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Fall des Monats Juli 2024: Freie Wahl oder Benennungspflicht des Parlaments?

By 16. Juli 2024No Comments
Fall des Monats

Verwaltungsgerichtshof Stuttgart (VerfGH Stuttgart), Urteil vom 05.02.2024, Az.: 1 GR 21/22

Problem: Freie Wahl oder Benennungspflicht des
Parlaments?

Einordnung: Staatsorganisationsrecht

In Kooperation mit Jura Intensiv präsentieren wir dir den #examensrelevanten Fall des Monats. Dieser bietet einen Sachverhalt mit Fragestellung, sodass der Fall eigenständig gelöst werden kann. Die hier präsentierten Lösungen enthalten in aller Regel auch weiterführende Hinweise für eine optimale Examensvorbereitung.

Einleitung

Das Landesverfassungsgericht von Baden-Württemberg hatte auszuloten, wann aus einem Vorschlagsrecht einer Landtagsfraktion für die Besetzung eines Gremiums ein Benennungsrecht wird, sodass die vorgeschlagene Person vom Parlament berufen werden muss. Es geht also letztlich um die Grenzen der Freiheit einer Wahlentscheidung.

Sachverhalt

Im Jahr 2013 wurde durch eine Bekanntmachung des Präsidenten des Landtags von Baden-Württemberg die Landeszentrale für politische Bildung (LZPB) eingerichtet. Sie ist eine nicht rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts beim Landtag (§ 1 der Bekanntmachung). Sie soll die politische Bildung in Baden-Württemberg auf überparteilicher Grundlage fördern, vernetzt sich dafür mit staatlichen und nichtstaatlichen Stellen, organisiert Veranstaltungen und veröffentlicht wissenschaftliche Materialien und Fortbildungsmaterialien (§ 2 der Bekanntmachung). Die Überparteilichkeit der Landeszentrale wird durch ein Kuratorium sichergestellt, das aus 24 Mitgliedern besteht; 17 Mitglieder werden auf Vorschlag des Landtags von dem Landtagspräsidenten berufen, die verbleibenden 7 Mitglieder beruft der Landtagspräsident im Einvernehmen mit dem Landtag aus Vorschlagslisten der Träger der politischen Bildungsarbeit (§ 4 der Bekanntmachung). Nach § 17a II Geschäftsordnung des Landtags von Baden-Württemberg (GO-LT) werden bei der Besetzung der außerparlamentarischen Gremien die Fraktionen nach ihrer Mitgliederzahl beteiligt. Nach dem anzuwendenden Berechnungsverfahren stehen der AfD-Fraktion im Landtag in der aktuellen Wahlperiode 2 Sitze im Kuratorium zu. Die von der AfD-Fraktion vorgeschlagenen Kandidaten wurden jedoch von der Mehrheit des Landtags abgelehnt. Die AfD-Fraktion sieht sich dadurch in ihrem Recht auf Gleichbehandlung aus Art. 27 III Verfassung des Landes Baden-Württemberg (LV) verletzt. Zur Begründung führt sie aus, sie habe einen Anspruch auf Bestätigung der von ihr vorgeschlagenen Kandidaten durch den Landtag, sofern die unterbliebene Bestätigung nicht auf Sachgründe gestützt werden könne, was hier aber nicht der Fall sei. Eine freie Wahl der parlamentarischen Kuratoriumsmitglieder sei verfassungswidrig.

Liegt ein Verstoß gegen Art. 27 III LV vor?

Hinweis: Art. 27 III LV: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nicht an Aufträge und Weisungen gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Leitsätze (gekürzt)

  1. […]
  2. […]
  3. Auch wenn der Landtag ihm obliegende Personalentscheidungen grundsätzlich durch freie Wahl treffen darf, bleibt verfassungsgerichtlich überprüfbar, ob hierbei andere verfassungsrechtliche Statusrechte, insbesondere Minderheitenrechte, verletzt werden. Zu diesen Rechten gehört auch der Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen.
  4. Besteht infolge der Bedeutung eines Gremiums für die parlamentarische Willensbildung ein Recht der Fraktionen auf gleiche Vertretung in ihm, kann eine freie Wahl seiner Mitglieder unzulässig sein. Denn sie ginge mit der Möglichkeit einer Nicht-Wahl einher und wäre daher kein geeignetes Mittel, um die Vertretung einer Fraktion in einem Gremium sicherzustellen. Daher ist es möglich, dass in solchen Konstellationen aus dem Vertretungsrecht auch ein Benennungsrecht folgt.
  5. […] Maßgebliche Gesichtspunkte sind die Relevanz des jeweiligen Gremiums für die Tätigkeit des Landtags und die parlamentarische Willensbildung.

