Problem: Widerruf eines am Messestand geschlossenen Kaufvertrages
Einordnung: Allgemeines Schuldrecht
BGH, Urteil vom 10.04.2019
VIII ZR 82/17
EINLEITUNG
Der dem BGH-Urteil zugrunde liegende Fall spielt im Jahr 2015 in Rosenheim. Einen gleich gelagerten Fall des LG Freiburgs stellten wir in der RA 2015, 637 ff. vor. In beiden Fällen stellte sich dieselbe Frage: Ist ein Messestand ein beweglicher Gewerberaum i.S.d. § 312b II BGB und damit ein Geschäftsraum? Weil es hierbei um die Auslegung der Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU geht – im Folgenden kurz VRRL genannt – wurde die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung gem. Art. 267 Absatz 3 AEUV vorgelegt. Dessen 8. Kammer entschied mit Urteil vom 07.08.2018, C-485/17, dass ein Messestand eines Unternehmers, an dem der Unternehmer seine Tätigkeiten an wenigen Tagen im Jahr ausübt, unter den Begriff „Geschäftsräume“ im Sinne der VRRL fällt, wenn in Anbetracht aller tatsächlichen Umstände rund um diese Tätigkeiten und insbesondere des Erscheinungsbilds des Messestandes sowie der vor Ort auf der Messe selbst verbreiteten Informationen, ein normal informierter, angemessen aufmerksamer und verständiger Verbraucher vernünftigerweise damit rechnen konnte, dass der betreffende Unternehmer dort seine Tätigkeiten ausübt und ihn anspricht, um einen Vertrag zu schließen, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist. An dieses Auslegungsergebnis ist der BGH gebunden und knüpft hieran die hier vorliegende Entscheidung.
LEITSATZ
Zur Frage des Widerrufs einer auf den Abschluss eines an einem Messestand geschlossenen Kaufvertrags gerichteten Willenserklärung.
SACHVERHALT
V vertreibt gewerblich unter anderem Einbauküchen. K ist Verbraucher. Am 20.04.2015 schlossen die Parteien auf der alle zwei Jahre stattfindenden „Messe Rosenheim“ an einem Stand des V einen schriftlichen Kaufvertrag über eine Einbauküche (Modell „P. “) zum Gesamtpreis von 10.595,20 €. Eine Widerrufsbelehrung enthielt der Kaufvertrag nicht. Auf der Messe Rosenheim stellten im Jahr 2015 in 14 Hallen 19 verschiedene Branchen ihre Waren und Leistungen in einem bunten Mix aus. Neben Ständen mit offensichtlichem Verkaufscharakter fanden sich dort auch Stände der AOK, des ASB oder der Agentur für Arbeit. Noch am 20. April 2015 widerrief der Kläger seine auf den Vertragsschluss gerichtete Willenserklärung. Zu Recht?
Anmerkung:
Art. 2 Nr. 9 der VRRL: „Geschäftsräume“ sind a) unbewegliche Gewerberäume, in denen der Unternehmer seine Tätigkeit dauerhaft ausübt, oder b) bewegliche Gewerberäume, in denen der Unternehmer seine Tätigkeit für gewöhnlich ausübt.
PRÜFUNGSSCHEMA
A. Widerruf des Kaufvertrages gem. §§ 355, 312, 312b, 312g BGB
I. Widerrufserklärung gem. § 355 I BGB
II. Widerrufsrecht gem. §§ 312, 312b, 312g BGB
B. Ergebnis
LÖSUNG
A. Widerruf des Kaufvertrages gem. §§ 355, 312, 312b, 312g BGB
Fraglich ist, ob sich K gem. § 355 BGB durch wirksamen Widerruf vom unstreitig am 20.04.2015 in Rosenheim geschlossenen Kaufvertrag gelöst hat.
I. Widerrufserklärung gem. § 355 I BGB
K hat am 20.04.2015 den Widerruf gem. § 355 I BGB erklärt.
II. Widerrufsrecht gem. §§ 312, 312b, 312g BGB
K muss ein Recht zum Widerruf zugestanden haben. Ein solches kann ihm hier gem. §§ 312, 312b, 312g BGB zustehen.
1. Anwendbarkeit gem. Art. 229, § 32 I EGBGB
K könnte gegen V gem. §§ 312, 312b, 312g I BGB ein Widerrufsrecht gem. § 355 BGB zustehen. Zunächst ist die zeitliche Anwendbarkeit gem. Art. 229, § 32 I EGBGB zu prüfen. Weil § 312b BGB der Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU in deutsches Recht dient, ist die Rechtsnorm nur auf Verbraucherverträge anzuwenden, die seit dem Inkrafttreten des Umsetzungsgesetzes am 13.06.2014 abgeschlossen worden sind. Dies ist hier mit dem am 20.04.2015 geschlossenen Vertrag der Fall.
Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie der Bundesrepublik Deutschland vom 20.09.2013, BGBl. I 2013, S. 3643 ff.
2. Persönliche Anwendbarkeit
Das Widerrufsrecht aus §§ 312, 312b, 312g BGB erfordert einen Verbrauchervertrag gem. § 310 III BGB. Indem K Verbraucher gem. § 13 und V Unternehmer gem. § 14 BGB ist, liegen diese Voraussetzungen vor.
3. Sachliche Anwendbarkeit der §§ 312, 312b, 312g BGB
Einem Verbraucher steht gemäß §§ 312g I, 312b I BGB ein Widerrufsrecht gem. § 355 BGB zu, wenn der Vertrag im Sinne des § 312b BGB außerhalb von Geschäftsräumen geschlossen wurde. Außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge sind nach § 312b I Nr. 1 BGB Verträge, die bei gleich-zeitiger körperlicher Anwesenheit des Verbrauchers und des Unternehmers an einem Ort geschlossen werden, der kein Geschäftsraum des Unternehmers ist. Geschäftsräume sind nach der Legaldefinition des § 312b II 1 BGB „unbewegliche Gewerberäume, in denen der Unternehmer seine Tätigkeit dauerhaft ausübt, und bewegliche Gewerberäume, in denen der Unternehmer seine Tätigkeit für gewöhnlich ausübt“.
V hat seine Produkte an einem Messestand angeboten. Fraglich ist, ob ein Messestand ein beweglicher Gewerberaum und damit ein Geschäftsraum ist.
Der Begriff „Raum“ darf nicht bautechnisch verstanden werden. Was unter Geschäftsraum zu verstehen ist, richtet sich nach dem Inhalt der VRRL, deren Umsetzung § 312b BGB dient.
Geschäftsraum i.S.d. § 312b II 1 BGB
EuGH, Urteil vom 07.08.2018, C-485/17
Diese Auslegung des EuGH aus seinem Urteil vom 07.08.2018, C-485/17 zum Begriff des Geschäftsraums in Anwendung auf Messestände, ist für deutsche Gerichte bindend. Deshalb musste der BGH in seinem Urteil vom 10.04.2019, VIII ZR 244/16 zur „Grünen Woche“ (vgl. RA 2015, 637 ff.) ebenfalls diese Maßstäbe anlegen und das Widerrufsrecht verneinen.
Sinn und Zweck lt. Erwägungsgrund 21 der VRRL: Schutz des Verbrauchers vor Überrumpelung und Ausgleich für psychische Drucksituationen
Markt- und Messestände werden in Erwägungsgrund 22 der VRRL erwähnt und als Geschäftsräume behandelt.
Entscheidend für den EuGH: Kann ein Verbraucher vernünftigerweise damit rechnen, zu kommerziellen Zwecken angesprochen zu werden, wenn er sich zum Messestand des Unternehmers begibt?
Fraglich ist, ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. Man könnte der Auffassung sein, es könne sich eine Überrumpelungsgefahr zum einen aus dem Umstand ergeben, dass auf der „Messe Rosenheim“ auch Messestände ohne Verkaufsabsicht besetzt sind, z.B. solche der Agentur für Arbeit, des ASB sowie der AOK.
Messestände ohne Verkaufscharakter auf der Messe Rosenheim
Man könnte der Auffassung sein, zum anderen könne ein durchschnittlicher Verkäufer von einer Verkaufsofferte überrascht sein, weil der Kauf einer Einbauküche eine Besonderheit darstelle. Bei einer solchen sei nämlich regelmäßig ein Aufmaß vorzunehmen.
Aufmaß ist typisch
Der Messestand des V erweckte nicht den Eindruck, ein reiner Informationsstand ohne Verkaufscharakter zu sein.
Nach diesem Auslegungsergebnis handelt es sich bei dem Messestand um einen beweglichen Gewerberaum, an dem der Unternehmer seine Geschäfte für gewöhnlich ausübt. Damit liegt ein Geschäftsraum gem. § 312b II BGB vor und besteht kein Widerrufsrecht.
Ergebnis: Der Messestand war ein Geschäftsraum. K hatte kein Widerrufsrecht gem. §§ 312, 312b, 312g, 355 BGB
B. Ergebnis
K hat den Kaufvertrag nicht wirksam gem. §§ 312, 312b, 312g, 355 BGB wirksam widerrufen.
FAZIT
Ein Messestand ist ein beweglicher Gewerberaum i.S.d. § 312b II BGB, wenn ein normal informierter und verständiger Verbraucher vernünftigerweise damit rechnen kann, dort zu kommerziellen Zwecken angesprochen zu werden.
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