearbeitung ausformuliert bzw. bearbeitet.
Der Verfasser dieses Beitrags ist Constantin Booms, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei HLB Schumacher Hallermann.
Es geht um einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11.04.2024 (1 BvR 2290/23) zu den Themen Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG | Meinungsäußerung | Tatsachenbehauptung | einstweilige Verfügung | materielle Subsidiarität | Ehre | Ehrenschutz.
Hinweis vom HLB-Team:
„DEUTSCHER JOURNALIST GEWINNT VERFAHREN VOR DEM BVERFGG GEGEN DIE REGIERUNG!!!!!!“, gerade reingekommen. Mit Beschluss vom 11.04.2024 (1 BvR 2290/23, BeckRS 2024, 7299) entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe zugunsten eines ehemaligen Chefredakteurs einer bekannten Tageszeitung.
Die brandaktuelle Entscheidung des BVerfG im Kontext der Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG) schreit nach einer Examensprüfung. Und diesem Ruf kommen wir selbstverständlich nach. In deutlich mehr als 280 Zeichen Kurznachricht (#X, #Twitter) stellt Euch das HLB-Team im einzigartigen HLB-Klausurformat examensrelevante Schwerpunkte der BVerfG-Entscheidung vor. In gewohnt leicht verdaulicher Manier bekommt der wissensdurstige Studi hier die teilweise nur schwer begreifliche Judikatur serviert. Im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde vor dem BVerfG ist zu erörtern, wie sich das Verhältnis zwischen der Meinungsfreiheit des Einzelnen gegenüber des Selbstanspruchs des Staates gestaltet. Dabei ist seinerseits auf Besonderheiten der filigranen und häufig diffizilen Abgrenzung zwischen Meinungen und Tatsachen einzugehen. Nützliche Aha-Effekte sind ebenso garantiert, wie ein verständigerer Umgang mit Eurem Sartorius nach der Lektüre.
Im dogmatischen Vertiefungsteil widmen wir uns sodann den Klausurklassikern im Bereich der Zulässigkeitsprüfung. Hier ist jener gesegnet, der sich gekonnt und zügig durch „das Schema“ hindurchlavieren kann. Eins ist klar: In der Zulässigkeit sammelt ihr zwar nicht so viele Punkte wie in der Begründetheit. Ihr könnt aber einige davon verlieren, solltet ihr Euch ungalant ausdrücken. In diesem Sinne gilt es sich zu fokussieren. „Reingezwitschert“ wird erst daheim!
Die Hintergründe der Entscheidung
Am 25.08.2023 veröffentlichte ein Nachrichtenmagazin einen Artikel mit der Überschrift: „DEUTSCHLAND ZAHLT WIEDER ENTWICKLUNGSHILFE FÜR AFGHANISTAN“, in dem es unter anderem hieß: „Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan vor zwei Jahren hat die Bundesregierung 371 Millionen Euro für Entwicklungshilfe im Land bereitgestellt.“ Etwa eine Stunde nach der Veröffentlichung setzte der Chefredakteur des Nachrichtenmagazins (im Folgenden: „R“) auf der Kommunikationsplattform „X“ einen zu diesem Artikel verlinkenden Tweet ab. Ihr Text lautete: „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!“ Am Ende seines Tweets fügte R den Internet-Link zu dem Artikel ein, dessen o. g. Überschrift unterhalb des Links angezeigt wurde. Wenige Tage später ließ die Bundesrepublik Deutschland („BRD“)– vertreten durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – R wegen seines „Gezwitschers“* abmahnen, da es sich hierbei um eine falsche Tatsachenbehauptung handele. Es sei kein Euro an die Taliban geflossen, sondern an Nichtregierungsorganisationen und die Vereinten Nationen.