Lösung

Ein Verstoß gegen Art. 27 III LV liegt vor, wenn das in dieser Norm verankerte sog. freie Mandat verletzt ist. Das freie Mandat findet hier aber von vornherein eine Begrenzung durch die Organisationsautonomie des Landtags.

Ungewöhnlicher Obersatz wegen der „unüblichen“ Prüfungsreihenfolge des VerfGH. Normalerweise wird beim freien Mandat formuliert: „Das freie Mandat ist verletzt, soweit ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt, der nicht gerechtfertigt ist.“ Der daraus folgende (an die Grundrechte angelehnte) Prüfungsaufbau wäre hier alternativ möglich. Parallelvorschrift im GG: Art. 40 I 2 GG

I. Organisationsautonomie des Landtags

„[86] Kraft seiner Organisationsautonomie verfügt der Landtag über die Befugnis, sich für die Erfüllung seiner Funktionen den notwendigen Ordnungsrahmen zu schaffen. Dementsprechend gibt Art. 32 Abs. 1 Satz 2 LV dem Landtag die Möglichkeit, seine inneren Angelegenheiten im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung autonom zu regeln und sich selbst so zu organisieren, dass er seine Aufgabe effektiv erfüllen kann. Das Recht des Parlaments, seine Angelegenheiten zu regeln, erstreckt sich dabei insbesondere auf den Geschäftsgang und dabei auch auf die Zusammensetzung von Gremien. Im Rahmen seiner Organisationsautonomie kommt dem Landtag ein weiter Gestaltungsspielraum zu.

[87] Der Verfassungsgerichtshof hat die Autonomie des Parlaments bei Ausgestaltung seiner inneren Ordnung zu beachten. [Anmerkung: Gestaltungsspielraum des Landtags -> beschränkter Kontrollumfang des
VerfGH] […] Daher geht die Organisationsautonomie des Landtags mit einem nur eingeschränkt überprüfbaren Gestaltungsspielraum einher, der insbesondere die Ausgestaltung und Anwendung seiner Geschäftsordnung betrifft. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich darauf, ob eine getroffene Organisationsentscheidung evident sachwidrig ist und ob sie in nicht zu rechtfertigender Weise kollidierende verfassungsrechtliche Positionen, wie z.B. Statusrechte von Abgeordneten, einschränkt.“ [Anmerkung: = Prüfungsumfang des VerfGH]

II. Personalentscheidung durch freie Wahl

[90] „Die freie Wahl stellt die Grundform der parlamentarischen Personalentscheidung dar; sie entspricht dem freien Mandat des Abgeordneten […] und dem Demokratieprinzip […]. Die freie Wahl schafft im Gegensatz zu einer determinierten Auswahlentscheidung grundsätzlich einen legitimatorischen Mehrwert für eine Personalentscheidung. […] Aus der Herleitung der Wahlfreiheit aus dem freien Mandat ergibt sich, dass keine Maßnahmen ergriffen werden dürfen, die einzelne Abgeordnete unmittelbar oder mittelbar dazu verpflichten, ihre Wahlabsicht oder ihre Stimmabgabe offenzulegen oder zu begründen. Infolgedessen kann bei einer freien Wahl keine Verpflichtung des Landtags angenommen werden, die Gründe für die Ablehnung eines Wahlvorschlags darzulegen.“
[Anmerkung: Freie Wahlentscheidung grds. zulässig | Begründungspflicht (-)]

III. Einschränkung durch Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen

Das danach grundsätzlich bestehende Recht des Landtags, Personalentscheidungen durch eine freie Wahl zu treffen, könnte im konkreten Fall in dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen seine Grenzen finden.

