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Fall des Monats Oktober 2024: Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten

By 15. Oktober 2024No Comments
Fall des Monats

OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 04.04.2024, Az.: OVG 6 B 18/22 (VG Berlin, Urteil vom 14.10.2022, Az.: 27 K 285/21)

Problem: Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten

Einordnung: Grundrechte / Staatsorganisationsrecht

In Kooperation mit Jura Intensiv präsentieren wir dir den #examensrelevanten Fall des Monats. Dieser bietet einen Sachverhalt mit Fragestellung, sodass der Fall eigenständig gelöst werden kann. Die hier präsentierten Lösungen enthalten in aller Regel auch weiterführende Hinweise für eine optimale Examensvorbereitung.

Einleitung

Die Urteile berühren mit dem Auskunftsverlangen eines Journalisten zu den Begnadigungen des Bundespräsidenten ein Rechtsproblem, das an der Schnittstelle des allgemeinen Verwaltungsrechts mit den Grundrechten und dem Staatsorganisationsrecht liegt.

Sachverhalt

Der Kläger ist nach seinen eigenen Angaben freier Journalist. Im Mai 2021 erbat er vom Bundespräsidialamt eine Übersicht sämtlicher Begnadigungen durch den Bundespräsidenten in den Jahren 2004 bis 2021 mit den Namen der begnadigten Personen, dem Aktenzeichen der rechtskräftig abgeschlossenen Strafsache, Disziplinarsache oder Ehrengerichtssache, auf die sich die Begnadigung bezieht, der der Straf-, Disziplinar- oder Ehrengerichtssache zugrundeliegenden Verfehlung und dem Datum der Begnadigung. Das Bundespräsidialamt erteilte die gewünschte Auskunft nicht. Der Kläger sieht dadurch seinen unmittelbar aus dem Grundgesetz folgenden presserechtlichen
Auskunftsanspruch verletzt, weil die Ausübung des Gnadenrechts durch den Bundespräsidenten als Verwaltungshandeln zu qualifizieren sei. Das zeige bereits der Wortlaut des Art. 60 III GG, der von „Behörden“ spreche. Weiterhin habe inzwischen eine Verrechtlichung des Gnadenrechts stattgefunden, wie die gerichtliche Überprüfbarkeit des Widerrufs einer Begnadigung zeige. Das spreche dafür, dass der Bundespräsident im Rahmen von Gnadenentscheidungen nicht als Verfassungsorgan tätig werde, sondern als Exekutive in die rechtsprechende Gewalt in Form materiell-rechtlichen Verwaltungshandelns eingreife. Schließlich bestehe eine Parallele zu presserechtlichen Auskunftsansprüchen bzgl. Gerichtsentscheidungen, die nach der Rechtsprechung des BVerfG in anonymisierter Form zugänglich zu machen seien, was eine Tätigkeit der Verwaltung darstelle.

Steht dem Kläger der geltend gemachte Auskunftsanspruch zu?

Leitsatz:

Die Ausübung des Gnadenrechts gemäß Art. 60 Abs. 2 und Abs. 3 GG stellt kein Verwaltungshandeln
im funktionalen Sinn dar. Sie wird vom presserechtlichen Auskunftsanspruch aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG nicht umfasst.

Lösung

Dem Kläger steht der Auskunftsanspruch zu, wenn eine Anspruchsgrundlage existiert und deren Voraussetzungen erfüllt sind.

(= Obersatz)

I. Anspruchsgrundlage

Als ausdrücklich normierte Anspruchsgrundlage kommt mangels bundesgesetzlicher Regelung nur § 4 I Berliner Pressegesetz (PresseG BE) in Betracht.

§ 4 I PresseG BE: „Die Behörden sind verpflichtet, den Vertretern der Presse, die sich als solche ausweisen, zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben Auskünfte zu erteilen.“

„Der in § 4 Abs. 1 PresseG BE landesrechtlich normierte Auskunftsanspruch der Presse gegenüber Behörden ist vorliegend nicht anwendbar. Die grundgesetzlichen Regelungen über das Amt des Bundespräsidenten schließen als Annex die Befugnis des Bundes zur Regelung behördlicher Auskunftspflichten gegenüber der Presse zur Amtstätigkeit des Bundespräsidenten ein. Die Befugnis zur Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Bundespräsidenten ist integraler Bestandteil seiner geschriebenen und ungeschriebenen Verfassungskompetenzen und Grundfunktionen seines Amtes. Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung dieser Kompetenzen und Grundfunktionen ist der Bundespräsident auf Grundlage seiner allgemeinen Repräsentations- und Integrationsaufgabe berechtigt, öffentlich aufzutreten und sich öffentlich zu äußern. Diese Bundeskompetenz schließt wiederum als Annex die Befugnis zur Regelung von Auskunftspflichten gegenüber der Presse ein, die eben diese Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Bundespräsidenten betreffen. [….]“

(= Landespresserecht (-) bei Verfassungsorganen des Bundes

Mangels ausdrücklicher Normierung kann sich der behauptet Auskunftsanspruch nur aus dem Grundgesetz selbst ergeben.

