
LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25.01.2025, Az.: 3 SLa 156/24
Problem: Betriebsbedingte Kündigung wegen Wegfall eines Großauftrags
Einordnung: Arbeitsrecht
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Einleitung
Der Schutz des Arbeitnehmers gegen eine betriebsbedingte Kündigung reicht nicht besonders weit. Ein absoluter Bestandsschutz verträgt sich nicht mit dem Erfordernis eines wirtschaftlichen Einsatzes des Faktors Arbeit. Die Erhaltung der wirtschaftlichen Substanz soll ja im Übrigen auch dazu dienen, andere Arbeitnehmer im Betrieb vor einem Verlust ihres Arbeitsplatzes zu bewahren. Mit einem Konkurs ist letztendlich niemandem gedient.
Sachverhalt
Der Beklagte betreibt ein Unternehmen für die Durchführung von Taxi- und Mietwagenfahrten und beschäftigte bis April 2024 etwa 23 Arbeitnehmer:innen einschließlich der Klägerin. Bis zum 31.10.2023 führte der Beklagte für eine Verkehrsgesellschaft (VLP) nahezu den gesamten Rufbusverkehr im Landkreis als Exklusiv-Leistung durch. Der ursprünglich bis 2026 befristete Vertrag endete aufgrund außerordentlicher Kündigung der VLP zum 31.10.2023, was mit einem erheblichen Einbruch der Umsätze und der zu disponierenden Fahrten einherging. Kurz- und mittelfristig war keine Besserung der Auftragslage zu erwarten. Statt 6.000 Rufbusfahrten und 750 Taxi- sowie Krankenfahrten mussten ab dem 1.11.2023 täglich nur noch 20 bis 30 Fahrten disponiert werden.
Die Klägerin war seit 2021 bei dem Beklagten in Vollzeit als Disponentin beschäftigt.
Nach der Kündigung durch die VLP beschloss der Beklagte, den drei neben der Klägerin tätigen Disponentinnen jeweils die Fortführung des Arbeitsverhältnisses als Fahrerin anzubieten, was diese ab Dezember 2023 auch in Anspruch nahmen. Die Klägerin selbst verfügt allerdings über keine Fahrerlaubnis. Am 15.4.2024 erhielt die Klägerin eine betriebsbedingte Kündigung zum 31.5.2024.
Ist die zulässige Kündigungsschutzklage begründet?
Leitsatz
Ein dringendes betriebliches Erfordernis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses im Sinne von § 1 II KSchG besteht, wenn eine
unternehmerische Entscheidung auf der Grundlage außerbetrieblicher Umstände zu einer dauerhaften Reduzierung des Arbeitskräftebedarfes im Betrieb führen.
Lösung
Die zulässige Kündigungsschutzklage ist nicht begründet.
1. Unternehmerische Entscheidung führt zum Wegfall eines Arbeitsplatzes
[26] 1. Nach § 1 II 1 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe in der Person oder dem Verhalten oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmerin in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist.
[27] Dringende betriebliche Erfordernisse liegen vor, wenn die Durchführung oder die eingeleitete Durchführung einer unternehmerischen Entscheidung einer Beschäftigungsmöglichkeit die Grundlage entzieht. Beschränkt sich der Arbeitgeber darauf, sich an äußere Sachzwänge zu binden, muss er im Prozess im Einzelnen darlegen, dass der sog. außerbetriebliche Grund tatsächlich in dem von ihm behaupteten Umfang vorliegt und sich unmittelbar oder mittelbar auf den Arbeitsplatz der gekündigten Arbeitnehmerin auswirkt (…).
Bei der betriebsbedingten Kündigung müssen – wie bei allen anderen Kündigungsarten – die Tatsachen, die sie bedingen sollen, zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung gegeben sein. Im Fall einer sog. gebundenen Unternehmerentscheidung ist es genügend, aber auch erforderlich, wenn zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung eine vernünftige und betriebswirtschaftliche Betrachtung die Prognose rechtfertigt, dass bis zum Auslaufen der einzuhaltenden Kündigungsfrist das erwartete Ereignis eingetreten ist und die Arbeitnehmerin entbehrt werden kann (…). Gemessen an den genannten Grundsätzen, denen sich die Kammer anschließt, ist die streitbefangene Kündigung des Beklagten durch dringende betriebliche Erfordernisse i. S. d. § 1 II KSchG bedingt. Die durch den Beklagten auf der Grundlage des Wegfalls des Großauftrages getroffene unternehmerische Entscheidung hat zum Wegfall des Arbeitsplatzes der Klägerin geführt.
