
BGH, Beschl. v. 25.02.2025 – VI ZB 36/24 (BeckRS 2025, 5630)
Schwerpunkte: §§ 85, 233 ZPO
In Kooperation mit Alpmann Schmidt präsentieren wir die Rechtsprechung des Monats. Hierbei handelt es sich um Rechtsprechung, die dir von erfahrenen Praktiker:innen vorgestellt wird. Zusätzlich bieten dir diese Fälle die Möglichkeit, das Schreiben von Assessorklausuren zu üben. Hast du es #GEWUSST?
Fall
Die Klägerin hat fristgerecht Berufung gegen ein Urteil des Landgerichts eingelegt. Die Berufungsbegründungsfrist lief am 07.06.2024 ab. Mit Schriftsatz vom 12.06.2024 hat die Klägerin ihre Berufung begründet und zugleich einen zulässigen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gestellt.
Hierzu hat sie durch ihre Prozessbevollmächtigte ausführen und anwaltlich versichern lassen, dass die Fristenkontrolle in der Kanzlei so organisiert sei, dass die Kanzleiangestellte G vor Büroschluss noch einmal kontrolliere, ob alle Fristsachen erledigt sind; erst dann werde die Frist gelöscht. Die bis dahin stets zuverlässige Kanzleiangestellte G habe am 17.05.2024 versehentlich die am 07.06.2024 ablaufende Berufungsbegründungsfrist als erledigt vermerkt, obwohl die Berufungsbegründung nicht der zuständigen Rechtsanwältin zur abschließenden Prüfung vorgelegt und versendet worden sei. Dem Wiedereinsetzungsantrag war eine eidesstattliche Versicherung der Kanzleiangestellten G beigefügt.
Entwerfen Sie die Entscheidungsgründe des Berufungsgerichts (ohne Nebenentscheidungen).
Leitsatz
Begehrt eine Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, hat sie einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen, der ein Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt.
Entscheidungsgründe
1. Die Berufung der Klägerin war gemäß § 522 Abs. 1 S. 2 ZPO als unzulässig zu verwerfen. Die Klägerin hat die Berufung nicht innerhalb der am 07.06. 2024 ablaufenden Frist, sondern erst mit einem am 12.06.2024 bei dem Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz – und damit entgegen § 520 Abs. 2 ZPO nicht rechtzeitig – begründet.
2. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist zulässig aber unbegründet. Denn die Fristversäumung war nicht unverschuldet, §§ 233 S. 1, 85 Abs. 2 ZPO.
a) „[5] … Das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten wird der Partei zugerechnet (§ 85 Abs. 2 ZPO). Die Partei hat einen Verfahrensablauf vorzutragen und glaubhaft zu machen (§ 236 Abs. 2 S. 1 ZPO), der ein Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei ausschließt; verbleibt die Möglichkeit, dass die Einhaltung der Frist durch ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Partei versäumt worden ist, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet.“
b) „[6] So liegt es hier. Nach den zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vorgetragenen Umständen ist nicht ausgeschlossen, dass das Fristversäumnis auf einem Verschulden der klägerischen Prozessbevollmächtigten beruht. Die Klägerin hat in ihrem Wiedereinsetzungsantrag nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass die Kanzlei ihrer Prozessbevollmächtigten über eine Ausgangskontrolle verfügt, die den diesbezüglichen Anforderungen der st.Rspr. des BGH genügt.“
aa) „[7] Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Hierbei hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen.
Hierzu gehört u.a. die Anordnung des Rechtsanwalts, dass die Erledigung von fristgebundenen Schriftsätzen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders durch eine beauftragte Bürokraft überprüft wird. Eine wirksame Ausgangskontrolle hat sich dabei auch darüber Gewissheit zu verschaffen, dass die fristwahrende Handlung in einer im Fristenkalender als erledigt vermerkten Sache auch tatsächlich vorgenommen wurde. Deshalb ist die Bürokraft anzuweisen, ggf. anhand der Akten zu prüfen, ob die im Fristenkalender als erledigt gekennzeichneten Schriftsätze auch abgesandt worden sind.“
bb) „[8] Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen – wie hier – mittels des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) entsprechen nach der gefestigten Rspr. des BGH denjenigen bei der Übersendung von Schriftsätzen per Telefax. Auch hier ist es unerlässlich, den Versandvorgang zu überprüfen. Daher hat der Rechtsanwalt in seiner Kanzlei das zuständige Personal dahingehend anzuweisen, dass stets der Erhalt der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO zu kontrollieren ist.