Der im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes anhängig gemachte Unterlassungsantrag der BRD wurde durch Beschluss des Landgerichts Berlin zunächst zurückgewiesen (vgl. LG Berlin, Beschl. v. 04.10.2023 – 27 O 410/23, GRUR-RS 2023, 31815). Mit der daraufhin eingelegten sofortigen Beschwerde untersagte das Kammergericht Berlin hin R mit dem durch einstweilige Verfügung die monierte Äußerung „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 Millionen Euro (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!).“ (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 15.11.2023 – 10 W 184/23, ZUM 2024, 219). Juristische Personen des öffentlichen Rechts könnten zivilrechtlichen Ehrenschutz gegenüber Angriffen in Anspruch nehmen, durch die ihr Ruf in der Öffentlichkeit in unzulässiger Weise herabgesetzt werde. Ein solcher Ehrenschutz könne jedenfalls dann geltend gemacht werden, wenn die konkrete Äußerung geeignet sei, die juristische Person schwerwiegend in ihrer Funktion zu beeinträchtigen. Gegen die einstweilige Verfügung des KG Berlin wandte sich R mit seiner Verfassungsbeschwerde beim BVerfGG.
Hat die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers R Aussicht auf Erfolg?
Die Entscheidung
Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, soweit sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit die Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen.
I. Rechtsweg zum und Zuständigkeit des BVerfG
Für die (Individual-)Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) das BVerfG zuständig.
II. Beschwerdefähigkeit
Gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. § 90 Abs. 1 BVerfGG kann „jedermann“ eine Verfassungsbeschwerde erheben, also jeder Grundrechtsträger. Als natürliche Person kann R Träger von Grundrechten sein und ist daher beschwerdeberechtigt.
III. Prozessfähigkeit
R ist als natürliche Person prozessfähig, kann also selbst oder hier auch durch seinen schriftlich für das konkrete Verfahren mandatierten Anwalt gem. §§ 22 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BVerfGG Prozesshandlungen vornehmen.
IV. Tauglicher Beschwerdegegenstand
Tauglicher Beschwerdegegenstand ist jeder Akt der öffentlichen Gewalt, § 90 Abs. 1 BVerfGG. Hier wird R durch den Beschluss des KG Berlin angegriffen, mit dem seine Äußerung untersagt wurde. Hierbei handelt es sich um einen Akt der Judikative, somit liegt ein tauglicher Beschwerdegegenstand vor.
V. Beschwerdebefugnis
R müsste beschwerdebefugt sein. Beschwerdebefugt ist gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG, wer schlüssig behauptet, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte selbst, unmittelbar und gegenwärtig verletzt zu sein; dabei ist ausreichend, dass die Möglichkeit einer Verletzung besteht (sog. Möglichkeitslehre).
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung
Die Möglichkeit eines Grundrechtsverstoßes zulasten des R scheint vorliegend zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen: Durch die Untersagung der monierten Äußerung wird namentlich der Schutzbereich der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 GG verkürzt, sodass eine Verletzung dieses Grundrechts wenigstens möglich erscheint.
2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen
R ist selbst betroffen. Das Urteil des KG wirkt zudem ohne weiteren Umsetzungsakt und führt damit zu einer unmittelbaren Betroffenheit. Daneben ist R durch das Urteil schon und noch, mithin gegenwärtig betroffen.
3. Zwischenergebnis
R ist somit beschwerdebefugt.
VI. Rechtswegerschöpfung
Die Verfassungsbeschwerde ist gem. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer den Rechtsweg erschöpft hat, d.h. er muss grundsätzlich alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen. Regelmäßig gebietet dies auch die Erschöpfung des Rechtswegs in der Hauptsache, wenn im einstweiligen Rechtsschutz Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich – wie hier – ebenso auf die Hauptsache beziehen (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 25).
Insbesondere war R hier nicht gehalten, gem. § 936 ZPO i.V.m. § 924 ZPO Widerspruch einzulegen. Selbst wenn dies für die mündliche Verhandlung über den Widerspruch nach § 936 ZPO i.V.m. § 924 Abs. 2 S. 2 ZPO, wie die Verfügungsklägerin (= BRD) vorbringt, zur erneuten Zuständigkeit des Landgerichts führte, wäre für den Fall einer abändernden Entscheidung des Landgerichts nicht ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer in einer für die Verfügungsklägerin dann gem. § 936 ZPO i.V.m. § 925 Abs. 1, § 511 Abs. 1 ZPO eröffneten Berufungsinstanz mit einem für ihn günstigeren Ausgang vor dem Kammergericht hätte rechnen können. Von einem von vornherein aussichtslosen Rechtsbehelf muss aber nicht Gebrauch gemacht werden (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 25). Der Rechtsweg ist somit erschöpft.
