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Gewusst

Das Fahrrad im Auto. Geklaut ist geklaut, Behalten-Wollen nicht immer Raub (4 StR 451/22)

By 26. Juni 2023Oktober 10th, 2023No Comments
HierZucktDeinPrüfungsamt

#HierZucktDeinPrüfungsamt im Strafrecht in Kooperation mit VRiLG Dr. Nils Godendorff

Moin zusammen, heute: Strafrecht. Ich empfehle dir den Beschluss des 4. Strafsenats vom 14. März 2023. Es geht um räuberischen Diebstahl, Straßenverkehrsdelikte und die Einziehungsentscheidung.

JurCase informiert:

Das Urteil des 4. Strafsenats vom 14.03.2023 (4 StR 452/22) findest du kostenfrei hier auf der Seite des Bundesgerichtshofs.

Was ist passiert?

Der Angeklagte entwendete aus einem unversperrten Schuppen ein E-Bike, um es für sich zu behalten. Als er mit dem E-Bike fortfuhr, wurde er von dem Geschädigten beobachtet, der mit seinem Pkw die Verfolgung aufnahm. Nach kurzer Zeit verlor der Geschädigte ihn aus den Augen. Unterdessen informierte der Geschädigte seinen Sohn über den Diebstahl. Dieser wollte seinem Vater helfen und begann mit zwei Freunden in einem Pkw die Umgebung abzusuchen. Etwa zehn Minuten nachdem sie losgefahren waren und ca. 1,4 Kilometer vom Tatort des Diebstahls entfernt, kam ihnen der Angeklagte auf einer einspurigen Straße in seinem Pkw entgegen. Beide Fahrzeuge hielten an; der Sohn stieg aus, um den Angeklagten zu fragen, ob er vielleicht einen Fahrraddieb gesehen habe. Zunächst hegte der Sohn gegenüber dem Angeklagten keinen Verdacht, sah dann aber das gestohlene E-Bike auf den umgeklappten Rücksitzen des Fahrzeugs des Angeklagten liegen. Er öffnete die linke hintere Tür des Wagens, um das Fahrrad zurückzuerlangen. Als der Angeklagte dies erkannte, fuhr er zügig mit einer Geschwindigkeit von ca. 25 km/h rückwärts, um zu verhindern, dass der Sohn an das Fahrrad kommen könnte. Der Sohn hielt sich an einem Griff der geöffneten Fahrzeugtür fest, wurde einige Meter mitgezogen und ging dann zu Boden. Der Angeklagte setzte zunächst weiter zurück, bis ihm einer der Freunde des Sohnes mit seinem Fahrzeug den Weg abschnitt. Daraufhin fuhr der Angeklagte nunmehr vorwärts mit einer Geschwindigkeit von zunächst 50 bis 80 km/h auf den Sohn zu, der sich gerade wieder aufgerappelt hatte und mittig auf der Fahrbahn stand. Ohne auszuweichen, näherte sich ihm der Angeklagte, reduzierte jedoch die Geschwindigkeit auf bis zu 20 bis 25 km/h. Als er noch ca. vier bis fünf Meter entfernt war, sprang der Sohn zur Seite und brachte sich in Sicherheit. Bei dem anschließenden Versuch, neben dem Fahrzeug herzulaufen, zog sich der Sohn erhebliche Verletzungen zu. Der Angeklagte handelte während des gesamten Geschehens in der Absicht, sich im Besitz des E-Bikes zu halten und den begangenen Diebstahl zu verdecken. Dabei nahm er billigend in Kauf, dass sich der Sohn durch das Mitziehen mit dem Fahrzeug und das frontale Zufahren auf ihn erhebliche Verletzungen zuziehen würde.

Worum geht es?

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt sowie seinen PKW eingezogen. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten war überwiegend erfolgreich: Zum einen konnte der BGH keinen räuberischen Diebstahl erkennen ‑ und damit natürlich auch keinen besonders schweren – zum anderen hält er die Einziehung des PKW für falsch.

Warum kein räuberischer Diebstahl?