„[…] Da der Bund von seiner Regelungsbefugnis bisher keinen Gebrauch gemacht hat, greift der unmittelbar aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG herzuleitende Auskunftsanspruch.

Aufgrund dieses verfassungsunmittelbaren Auskunftsanspruchs können Presseangehörige auf hinreichend bestimmte Fragen behördliche Auskünfte verlangen, soweit die entsprechenden Informationen bei der Behörde vorhanden sind und schutzwürdige Interessen öffentlicher Stellen oder Privater an der Vertraulichkeit nicht entgegenstehen. Der verfassungsunmittelbare Auskunftsanspruch der Presse gegenüber den Bundesbehörden darf dabei nicht hinter dem Gehalt der […] Auskunftsansprüche der Landespressegesetze zurückbleiben. Er fordert eine Abwägung des Informationsinteresses der Presse mit den gegenläufigen schutzwürdigen Interessen im Einzelfall. Dabei kommt eine Bewertung des Informationsinteresses der Presse grundsätzlich nicht in Betracht. Entscheidend ist, dass dem Informationsinteresse der Presse keine schutzwürdigen Interessen von solchem Gewicht entgegenstehen, die den Anspruch auf Auskunft ausschließen. […]“

Folglich könnte sich der vom Kläger behauptete Auskunftsanspruch aus Art. 5 I 2 GG ergeben.

JuraIntensiv informiert

zum verfassungsunmittelbaren Anspruch aus Art. 5 I 2 GG (grundlegend: BVerwG, Urteil vom 20.02.2013, 6 A 2.12):

Voraussetzungen des Auskunftsanspruchs:

  • Fragesteller ist Angehöriger der Presse
  • Frage ist hinreichend bestimmt
  • Frage ist an eine Behörde adressiert
  • Angefragte Informationen sind bei der Behörde vorhanden
  • Schutzwürdige Interessen stehen Auskunft nicht entgegen (Abwägung)

II. Anspruchsvoraussetzungen

Problem: Handelt der Bundespräsident bei Begnadigungen als Behörde?

Die oben genannten Anspruchsvoraussetzungen müssen vorliegen. Fraglich ist, ob Begnadigungen durch den Bundespräsidenten als Handeln einer Behörde zu qualifizieren sind.

„Nach Art. 60 Abs. 2 GG übt der Bundespräsident im Einzelfalle für den Bund das Begnadigungsrecht aus. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht das Begnadigungsrecht in der Befugnis, im Einzelfall eine rechtskräftig erkannte Strafe ganz oder teilweise zu erlassen, sie umzuwandeln oder ihre Vollstreckung auszusetzen; es eröffnet die Möglichkeit, eine im Rechtsweg zustande gekommene und im Rechtsweg nicht mehr zu ändernde Entscheidung auf einem „anderen“, „besonderen“ Weg zu korrigieren. Bei der Ausübung dieses Rechts handelt der Bundespräsident nicht als Verwaltungsbehörde, sondern als Verfassungsorgan. Dabei übt er nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine „Gestaltungsmacht besonderer Art“ aus, welche nicht den Sicherungen, den Gewaltenverschränkungen und -balancierungen unterliegt, die gewährleisten sollen, dass Übergriffe der Exekutive durch Anrufung der Gerichte abgewehrt werden können. Es handelt sich um eine verfassungsrechtliche Ermächtigung, die es in den Willen bzw. in die persönliche Entscheidungsfreiheit des Ermächtigten stellt, von ihr Gebrauch zu machen.

(für grundsätzliches zum Begnadigungsrecht, vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.04.1969, 2 BvR 552/63, Rn 27; für Begnadigung = Handlung eines Verfassungsorgans, vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.04.1969, 2 BvR 552/63, Rn 33 f.)

Zu Recht geht das Verwaltungsgericht vor diesem Hintergrund davon aus, dass die Ausübung des Gnadenrechts keine materielle Verwaltungstätigkeit darstellt. Der Behördenbegriff des Presserechts ist nicht organisatorisch-verwaltungstechnisch, sondern funktional zu begreifen. Funktional handelt es sich bei der Ausübung des Begnadigungsrechts gemäß Art. 60 Abs. 2 GG um verfassungsrechtliches Handeln im Sinne einer „Gestaltungsmacht besonderer Art“, nicht aber um einfachen Gesetzesvollzug. Denn das Begnadigungsrecht ist schon von Verfassungs wegen dadurch gekennzeichnet, dass seine Ausübung keinen normativen Bindungen oder Beschränkungen unterliegt. […]

(Begnadigung keine Verwaltungstätigkeit, da kein Gesetzesvollzug. vgl. den funktionalen Behördenbegriff)

Der Verweis des Klägers auf eine zwischenzeitlich seiner Meinung nach erfolgte Verrechtlichung des Gnadenrechts führt nicht zu einem anderen Ergebnis. […] Soweit die Rechtsprechung den nachträglichen Widerruf eines positiven Gnadenerweises ausnahmsweise als der gerichtlichen Kontrolle gemäß Art. 19 Abs. 4 GG unterworfen ansieht, verweist die Beklagte mit Recht darauf, dass sich dies einzig mit dem durch den Begnadigten im Nachgang der Gnadenentscheidung erworbenen schutzwürdigen Vertrauen in deren Fortbestand rechtfertige. Diese von der Rechtsprechung angenommene Möglichkeit, einen Widerruf einer positiven Gnadenentscheidung gerichtlich zu kontrollieren, führt aber nicht dazu, dass die Gnadenentscheidung als solche rechtlichen Einschränkungen unterläge. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr ausdrücklich ausgeführt, dass der Fall des Widerrufs eines gewährten Gnadenerweises einer anderen Beurteilung – als die der Ausübung des Gnadenrechts – unterliege.