VII. Grundsatz der Subsidiarität (BVerfG)
Darüber hinaus muss die Verfassungsbeschwerde subsidiär sein. Sie ist demnach nur zulässig, wenn der Grundrechtsschutz auf keinen Fall durch die Fachgerichte hätte gewährleistet werden können. Im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde genügt es nicht, wenn der Beschwerdeführer den Rechtsweg lediglich formell erschöpft hat. Darüber hinaus muss er alle nach Sachlage zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Verfassungsverletzung in dem sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (sog. materielle Subsidiarität). Der Beschwerdeführer muss daher insbesondere auch solche Rechtsbehelfe ergreifen, die außerhalb des Instanzenzugs liegen. Zwar gebietet der Grundsatz der materiellen Subsidiarität regelmäßig die Erschöpfung des Rechtswegs auch in der Hauptsache, wenn im einstweiligen Rechtsschutz Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich – wie hier – ebenso auf die Hauptsache beziehen. Auf den fachgerichtlichen Rechtsweg in der Hauptsache dürfen Beschwerdeführer aber dann nicht verwiesen werden, wenn die Durchführung des Hauptsacheverfahrens unzumutbar ist. Das ist hier der Fall. Denn das dem R in der Hauptsache verbleibende Aufhebungsverfahren (durch Antrag auf Fristsetzung zur Klageerhebung nach § 926 Abs. 1 ZPO bzw., bei obsiegender negativer Feststellungsklage, nach § 927 ZPO, jeweils i.V.m. § 936 ZPO) erscheint angesichts der nicht nur summarischen Prüfung des Kammergerichts aussichtslos. Für die Entscheidung bedarf es zudem auch keiner weiteren Tatsachenfeststellungen, womit die tatsächliche bzw. fachrechtliche Lage zur verfassungsrechtlichen Beurteilung ausreichend geklärt ist und auch im Übrigen die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 24).
VIII. Form und Frist
Die Verfassungsbeschwerde wurde fristgerecht binnen eines Monats erhoben, § 93 Abs. 1, 2 BVerfGG. Die Erhebung erfolgte schriftlich und mit Begründung gem. § 92 BVerfGG, § 23 Abs. 1 BVerfGG.
IX. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis
Das Rechtsschutzbedürfnis ist bei Vorliegen der übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen grundsätzlich indiziert und wurde hier – für R existierte kein schnellerer, einfacherer oder günstigerer Weg, Rechtsschutz erlangen – nicht widerlegt.
X. Ergebnis zur Zulässigkeit
Die Verfassungsbeschwerde ist demnach zulässig.
B. Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde des R ist gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG begründet, soweit er in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist.
I. Prüfungsmaßstab
Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz. Die Überprüfung von Beschwerdegegenständen, die sich gegen eine gerichtliche Entscheidung richten und somit auf dem „einfachen“ Recht basieren, sind beschränkt auf die Prüfung, ob die angegriffene fachgerichtliche Entscheidung gegen ein Grundrecht verstößt. Das BVerfG kontrolliert den beanstandeten Hoheitsakt einzig in Hinblick auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts in Form eines Anwendungs- oder Auslegungsdefizits (Grundrechtsschutz übersehen oder aber wesentlich verkannt) oder der Verletzung von Justizgrundrechten (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 33).
II. Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 Alt. 1 GG
Die angegriffene Entscheidung könnte den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Alt. 1 GG verletzen.
1. Schutzbereich
a. Persönlicher Schutzbereich
R ist als natürliche Person vom persönlichen Schutzbereich des Jedermann-Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Alt. 1 GG umfasst.
b. Sachlicher Schutzbereich
In sachlicher Hinsicht schützt Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten.
HLB informiert:
Definition: Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG
Meinungen sind Werturteile, also Äußerungen, die durch Elemente der Stellungnahme, des Meinens und Dafürhaltens geprägt sind und deshalb dem Beweis nicht zugänglich sind. Meinungen sind insbesondere von Tatsachenbehauptungen abzugrenzen.
Tatsachen sind dem Beweis zugängliche Zustände/Ereignisse der Gegenwart/Vergangenheit.
