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„Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ – Anscheinsbeweis bei einem Unfall nach Rückwärtsfahrt in einer Einbahnstraße (VI ZR 287/22)

By 8. Januar 2024No Comments
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#HierZucktDeinPrüfungsamt im Zivilrecht in Kooperation mit RiOLG Dr. Janko Büßer

Moin zusammen,
heute empfehle ich ein Urteil des VI. Zivilsenats vom 10. Oktober 2023. Es geht mal wieder um das Straßenverkehrsrecht und dabei auch um den Anscheinsbeweis.

JurCase informiert:

Das Urteil des VI. Zivilsenats vom 10. Oktober 2023 (VI ZR 287/22) findest du kostenfrei hier auf der Seite des Bundesgerichtshofs.

Was ist passiert?

Ein Unfall zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 1). Beklagte zu 2) ist deren Haftpflichtversicherung.

Die Beklagte zu 1) war in Düsseldorf auf Parkplatzsuche. In einer Einbahnstraße fand sie einen, musste dafür aber erst einmal ein Stück zurücksetzen, um dem aus der Parklücke herausfahrenden Fahrzeug Platz zu machen. Dabei kam es zum Zusammenstoß mit dem Fahrzeug des Klägers, der rückwärts aus seiner Garageneinfahrt gefahren war.

Der Kläger behauptet, er habe bereits gestanden und vorwärts weiterfahren wollen, als die Beklagte zu 1) rückwärts gefahren sei. Die Beklagten behaupten, die Beklagte zu 1) und der Kläger seien zeitgleich rückwärts gefahren.

Die Beklagte zu 2) regulierte lediglich 40 Prozent der (unstreitigen) Schadenspositionen des Klägers und geht im Übrigen von einem Mitverschulden des Klägers aus.

Der Kläger begehrt die restlichen 60 Prozent. Vom Amtsgericht hat er sie bekommen, das Landgericht hat das Urteil jedoch abgeändert und die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Klägers.

Worum geht es?

Der Schadensersatzanspruch des Klägers folgt aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG und §§ 823, 249 BGB. Die Beklagte zu 2) haftet als Haftpflichtversicherin der Beklagten zu 1) gemäß § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG mit dieser als Gesamtschuldnerin.

Entscheidend ist die Frage, ob den Kläger ein maßgeblicher Verursachungsbeitrag (bzw. ein Mitverschulden) an dem Unfall trifft (§§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 3 StVG bzw. § 254 Abs. 1 BGB), der eine Anspruchsreduzierung rechtfertigt.

Dabei geht es darum, ob der Kläger bei der Ausfahrt von seinem Grundstück gegen § 9 Abs. 5 und § 10 S. 1 StVO verstoßen hat.

Da sich der genaue Unfallhergang wohl nicht mehr ohne Weiteres feststellen lässt, kommt es vor allem darauf an, ob sich die Beklagten, die für die Anspruchskürzung beweispflichtig sind, auf einen Anscheinsbeweis (hierzu unten mehr) für einen solchen schuldhaften Verstoß berufen dürfen. Genügt es für die erforderliche Typizität, dass der Kläger rückwärts aus der Einfahrt kam, oder muss etwas anderes gelten, weil auch die Beklagte zu 1) in einer Einbahnstraße rückwärts gefahren ist?

Warum solltest du die Entscheidung noch lesen?

Du könntest neben dieser früheren auch die aktuelle Entscheidung nutzen, um dich mit den Schadensersatzansprüchen nach dem StVG vertraut zu machen oder diese zu wiederholen. Neben den dort genannten Aufsätzen gibt es einen aktuellen Beitrag von Solscheid, Der Straßenverkehrsunfall in der zivilrechtlichen Klausurbearbeitung, JA 2023, 770, 858.

Und sonst?

Der Anscheinsbeweisist eine tatsächliche Vermutung, bei der

  • nach der Lebenserfahrung
  • aus einem typischen Geschehensablauf
  • auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten

geschlossen werden kann.

Steht der typische Geschehensablauf – ggf. nach Beweisaufnahme – fest, muss derjenige, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis wirkt, diesen erschüttern. Hierfür muss er Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Verhaltens der beweispflichtigen Partei ergibt. Gelingt ihm das, gelten wieder die allgemeinen Grundsätze der Beweislast.

Im besonders praxis- und damit klausurrelevanten Straßenverkehrsrecht solltest du folgende Anscheinsbeweise kennen:

  • Kommt es zu einem Auffahrunfall, spricht der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende unaufmerksam oder zu schnell war oder zu dicht aufgefahren ist.(Ein atypischer Geschehensablauf könnte vorliegen, wenn der Unfallgegner kurz zuvor ohne zu blinken auf die Spur des Auffahrenden gewechselt war.)
  • Kommt es zu einem Zusammenstoß zwischen einem Rückwärts- und einem Vorwärtsfahrenden, spricht der erste Anschein für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden.
  • Kommt es zu einem Unfall zwischen einem Linksabbieger und einem entgegenkommenden Fahrzeug, spricht der erste Anschein für eine Vorfahrtverletzung des Abbiegenden.
  • Kommt es zu einem Unfall im Kreuzungsbereich, spricht der erste Anschein für Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen.
  • Kommt es zu einem Unfall beim Ein- und Aussteigen, spricht der erste Anschein für eine fahrlässige Sorgfaltspflichtverletzung des Ein- bzw. Aussteigenden.
  • Ist die Fahrtüchtigkeit eines Fahrers alkoholbedingt beeinträchtigt, so ist diese dem ersten Anschein nach ursächlich für einen zeitlich eng nachfolgenden Unfall, wenn davon auszugehen ist, dass ein nüchterner Fahrer die Verkehrssituation gemeistert hätte.
  • Kommt ein Fahrzeug ohne erkennbaren Grund von der Fahrbahn ab und gerät auf die Gegenfahrbahn, spricht der erste Anschein für einen schuldhaften Verstoß des Fahrers.

JurCase informiert:

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Beitragsautor:

Dr. Janko Büßer

Dr. Janko Büßer

Dr. Janko Büßer ist Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg, Dozent und Autor. In seinem LinkedIn-Newsletter präsentiert er examensrelevante BGH-Entscheidungen im Zivilrecht und vieles mehr für Studium und Referendariat. Die Reihe #HierZucktDeinPrüfungsamt in Kooperation mit Herrn Dr. Büßer findest du auch bei JurCase!

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