„[92] […] Die Fraktion leitet ihre Rechtsstellung als Zusammenschluss von Abgeordneten, die sich gegenseitig bei der Erfüllung ihrer aus dem Mandat ergebenden Aufgaben unterstützen, aus Art. 27 Abs. 3 LV ab. Ausgangspunkt einer näheren Bestimmung des Fraktionsstatus ist daher die in Art. 27 Abs. 3 LV verbürgte Rechtsstellung des Abgeordneten.
(= Herleitung der Fraktionsrechte aus dem freien Mandat)

[93] Zum Abgeordnetenstatus gehört, dass die Mitglieder des Parlaments grundsätzlich einander formal gleichgestellt sind und über die gleichen Rechte und Pflichten verfügen. Dies folgt in erster Linie daraus, dass die Repräsentation des Volkes bei parlamentarischen Entscheidungen nicht durch einzelne Abgeordnete, eine Gruppe von Abgeordneten oder die parlamentarische Mehrheit, sondern vom Parlament in der Gesamtheit seiner Mitglieder bewirkt wird. Art. 27 Abs. 3 LV umfasst daher ein Recht jedes Abgeordneten auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung. […]
(= Gleichbehandlungsgrundsatz)

[94] Übertragen auf die Ebene der Fraktionen ergibt sich aus dem Prinzip der gleichen Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten der Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen. (= Übertragung auf die Fraktionen) […] Dieses Recht betrifft sämtliche Gegenstände der parlamentarischen Willensbildung. Es erstreckt sich nicht nur auf die Tätigkeit des Parlaments als Organ der Gesetzgebung sowie der Kontrolle der Regierung und damit auf den Bereich der politisch-parlamentarischen Willensbildung im engeren Sinne. Vielmehr umfasst die gleiche Mitwirkungsbefugnis […] auch Entscheidungen über die innere Organisation und die Arbeitsabläufe des Parlaments einschließlich der Festlegung und Besetzung von Untergliederungen und Leitungsämtern. (= Gleichbehandlungsanspruch umfasst Stellenbesetzungen)

[95] Ein Spannungsverhältnis zwischen der Organisationsautonomie des Parlaments, die es ihm im Grundsatz erlaubt, Personalentscheidungen durch freie Wahl vorzusehen, und dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen entsteht nicht zuletzt bei der Besetzung von Gremien, die dazu dienen, originäre Aufgaben des Parlaments außerhalb seines Plenums wahrzunehmen. Da […] das Volk bei parlamentarischen Entscheidungen nur durch das Parlament als Ganzes angemessen repräsentiert wird, darf ein wesentlicher Teil der Parlamentsarbeit nur dann außerhalb des Plenums geleistet werden, wenn die Mitwirkung der Abgeordneten dabei ihrer Art und ihrem Gewicht nach der Mitwirkung im Plenum im Wesentlichen entspricht. So hat das Bundesverfassungsgericht für Parlamentsausschüsse angenommen, dass sie im Wesentlichen ein verkleinertes Abbild des Parlaments sein und die Zusammensetzung des Plenums widerspiegeln müssen. […]
(Anmerkung: Problem: Parlamentarische Arbeit außerhalb des Parlamentsplenums (z.B. in Ausschüssen) / Parlamentsausschüsse als Spiegelbild des Plenums (vgl. BVerfG, Urteil vom 18.03.2014, 2 BvE 6/12, Rn 113 ff.))

[96] Besteht infolge der Bedeutung eines Gremiums für die parlamentarische Willensbildung ein Recht der Fraktionen auf gleiche Vertretung in diesem Gremium, kann eine freie Wahl seiner Mitglieder unzulässig sein. Denn sie ginge mit der Möglichkeit einer Nicht-Wahl einher und wäre daher kein geeignetes Mittel, um die Vertretung einer Fraktion in einem Gremium sicherzustellen. Daher ist es möglich, dass in solchen Konstellationen aus dem Vertretungsrecht auch ein Benennungsrecht folgt.
(Anmerkung: Mögliche Konsequenz: Benennungsrecht der Fraktionen, also keine freie Wahl.)

[97] In welchen Konstellationen der Landtag daran gehindert ist, die Besetzung von Gremien mit Abgeordneten aufgrund einer Wahl durch das Plenum vorzusehen, und stattdessen den Fraktionen ein Benennungsrecht einräumen muss, lässt sich angesichts der Vielzahl möglicher Konstellationen nicht abstrakt und schematisch bestimmen, sondern muss jeweils unter Berücksichtigung der konkreten Situation festgestellt werden. […] Maßgebliche Gesichtspunkte sind die Relevanz des jeweiligen Gremiums für die Tätigkeit des Landtags und die parlamentarische Willensbildung. Je höher diese einzuschätzen ist, desto ausgeprägter ist auch das Beteiligungsrecht des einzelnen Abgeordneten und damit der Fraktionen. Indizien können dabei etwa sein, inwieweit der Landtag sich des Gremiums bedient, um eine spezifisch parlamentarische Aufgabe zu erfüllen, inwieweit das Gremium in die innere Organisation des Landtags eingebunden ist und wie das Gremium ansonsten besetzt ist.
(Anmerkung: Entscheidend für Benennungsrecht: Relevanz des Gremiums für parlamentarische Willensbildung.)

IV. Übertragung auf Kuratorium der LZPB

Fraglich ist, ob die AfD-Fraktion unter Anlegung dieses rechtlichen Maßstabs einen Anspruch darauf hat, dass die von ihr benannten Kandidaten für das Kuratorium der LZPB vom Landtag bestätigt werden müssen.
(= Subsumtion)

„[99] Die Bildung der LZPB und die Besetzung ihres Kuratoriums sind keine dem Landtag durch die Landesverfassung zugewiesene Aufgaben. Die Landesverfassung sieht die LZPB als Institution nicht vor. […]
[100] Die LZPB ist organisatorisch kein Unterausschuss des Landtags. Sie stellt nach § 1 Abs. 1 der Bekanntmachung eine nicht rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts dar, die beim Landtag eingerichtet wird. […] Insofern ist die LZPB als zwar vom Landtag abgeleitete, aber selbständige Organisationseinheit anzusehen. Allein die Einrichtung der LZPB beim Landtag führt nicht dazu, dass in dieser Institution originäre parlamentarische Tätigkeit ausgeübt wird.
(= Gremium des Landtags (-))

[101] Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die LZPB eine spezifisch parlamentarische Aufgabe wahrnimmt. Die LZPB soll die politische Bildung in Baden-Württemberg auf überparteilicher Grundlage fördern (§ 2 Abs. 1 der Bekanntmachung). Darin liegt keine originäre, durch die Verfassung dem Parlament zugewiesene Aufgabe. Die LZPB nimmt auch keine Informations-, Kontroll- oder Untersuchungsaufgaben des Landtags wahr. […]
(= Spezifisch parlamentarische Aufgabe (-))

[102] Auch das Kuratorium der LZPB nimmt keine originär parlamentarischen Aufgaben wahr. […] Eine Art „Auslagerung“ einer originär dem Landtag obliegenden Kontrolle liegt […] nicht [vor]. Das zeigt sich insbesondere auch daran, dass das Kuratorium zusätzlich mit sieben sachverständigen Personen besetzt ist, die nicht dem Landtag angehören.“
(= Besetzung des Kuratoriums)

Demnach durfte der Landtag die Mitglieder des Kuratoriums der LZPB durch freie Wahl bestimmen. Ein Benennungsrecht der AfD-Fraktion besteht nicht, sodass kein Verstoß gegen Art. 27 III LV vorliegt.

FAZIT

Die besondere Prüfungsrelevanz des Urteils folgt vor allem daraus, dass die vom VerfGH behandelte Problematik (Anspruch einer Fraktion auf Gleichbehandlung bei der Besetzung außerparlamentarischer Gremien) noch nicht Gegenstand einer Entscheidung des BVerfG war und sich auch in der Rechtsprechung der Landesverfassungsgerichte bisher keine klaren Maßstäbe herausgebildet haben. Es handelt sich also um verfassungsrechtliches „Neuland“.

Da die Rechtslage auf Bundesebene identisch ist mit derjenigen in Baden-Württemberg, sind die Ausführungen des VerfGH ohne Weiteres übertragbar auf das GG.

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Beitragsautor:

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