Jedoch können auch Tatsachenbehauptungen unter den Schutz des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG fallen, wenn die Tatsachenmitteilung eine notwendige Voraussetzung für die Meinungsbildung ist. Dies ist der Fall, wenn die Tatsachenmitteilung an sich eine bestimmte Meinung ausdrückt oder die Tatsachenbehauptung „meinungsbezogen“ ist . Nicht vom Schutzbereich umfasst sind demnach nur reine Tatsachenbehauptungen und bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen.
HLB informiert:
Hinweis: Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen
Zur Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen ist im Rahmen einer Auslegung der Schwerpunkt der Äußerung in ihrem Gesamtkontext zu ermitteln. Eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile einer Äußerung ist nur zulässig, wenn dadurch ihr Sinn nicht verfälscht wird. Wo dies nicht möglich ist, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden, weil andernfalls eine wesentliche Verkürzung des Grundrechtsschutzes droht (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn 32).
Vorliegend beinhaltete der „Tweet“ des R über den von diesem formulierten Mitteilungstext hinaus die Überschrift des verlinkten Artikels sowie ein Foto, das die Bundesministerin des Auswärtigen und die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Gespräch zeigt (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn 35). Die durch R geübte Kritik an der Politik der BRD als Äußerung, die durch Elemente der Stellungnahme („Wir“), des Dafürhaltens („!!!!!!“) und Meinens geprägt ist, ist auch dann als Meinungsäußerung geschützt, wenn sich in ihr Tatsachen (370 Mio. EUR Entwicklungshilfen) und Meinungen („an die TALIBAN“) vermengen (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn 38). Ein Schwerpunkt der Äußerung im Gesamtkontext ist somit nicht eindeutig zu ermitteln. Im Zweifel ist in Anbetracht des demokratiekonstituierenden Charakters dieses Grundrechts jedoch davon auszugehen, dass die Äußerung unter Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG fällt. Der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ist mithin eröffnet.
2. Eingriff
Die Untersagung der monierten Äußerung durch die einstweilige Verfügung des KG Berlin verkürzt die Grundrechtsposition des R.
HLB informiert:
Definition: Moderner Eingriffsbegriff
Nach dem sog. modernen Eingriffsbegriff wird als Eingriff in ein Grundrecht jedes staatliche Handeln qualifiziert, welches dem Grundrechtsträger ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Der Eingriff ist gerechtfertigt, sofern die Meinungsäußerungsfreiheit nur unter Vorbehalt gewährleistet ist, eine Einschränkungsmöglichkeit besteht und sich der Eingriff als verfassungsmäßige Konkretisierung dieser Einschränkungsmöglichkeit darstellt.
a. Einschränkungsmöglichkeit
Die Meinungsäußerungsfreiheit findet ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre gem. Art. 5 Abs. 2 GG.
HLB informiert:
Definition: Allgemeine Gesetze (Gemischte Theorie des BVerfG)
Allgemeine Gesetze sind solche, die nicht eine Meinung als solche verbieten, sondern die viel- mehr dem Schutze eines höherrangigen Rechtsguts dienen, das bei einer Güterabwägung gegenüber der Meinungsfreiheit den Vorrang hat (Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 198 ff.).
b. Verfassungsmäßige Konkretisierung
§ 1004 Abs. 1 S. 2, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 185 ff. StGB sind bundesrechtliche Parlamentsgesetze und stellen daher eine taugliche Konkretisierung der Einschränkungsmöglichkeit dar. Die allgemeinen Gesetze sind formell und materiell verfassungsgemäß.
c. Verfassungskonforme Anwendung der Schranken
Zu untersuchen ist, ob die im Beschluss des KG Berlin vorgenommene Auslegung, dass es sich bei der Äußerung des R um eine unwahre Tatsachenbehauptung handelt, die geeignet ist, das Vertrauen der Bevölkerung in die Tätigkeit der Antragstellerin zu gefährden, die verfassungsrechtlichen Schranken des Ehrschutzes wahrt.
Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist eine Abwägungsentscheidung zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit und dem Schutz der persönlichen Ehre vorzunehmen. Die beiden Grundrechte sind im Rahmen einer praktischen Konkordanz* in Ausgleich zu bringen. Insbesondere ist hierbei die Stellung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG als demokratiekonstituierendes Grundrecht zu beachten.