(Verrechtlichung des Gnadenrechts? vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 12.01.1971, 2 BvR 520/70, Rn 7 und 5.)

Aus dem Wortlaut des Art. 60 Abs. 3 GG, wonach der Bundespräsident die Befugnis des Begnadigungsrechts gemäß Art. 60 Abs. 2 GG auf „andere Behörden“ übertragen kann, sowie aus der Delegierbarkeit der Begnadigungsbefugnis an sich, von der der Bundespräsident auch Gebrauch gemacht hat (vgl. Art. 2 GnadenAnO), folgt nichts anderes. Es handelt sich um eine in der Verfassung selbst angelegte Gestattung gegenüber „anderen Behörden“, eine staatsleitende Befugnis wahrzunehmen,
die jedoch – entgegen des missglückten Wortlauts – nicht die Ausübung des Gnadenrechts von einer allein verfassungsrechtlich begründeten „Gestaltungsmacht besonderer Art“ in einfaches materielles Verwaltungshandeln verwandelt. Denn diejenigen „Behörden“, an die die Ausübung der Begnadigungsbefugnis delegiert wird, sind nach dem funktionalen Behördenbegriff […] jedenfalls bei deren Ausübung keine Behörden. […]

(Wortlaut des Art. 60 III GG („Behörden“) ändert nichts, denn gemeint sind keine Behörden im funktionalen Sinne)

Nichts anderes ergibt sich aus der von dem Kläger gezogenen Parallele zu Auskunftsansprüchen bezüglich Gerichtsentscheidungen. Soweit er sich darauf beruft, es sei in der Rechtsprechung lange anerkannt, dass diese der Presse in anonymisierter Form zugänglich zu machen seien, und die Veröffentlichung bzw. das Zugänglichmachen von Gerichtsentscheidungen stelle keine Rechtsprechungstätigkeit, sondern Verwaltungshandeln dar, folgt daraus nicht, dass die an die Ausübung
des Gnadenrechts anschließende, vom Kläger so bezeichnete Ergebnisdokumentation eine Verwaltungsaufgabe des Bundespräsidenten oder des Bundespräsidialamtes wäre. Zum einen liegt schon kein Parallelfall zu Gerichtsentscheidungen vor. Denn die Pflicht zu deren Veröffentlichung wurde vom Bundesverfassungsgericht damit begründet, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz selbst Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips sei und eine Rechtspflicht zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen allgemein anerkannt sei. Dagegen gilt […] der Öffentlichkeitsgrundsatz nicht für das „interne“ Gnadenverfahren, das keine justizförmigen Garantien kennt. Auch besteht keine Rechtspflicht zur Veröffentlichung von Gnadenentscheidungen. Denn diese haben keine Bedeutung für das allgemeine Rechtsleben, weil sie keine Rechtsvorschriften konkretisieren oder fortbilden. Weiter ist das Handeln der Judikative zwar Ausdruck der ihr durch Art. 92 GG übertragenen rechtsprechenden Gewalt. Aber die Rechtsprechung per se ist […] nicht mit der staatsleitenden „besonderen Gestaltungsmacht“ des Begnadigungsrechts vergleichbar. […]“

(= Vergleichbarkeit mit Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen (-); vgl. insoweit auch BVerfG, Beschluss vom 14.09.2015, 1 BvR 857/15, Rn 16.)

Somit steht dem Kläger der geltend gemachte Auskunftsanspruch nicht zu.

Fazit

Die Urteile sind unter mehreren Gesichtspunkten prüfungsrelevant. Sie erläutern zum einen den verfassungsunmittelbaren Auskunftsanspruch der Presse gegenüber Bundesbehörden und zeigen dessen Voraussetzungen auf. Zum anderen wird der Behördenbegriff näher untersucht, indem eine Abgrenzung des funktionalen vom organisatorisch-verwaltungstechnischen Behördenbegriff erfolgt. Darüber hinaus befassen sich das VG und das OVG mit dem Wesen des Begnadigungsrechts des Bundespräsidenten und erklären anschaulich, warum die Entscheidung über eine Begnadigung keinen rechtlichen Bindungen unterworfen und daher gerichtlich nicht überprüfbar ist, wohingegen dies beim Widerruf einer Begnadigung sehr wohl der Fall ist. In diesem Zusammenhang wird auch der missverständliche Art. 60 III GG erläutert.

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Beitragsautor:

Jura Intensiv

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