Erstens: Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Wirksamkeit der Kündigung ist stets der Zeitpunkt des Zugangs. Eine spätere Änderung der Sachlage kann allenfalls zu einem sog. Wiedereinstellungsanspruch führen. Zweitens: Kündigung ist niemals Strafe oder Sanktion. Es geht nur darum, ob dem Arbeitgeber für die Zukunft die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zugemutet werden kann (sog. Prognoseprinzip).
[28] a) Angesichts des unstreitigen Sachvortrages ist die unternehmerische Entscheidung des Beklagten, mit Wirkung ab dem 01.11.2023 keine Disponentinnen mehr zu beschäftigen, nicht offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich. Durch den Wegfall des Großauftrages hat sich die Anzahl der durchschnittlich monatlich zu disponierenden Fahrten von 6.750 auf 750 ab November 2023 und mithin im Mittelwert auf 25 zu disponierende Fahrten tgl. reduziert. (…) Entschließt sich ein Arbeitgeber bei einem derart starken Arbeitsrückgang aufgrund des Wegfalls seines Großauftrages dazu, einen bestimmten Arbeitsbereich (hier die Ebene der
beschäftigten Disponentinnen) nicht mehr vorzuhalten, sondern die verbleibenden Resttätigkeiten durch arbeitsorganisatorische und betriebsorganisatorische Maßnahmen aufzufangen, so ist dies nach Ansicht der Kammer unzweifelhaft nachvollziehbar.
[29] b) Entgegen der Auffassung der Klägerin hat der Beklagte auch nachvollziehbar die Umsetzungsmöglichkeit der von ihm getroffenen betriebsorganisatorischen und arbeitsorganisatorischen Maßnahmen dargelegt. Dies hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt und dbzgl. wie folgt ausgeführt:
[30] „Doch der Beklagte hat auch noch nachvollziehbar dargelegt, dass die verbleibenden Fahrten auf die übrigen Mitarbeiter:innen dergestalt aufgeteilt werden können, dass diese ohne eine überobligatorische Mehrarbeit erledigt werden können. Dass die Bürokraft Frau R. zeitlich dazu in der Lage ist, die zu disponierenden Fahrten neben ihren Büroaufgaben zu erledigen, ergibt sich insbesondere angesichts des Umstandes, dass der Umfang ihrer administrativen Tätigkeiten nach dem Wegfall der Rufbusaufträge deutlich gesunken ist. Zwar hat die Klägerseite zurecht eingewandt, dass eine einzelne Person nicht 24/7 an jedem Tag im Jahr disponieren kann, der Beklagte aber durch seine Berechnung auf Basis einer 7-Tage-Woche zu erkennen gegeben hat, dass weiterhin an sieben Tagen in der Woche disponiert wird. Jedoch hat der Beklagte plausibel erläutert, dass im Fall der Abwesenheit von Frau R. das Telefon auf die Fahrer bzw. ihn selbst umgestellt wird. Dies führt mit Sicherheit zu einer erhöhten Belastung der Fahrer, was jedoch angesichts der überschaubaren Anzahl der zu disponierenden Fahrten nicht in einem Bereich der Unmöglichkeit liegt. Die Folge daraus könnte womöglich die Nichtannahme einiger zu disponierender Fahrten sein, wenn die Fahrer deren Disposition nicht schaffen würden. Dies wäre jedoch eine wirtschaftliche Konsequenz, die mit der Beschäftigung einer weiteren (Teilzeit-)Arbeitskraft abzuwägen ist. Eine solche unternehmerische Abwägungsentscheidung auf ihre Wirtschaftlichkeit hin zu überprüfen ist jedoch aufgrund der grundgesetzlich geschützten unternehmerischen Freiheit nicht Aufgabe des Gerichts.“
[31] Dieser Argumentation schließt sich die Kammer trotz der von der Klägerin mit der Berufungsbegründung vorgebrachten Argumentation an. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich nach den unstreitigen Ergänzungen des Sachvortrages durch den Beklagten in der Berufungsinstanz der Arbeitsaufwand für die Mitarbeiterin R. im Rahmen der von ihr zu erstellenden Schichtpläne und Arbeitseinteilungen mit Wirkung ab November 2023 von 67 Arbeitnehmer:innen auf nur noch 23 Arbeitnehmer:innen reduziert hat. Ebenfalls unstreitig ist der Umstand, dass in
Abwesenheitszeiten der Mitarbeiterin R. der Beklagte selbst die Disposition der Fahrten übernimmt bzw. gegebenenfalls auch Fahrten selbst durchführt, ohne diese zu disponieren bzw. der Bestellanruf mittels Rufumleitung direkt an den Fahrer weitergeleitet wird, der dann den Auftrag ohne vorherige Disposition ausführt, sofern freie Kapazitäten vorhanden sind. Greifen die vorgenannten Maßnahmen nicht, wird die Fahrt nicht angenommen. Zudem hat der Beklagte vorgetragen, dass eine Disposition von Fahrten nur bis 18:00 Uhr erfolgt und (…) nach 18:00 Uhr bei dem Beklagten ein Bereitschaftsdienst eingerichtet ist. Dieser wird von einem Fahrer/einer Fahrerin übernommen, der/die eingehende Anrufe annimmt und die Fahrten dann ohne Disposition direkt selbst ausführt, sofern entsprechende Kapazitäten vorhanden sind.
2. Keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit
[34] 2. Auf der Grundlage des Vortrages der Parteien ist eine anderweitige Weiterbeschäftigungsmöglichkeit der Klägerin auf einem freien Arbeitsplatz bei dem Beklagten nicht ersichtlich.
3. Sozialauswahl
[35] 3. Die im Streit befindliche Kündigung des Beklagten ist schließlich nicht gem. § 1 III KSchG unwirksam. Unter Berücksichtigung des gegebenen Sach- und Streitstandes lässt sich eine rechtsfehlerhafte Sozialausfall nicht feststellen. (…)
[37] Soweit die Klägerin die Büromitarbeiterin R. als weniger sozial schutzwürdig benennt, so vermag die Kammer dem nicht zu folgen.
[38] Das Arbeitsgericht hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass auf der Grundlage der Tätigkeitsinhalte der Büromitarbeiterin Frau R. die notwendige Vergleichbarkeit mit der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit der Klägerin nicht hergestellt werden kann.
[39] Unabhängig davon ergibt sich auch unter Berücksichtigung der Sozialdaten im Hinblick auf die Mitarbeiterin R. keine geringere soziale Schutzbedürftigkeit. Frau R. ist wie die Klägerin auch ledig. Zwar ist die Klägerin drei Kindern gegenüber unterhaltsverpflichtet und Frau R. einem Kind gegenüber unterhaltsverpflichtet. Andererseits ist Frau R. 22 Jahre älter und ca. 3 ½ Jahre länger im Betrieb beschäftigt. Auch vor diesem Hintergrund lässt sich mithin eine rechtsfehlerhafte Sozialauswahl nicht feststellen.
Mithin war die Kündigungsschutzklage unbegründet.
Fazit
Hinsichtlich der vier Sozialdaten stellte sich der Fall also wie folgt dar:
Klägerin | Frau R. | |
Alter | 22 Jahre älter | |
Betriebszugehörigkeit | 3,5 Jahre länger | |
Unterhaltspflichten | 3 Kinder | 1 Kind |
Schwerbehinderung | wohl nicht | wohl nicht |
Über die Gewichtung der Kriterien enthält das Gesetz keine Aussage. Man wird die vier Sozialkriterien deshalb zunächst als gleichwertig anzusehen haben. Das bedeutet aber nicht (!), dass es nur darauf ankommt, wie viele der vier gesetzlichen Kriterien zu Gunsten des einen und wie viele zu Gunsten des anderen Arbeitnehmers ausschlagen. Vielmehr verlangt gerade die Gleichrangigkeit der Auswahlkriterien danach, die mit ihnen verbundenen konkreten Daten der betroffenen Arbeitnehmer in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Ein Kriterium fällt relativ umso stärker ins Gewicht, je größer der durch dieses Kriterium aufgezeigte Unterschied zu Gunsten des einen Mitarbeiters ausfällt (BAG, 2 AZR 164/14, RA 2015, 369).
Beachten Sie den reduzierten Prüfungsmaßstab: Das Gericht prüft nur, ob soziale Gesichtspunkte „nicht oder nicht ausreichend“ berücksichtigt wurden. Damit kommt ihm ein gewisser Beurteilungsspielraum zu. Es wird nicht geprüft, ob das Gericht selbst, eine andere Entscheidung getroffen hätte. Mithin können nur deutlich schutzwürdigere Arbeitnehmer mit Erfolg die Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl rügen.
Mit Blick auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass die Klägerin – trotz zwei „zusätzlicher“ Unterhaltspflichten – nicht offensichtlich deutlich sozial schutzwürdiger war als Frau R.
Wenn Arbeitnehmer als annähernd gleich sozial schutzbedürftig angesehen werden müssen, hat der Arbeitgeber faktisch die freie Wahl, welche Person er kündigt. Selbst eine Sozialauswahl durch Losentscheid kann dann nicht erfolgreich vor Gericht angegriffen werden.
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