HLB informiert:
Ein Eingriff kann ausnahmsweise auch ohne Abwägungsentscheidung gerechtfertigt sein, wenn es sich bei der Meinungsäußerung um eine sog. Formalbeleidigung, reine Schmähkritik oder einen Eingriff in die Menschenwürde handelt. Aufgrund der herausragenden Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG ist der Begriff der Schmähkritik jedoch sehr eng auszulegen. In der Klausur gilt es also, nicht zu voreilig eine der Ausnahmen anzunehmen.
Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat, sodass der Staat nicht gleichzeitig „Verpflichteter“ und „Berechtigter“ sein kann, vgl. Art. 1 Abs. 3 GG (sog. Konfusionsargument).
Dem Staat kommt demnach kein grundrechtlich fundierter Ehrenschutz zu. Während in Fällen, in denen sich die Meinungsfreiheit des Äußernden und das allgemeine Persönlichkeitsrecht des von der Äußerung Betroffenen gegenüberstehen, die Feststellung einer rechtswidrigen Verletzung regelmäßig eine ordnungsgemäße Abwägung zwischen der Schwere der Persönlichkeitsbeeinträchtigung durch die Äußerung einerseits und der Einbuße an Meinungsfreiheit durch die Untersagung der Äußerung andererseits voraussetzt, hat der Staat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Die Zulässigkeit von Kritik am System ist Teil des Grundrechtestaats (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 28).
Zwar dürfen grundsätzlich – wie sich ausweislich § 194 Abs. 3 S. 2 StGB etwa in der Schutznorm des § 185 StGB niederschlägt – auch staatliche Einrichtungen vor verbalen Angriffen geschützt werden, da sie ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz ihre Funktion nicht zu erfüllen vermögen. Ihr Schutz darf indessen nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik – unter Umständen auch in scharfer Form – abzuschirmen, die von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll, und der zudem das Recht des Staates gegenübersteht, fehlerhafte Sachdarstellungen oder diskriminierende Werturteile klar und unmissverständlich zurückzuweisen. Tritt der Zweck, die öffentliche Anerkennung zu gewährleisten, die erforderlich ist, damit staatliche Einrichtungen ihre Funktion erfüllen können, in einen Konflikt mit der Meinungsfreiheit, erlangt der Einfluss von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG daher gesteigerte Bedeutung. Das Gewicht des für die freiheitlich-demokratische Ordnung schlechthin konstituierenden Grundrechts der Meinungsfreiheit ist dann besonders hoch zu veranschlagen, da es gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 29).
Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen ist, dass ihr Sinn zutreffend erfasst worden ist. Fachgerichtliche Entscheidungen, die den Sinn der angegriffenen Äußerung erkennbar verfehlen und darauf ihre rechtliche Würdigung stützen, verstoßen gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Da unter diesen Umständen schon auf der Deutungsebene Vorentscheidungen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Äußerungen fallen, ergeben sich aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG nicht nur Anforderungen an die Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Gesetze, sondern auch an die Deutung umstrittener Äußerungen (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 30).
Vorliegend war es aus der Sicht eines Durchschnittslesers bereits angesichts der wiedergegebenen Vorschau des verlinkten Artikels ein hervorstechendes Anliegen des R, zwischen seinem „Tweet“ und einem hiermit verlinkten Nachrichtenartikel auf „nius.de“ einen inhaltlichen Bezug herzustellen. Wird für die Kontextbestimmung einer Äußerung eine hierin für den Rezipienten erkennbar in Bezug genommene, inhaltlich sogar unmittelbar wahrnehmbare Schlagzeile eines Nachrichtenartikels ausgeblendet, verfehlt bereits dies die sich aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ergebenen Anforderungen an die Deutung umstrittener Äußerungen (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 35).