[9] Von einer erfolgreichen Übermittlung eines Schriftsatzes per beA an das Gericht darf der Rechtsanwalt nicht ausgehen, wenn in der Eingangsbestätigung im Abschnitt ,Zusammenfassung Prüfprotokoll‘ nicht als Meldetext ,request executed‘ und unter dem Unterpunkt ,Übermittlungsstatus‘ nicht die Meldung ,erfolgreich‘ angezeigt wird. Es fällt deshalb in den Verantwortungsbereich des Rechtsanwalts, das in seiner Kanzlei für die Versendung fristwahrender Schriftsätze über das beA zuständige Personal dahingehend anzuweisen, Erhalt und Inhalt der Eingangsbestätigung nach § 130a Abs. 5 S. 2 ZPO nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs stets zu kontrollieren.“
cc) „[10] Gemessen daran hat die Klägerin in ihrem Wiedereinsetzungsantrag nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass im Büro ihrer Prozessbevollmächtigten hinreichende organisatorische Vorkehrungen getroffen worden sind, um eine effektive Ausgangskontrolle zu gewährleisten … Es fehlen jegliche Angaben dazu, wie die Kontrolle, ,ob alle Fristsachen erledigt‘ sind, nach den kanzleiinternen Anweisungen [konkret] zu erfolgen hat. Insbesondere wird nicht mitgeteilt, ob und wie organisatorisch sichergestellt wird, dass im Fristenkalender als erledigt gekennzeichnete fristgebundene Schriftsätze tatsächlich abgesandt worden und bei Gericht eingegangen sind … Die Erklärung, es werde noch einmal kontrolliert, ob ,alle Fristsachen erledigt‘ sind, impliziert nicht, dass die spezifischen, nach der Rspr. des BGH an eine wirksame Ausgangskontrolle gestellten Anforderungen erfüllt worden sind. Der Vortrag im Wiedereinsetzungsantrag war damit nicht geeignet, ein Verschulden der Prozessbevollmächtigten der Klägerin an der Nichteinhaltung der Frist zweifelsfrei auszuschließen.“
c) „[11] Da die Anforderungen, die die Rspr. an eine wirksame Ausgangskontrolle stellt, einem Rechtsanwalt bekannt sein müssen, erlaubt der Umstand, dass sich der Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin zur Organisation der Ausgangskontrolle in der Kanzlei ihrer Prozessbevollmächtigten nicht (näher) verhält, ohne Weiteres den Schluss darauf, dass entsprechende organisatorische Maßnahmen gefehlt haben. [Es handelt sich bei dem] Vortrag im Wiedereinsetzungsgesuch nicht um erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre … Vortrag ist nicht schon deshalb erkennbar unklar oder ergänzungsbedürftig, weil er – wie hier – inhaltlich nicht ausreicht, ein Verschulden auszuschließen.“
1. Die Sorgfaltspflichten des Rechtsanwalts in Bezug auf die Fristenkontrolle sind in der Rspr. des BGH im Laufe der Jahre sehr detailliert herausgearbeitet worden. Sie müssen die Rspr. gerade bei Berücksichtigung der Vielzahl von möglichen Fehlerquellen nicht auswendig lernen.
2. Die Rspr. des BGH ergeht i.d.R. zu Versäumnissen der Berufungsbegründungsfrist. Sie ist aber auch auf Wiedereinsetzungsanträge in anderen Bereichen übertragbar. Für die Examensklausur ist insbesondere die Versäumung der Einspruchsfrist gegen ein Versäumnisurteil gemäß § 339 Abs. 1 ZPO von Bedeutung.
Die Entscheidung über die Hauptsache kann dabei mit der Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag verbunden werden. Es kann aber auch isoliert entschieden werden, § 238 Abs. 1 S. 2 ZPO. In einer gerichtlichen Klausur sollte klausurtaktisch natürlich auch über die Hauptsache entschieden werden, wenn der Bearbeitervermerk allgemein den Entwurf der Entscheidung verlangt. Denn § 233 ZPO ist aus Sicht des Klausurstellers lediglich ein Zusatzproblem, mit dem eine Klausur angereichert werden kann.
Ist also der Antrag auf Wiedereinsetzung unbegründet, so sollte gemäß § 341 Abs. 1 S. 2 ZPO zugleich der Einspruch gegen das Versäumnisurteil (genau wie hier die Berufung) als unzulässig verworfen werden. Die Entscheidung ergeht dann aber nicht durch Beschluss, sondern gemäß § 341 Abs. 2 ZPO durch Urteil, das aber keiner mündlichen Verhandlung bedarf.
Ist der Antrag auf Wiedereinsetzung begründet, so können Sie mit der Prüfung fortfahren, wie immer nach einem zulässigen Einspruch (§ 342 ZPO). Die Wiedereinsetzung wird dann im Tenor der Sachentscheidung gewährt. Also zum Beispiel:
1. Der Klägerin wird hinsichtlich der Einspruchsfrist gegen das Versäumnisurteil vom … Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
2. Auf den Einspruch der Klägerin wird das Versäumnisurteil vom … aufgehoben und die Beklagte verurteilt …
3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte, mit Ausnahme der Kosten der Säumnis, die die Klägerin trägt.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar …
Diese Rechtsprechung wurde für dich von VRiLG Peter Finke aufbereitet.
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