Das Tatbestandsmerkmal „auf frischer Tat betroffen“ im Sinne dieser Vorschrift ist erfüllt, wenn der Dieb noch in unmittelbarer Nähe zum Tatort und alsbald nach der Tatausführung wahrgenommen wird. Dann besteht im Moment der Wahrnehmung noch ein enger örtlicher und zeitlicher Zusammenhang mit der Vortat und das Merkmal ist erfüllt. Daran scheitert es hier. Zwar hat der Vater den Angeklagten auf frischer Tat betroffen. Die spätere Anwendung von Gewalt gegen den Sohn stand aber nicht in dem erforderlichen Bezug zu diesem Betroffensein auf frischer Tat. Zwischen dem Betroffensein durch den Vater und der Handlungen des Sohnes lag folgendes, und das führte zur Zäsur:

  • Der Sohn und seine Freunde haben, nachdem sie Kenntnis vom Diebstahl erlangt hatten, eine eigene, neue Suche nach dem Angeklagten begonnen.
  • Sie hatten keine Vorstellung von dessen Person.
  • Ihr Zusammentreffen mit ihm und die Erkenntnis von seiner Täterschaft beruhte nicht auf Wahrnehmungen, die „auf frischer Tat“ gemacht wurden, sondern waren dem Zufall geschuldet.
  • Für den Sohn war das Fahrrad auf dem umgeklappten Sitz das, was man einen „Zufallsfund“ nennt (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Anders herum gedreht: Hätte der Vater ein Foto vom Angeklagten gemacht, es dem Sohn geschickt und mit diesem laufend koordiniert, wo entlang der Angeklagte fährt, ihn laufend verfolgt und der Sohn hätte ihn schließlich auf dem gestohlenen Fahrrad fahrend angehalten, kann die Entscheidung anders ausfallen, auch wenn der Fund 10 Minuten und 1,4 km vom Diebstahlsort entfernt liegt. In solch einem Fall setzt sich die Betroffenheit auf frischer Tat bruchlos und zäsurfrei fort.

Die gefährliche Körperverletzung?

Die wird wohl stehenbleiben können. Der BGH musste die Verurteilung mit aufheben, weil die Strafkammer insoweit von Tateinheit mit dem räuberischen Diebstahl ausgegangen war und diese Verurteilung wegfiel. In der Klausur wird – der BGH bezieht insofern nicht Stellung – zu erörtern sein, ob die Zurechnung anzunehmen ist, weil die selbstschädigende Reaktion, sich an das Fahrzeug zu hängen, vernünftigerweise veranlasst war.

Und ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr?

Aus demselben Grund wie bei der Körperverletzung (tateinheitliche Verurteilung bei wegfallendem Hauptdelikt) hob der BGH auch diese Verurteilung auf; hier merkte der BGH aber im Rahmen der Segelanweisung zusätzlich an:

  • Eine Strafbarkeit gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB durch Zufahren auf den Sohn scheidet wegen Fehlens eines „Beinahe-Unfalls“ aus.
  • Die vorangegangene Rückwärtsfahrt, bei der sich der Sohn am Griff der Fahrzeugtür festhielt und der Angeklagte versuchte, ihn abzuschütteln, könnte dies eher erfüllen. Außerdem kommt hier ein Versuch nach § 315b Abs. 2 StGB in Betracht, wenn der Angeklagte mit bedingtem Schädigungsvorsatz gehandelt und damit auch billigend in Kauf genommen hat, dass der Sohn konkret gefährdet wurde.

Und die Einziehung?

Die Einziehungsentscheidung betreffend den Pkw, mit dem der Angeklagte das E-Bike transportiert hat, hat der BGH aufgehoben, weil die Begründung der Einziehung nicht erkennen ließ, dass sich das Landgericht bewusst war, eine Ermessensentscheidung zu treffen. Wenn die nunmehr zuständige Kammer nach Ermessensausübung zu dem Ergebnis kommen sollte, dass das Fahrzeug einzuziehen ist, hat der BGH auch hier noch eine Segelanleitung parat: Wenn es eingezogen werden sollte, ist die dadurch entstehende Vermögensbelastung ein bestimmender Strafzumessungsgrund im Sinne von § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO. Gemeint: Die Kammer möchte bitte aufschreiben, dass sie die Einziehung im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt hat, wenn sie das schon unbedingt machen möchte.

Warum solltest du die Entscheidung noch lesen?

  1. Die Entscheidung spielt auf einer breiten Klaviatur (Diebstahl, Raubdelikte, Straßenverkehrsdelikte) und wird deshalb zu einem mehrminütigen Dauerzucken beim Prüfungsamt führen.
  2. Die Abgrenzung, wann man noch durch die Folge frischer Tatbetroffenheit verfolgt wird, ermöglicht umfangreiche Argumentation, Auslegung der Norm, kurz: Hochreck.
  3. Du kannst dich mit der sauberen Tenorierung von § 250 StGB beschäftigen (schwerer Raub / besonders schwerer Raub, dazu st RSpr: BGH, Beschlüsse vom 28. Januar 2003 – 3 StR 373/02, BGHR StPO § 260 Abs. 4 Satz 1 Urteilsformel 4 ; vom 7. März 2006 – 3 StR 52/06).
  4. Du hast die Möglichkeit, dich mit den Straßenverkehrsdelikten zu beschäftigen. Die sind beliebte „Klassiker“ der Examensprüfungen.
  5. Wenn das Prüfungsamt meint, dass du zu viel Zeit für die Bearbeitung der Klausur hast, kann es aus der Entscheidung auch noch Aufgaben aus dem Einziehungsrecht ziehen – und du kennst sie dann schon.

Und sonst?

Im Referendariat musst du manches von hinten anpacken: In der praktischen Arbeit werden Akten von hinten gelesen (als erstes die letzte Verfügung aufschlagen, nicht Blatt 1!) und bei Tatbeständen interessiert plötzlich auch der hintere Teil der Norm, die Rechtsfolge. Denn die Prüfer:innen sind Praktiker:innen. Und das bedeutet: Sie denken in der Logik von „was kommt dabei raus“. Für dich bedeutet das, dass du weiterhin sauber durchprüfst, aber beim Hineinfühlen in die bzw. den Prüfer:in im Blick behältst, dass für die Adressatin bzw. den Adressaten entscheidend ist, ob ein Verbrechen begangen wurde mit einer Strafuntergrenze von fünf Jahren (§ 250 Abs. 2 StGB, die hier unter Annahme eines minder schweren Falles unterschritten werden konnte), oder „nur“ mehrere (heftige) Vergehen vorliegen.

Außerdem gilt: Probleme schaffen und so – schön und gut. Im Assessorexamen geht es aber vor allem darum, fertig zu werden. Niemand, vertrau mir, wirklich niemand, möchte eine Darstellung lesen, ob Sohnemann einen Hausfriedensbruch, eine Nötigung oder gar ein Straßenverkehrsdelikt begangen hat, als er versucht hat, Papas Fahrrad aus dem Auto zu ziehen. Leider sehe ich regelmäßig, wie Kandidat:innen mit so etwas sich selbst Zeit und der oder dem Prüfer:in die Nerven rauben. Hier gilt der Oma-Test: Wenn deine Oma dich entgeistert anschauen würde, wenn du das von dir entdeckte tolle Problem schilderst, lass es weg.

Wer neben allem oben Geschilderten auch noch § 248b Abs. 1, 2. Var. StGB sieht, den Tatbestand kurz verneint (§ 248b Abs. 1 aE StGB) und danach auf drei Zeilen (!) den Stromverbrauch des E-Bikes beleuchtet (vgl. BGHSt 14, 386), der steuert auf volle Punktzahl zu. Wer sich darin verkrampft und den eigentlichen Witz der Klausur verkennt, der tut das leider nicht.

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Beitragsautor:

Dr. Nils Godendorff

Dr. Nils Godendorff

Dr. Nils Godendorff ist vorsitzender Richter am Landgericht in Hamburg. Auf LinkedIn gibt Dr. Godendorff unter dem Hashtag #HierZucktDeinPrüfungsamt Hinweise zu examensrelevanten strafrechtlichen Entscheidungen. Die Reihe #HierZucktDeinPrüfungsamt in Kooperation mit Herrn Dr. Godendorff findest du auch bei JurCase!

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