Indem das KG Berlin für seine Beurteilung die in dem „Tweet“ wiedergegebene Schlagzeile „DEUTSCHLAND ZAHLT WIEDER ENTWICKLUNGSHILFE FÜR AFGHANISTAN“ ausblendet, verharrt seine Sinndeutung auf einer isolierten Betrachtung des durch den R formulierten Kurznachrichtentextes. Auf dessen Grundlage gelangt es zu der Einschätzung, der an der Bundesregierung geübten Kritik eines „Irrenhauses“ könne ein nachvollziehbarer Sinn „nur dann“ entnommen werden, wenn eine Zahlung von Entwicklungshilfe an die derzeitigen Machthaber in Afghanistan behauptet werde, da der Durchschnittsleser eine Unterstützung regierungsferner Institutionen nicht als „irres Vorgehen“ ansehe. Die schon bei bloßer Betrachtung des Kurznachrichtentextes naheliegende Möglichkeit, der R habe die Gefahr eines mittelbaren Zugutekommens von Zahlungen an die Machthaber in Afghanistan thematisiert, schließt es mit dem zirkulär entgegengesetzten Standpunkt aus, für den Durchschnittsleser ergebe sich die Behauptung, die Regierung habe „Zahlungen an die Taliban geleistet“. Auch zieht es nicht in Erwägung, ob diese Annahme einer Tatsachenbehauptung angesichts der wiedergegebenen Schlagzeilenüberschrift als fernliegend auszuscheiden und aus der Sicht eines Durchschnittslesers allein die zugespitzte Meinungsäußerung anzunehmen sei, mit einer Zahlung von „Entwicklungshilfe für Afghanistan“ zahle Deutschland faktisch „Entwicklungshilfe an die Taliban“. Auf den im Instanzenzug zuvor auf dieser Linie liegenden, maßgeblich an die in der Kurznachricht wiedergegebene Schlagzeile anknüpfenden Standpunkt des Landgerichts geht das Kammergericht nicht ein (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 37).
Zugleich verliert es aus dem Blick, dass die durch den R geübte Kritik an der Bundesregierung als Äußerung, die durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens und Meinens geprägt ist, auch dann als Meinungsäußerung geschützt wird, wenn sich in ihr Tatsachen und Meinungen, und dass im Hinblick auf die durch das KG Berli nicht in Erwägung gezogene Kritik des Beschwerdeführers an einer mittelbaren Finanzierung der „Taliban“ weder die Verfügungsklägerin Zahlungen von Entwicklungshilfe „für Afghanistan“ in Abrede stellt, noch die angegriffene Entscheidung in Zweifel zieht, dass die Gefahr ihres mittelbaren Zugutekommens an die Machthaber in Afghanistan besteht (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 38).
Hieran gemessen kann bereits aufgrund der fehlerhaften Auslegung offenbleiben, ob die Meinungsfreiheit des R demgegenüber unter der Prämisse eines in seiner Meinungsäußerung enthaltenen unwahren Tatsachenkerns hinter dem Ziel zurückzutreten hätte, dass staatliche Einrichtungen ihre Funktion erfüllen können (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 39).
Somit verstößt die Entscheidung des KG gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, da sie den Sinn der angegriffenen Äußerung und deren Charakter einer Meinungsäußerung erkennbar verfehlt (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 34).
III. Ergebnis
Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers hat Erfolg.
Dogmatische Vertiefung
Die gesamte Entscheidung mitsamt der dogmatischen Vertiefung kannst du kostenlos bei uns herunterladen.
Assessor Juris jetzt kostenlos downloaden!
JurCase informiert:
In unserem kostenlosen Leitfaden Assessor Juris findest du viele weitere examensrelevante Fälle, die in unserer Kooperation mit HLB Schumacher Hallermann bearbeitet wurden. Diese Fälle bieten zusätzlich eine dogmatische Vertiefung für eine gelungene Examensvorbereitung.
HIER GEHT'S ZU ASSESSOR JURIS!Wer sind HLB Schumacher Hallermann?
HLB Schumacher Hallermann ist eine mittelständische Rechtsanwaltskanzlei, die von der steuerzentrierten Rechtsberatung kommt und sich nunmehr intensiv auch auf klassische Rechtsgebiete ausrichtet hat. Besonderes Merkmal: Konsequente Entwicklung spezieller und innovativer Beratungsfelder (Glücksspielbesteuerung, Glücksspielregulierung, eSport). Aus dem Herzen von Münster heraus beraten wir Mandanten persönlich und lösungsorientiert. Dabei ist uns eine offene und ehrliche Kommunikation gegenüber dem Mandanten wichtig.
Erfahre hier mehr:
Oder bewirb dich direkt hier: