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Rechtsprechung des Monats Juni 2025: Heimliche Haftüberwachung und die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten

BGH, Beschl. v. 23.07.2024 – 3 StR 134/24 (BeckRS 2024, 29363)

Schwerpunkte: §§ 136a, 163a, 261 StPO

In Kooperation mit Alpmann Schmidt präsentieren wir die Rechtsprechung des Monats. Hierbei handelt es sich um Rechtsprechung, die dir von erfahrenen Praktiker:innen vorgestellt wird. Zusätzlich bieten dir diese Fälle die Möglichkeit, das Schreiben von Assessorklausuren zu üben. Hast du es #GEWUSST?

Fall

Noch vor Anklageerhebung wurden A und B zu einer Vorführung beim Haftrichter transportiert und dort gemeinsam in einer Gewahrsamszelle untergebracht. Zuvor hatte das Amtsgericht die akustische Innenraumüberwachung dieses Haftraums angeordnet. Als Grund für die gemeinsame Unterbringung teilten die Ermittlungsbeamten A wahrheitswidrig mit, alle anderen Gewahrsamszellen seien belegt. Im Rahmen der Überwachung wurde ein Gespräch aufgezeichnet, in welchem A versuchte, B zu überreden, die Verantwortung für die Tat auf sich zu nehmen und A zu entlasten. A widersprach durch seinen Verteidiger der Verwertung dieses Gesprächs in der Hauptverhandlung. Das Landgericht hat die Angaben des A als verwertbar angesehen und A zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Hat eine in zulässiger Weise erhobene Revision mit einer ordnungsgemäßen Verfahrensrüge des A Erfolg?

Leitsätze

  1. Das Rechtsstaatsprinzip, das die Idee der Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil enthält, fordert nicht nur eine faire Ausgestaltung und Anwendung des Strafverfahrensrechts. Es gestattet und verlangt auch die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann.
  2. Das Recht auf ein faires Verfahren umfasst das Recht jedes Beschuldigten auf Wahrung seiner Aussage- und Entschließungsfreiheit innerhalb des Strafverfahrens, welches in dem verfassungsrechtlich verankerten Gebot der Selbstbelastungsfreiheit („nemo tenetur se ipsum accusare“) und in den Vorschriften der §§ 136a, 163a Abs. 4 S. 2 StPO seinen Niederschlag gefunden hat.
  3. Das heimliche und täuschende, durch Ermittlungsbehörden veranlasste Ausfragen des Beschuldigten durch private oder verdeckt ermittelnde Personen kann gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen, wenn der Beschuldigte in einer vernehmungsähnlichen Situation gegen seinen Willen zu einer Selbstbelastung gedrängt wird. Dabei ist zu beachten, ob sich der Beschuldigte in Haft befindet, sich bereits auf sein Schweigerecht berufen hatte und mit welcher Intensität, insbesondere bei beharrlichem Drängen unter Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses, auf den Beschuldigten staatlich zurechenbar eingewirkt wurde.

Gutachten

Bei Prüfung eines Verstoßes gegen eine Verfahrensvorschrift ist stets zu berücksichtigen, ob die Strafprozessordnung eine Präklusionsnorm (z.B. § 16 Abs. 1 S. 2 StPO) bereithält oder aber die Rspr. den in der Hauptverhandlung verteidigten Angeklagten verpflichtet, unverzüglich gegen die Beweiserhebung Widerspruch zu erheben. Die Verteidigung soll hiernach angehalten werden, mögliche Rechtsverstöße frühzeitig anzuzeigen.

Die Revision des A hat Erfolg, wenn das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht, § 337 Abs. 1 und 2 StPO.

Indem das Tatgericht seine Überzeugung von der Täterschaft des A auf Erkenntnisse aus der akustischen Innenraumüberwachung der Haftzelle gestützt hat, könnte die Kammer gegen § 261 StPO verstoßen haben. Hiernach darf das Tatgericht seine Entscheidung zum Straf- und/oder Rechtsfolgenausspruch lediglich auf solche Beweismittel stützen, die entsprechend den Regeln der Strafprozessordnung erhoben wurden. Die mit dem Ziel der Ermittlung der Wahrheit auferlegte Amtsaufklärungspflicht des Tatgerichts (§ 244 Abs. 2 StPO) ist insoweit begrenzt, als dass die Beweisaufnahme lediglich auf taugliche und erlaubte Beweismittel zu erstrecken ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 68. Aufl. 2025, § 244 Rn. 11). Fehlerhafte Verfahrenshandlungen im Ermittlungsverfahren sind dann für die Revision von Bedeutung, wenn das Gericht unter Verkennung des entgegenstehenden Verbots der Beweiserhebung oder Beweisverwertung das bemakelte Beweismittel in die Hauptverhandlung eingeführt hat und der Verfahrensfehler dadurch fortwirkt (vgl. Kock/Neumann, AS-Skript Strafurteil und Revisionsrecht in der Assessorklausur [2025], Rn. 437).

1. Der Verteidiger des A hat der Verwertung der Erkenntnisse aus der akustischen Innenraumüberwachung widersprochen, sodass der verteidigte A mit seiner Rüge nicht präkludiert ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 100f Rn. 23).

2. Fraglich ist, ob die maßgeblichen Erkenntnisse einem Beweisverwertungsverbot unterliegen und somit von Gesetzes wegen der Erkenntnisquelle des Tatgerichts entzogen waren.

Meyer-Goßner/Schmitt § 100f Rn. 2

Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG

Beweisgewinnung durch technische Abhörgeräte (sog. akustische Innenraumüberwachung) erlaubt § 100f StPO, welcher eine Einschränkung des Persönlichkeitsschutzes des Beschuldigten im Interesse der Aufklärung schwerwiegender Straftaten erlaubt. Dabei nehmen Hafträume nicht am Schutzbereich des Art. 13 GG teil. Die Innenraumüberwachung könnte jedoch gegen das Recht des A auf ein faires Verfahren, welches aus dem Rechtsstaatsprinzip i.V.m. den Freiheitsrechten des Grundgesetzes herzuleiten ist, verstoßen.

„ … Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht … ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Forderungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde … Das Rechtsstaatsprinzip, das die Idee der Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil enthält, fordert nicht nur eine faire Ausgestaltung und Anwendung des Strafverfahrensrechts. Es gestattet und verlangt auch die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann.

Der Senat nahm auch auf die Rspr. des EGMR und die Auslegung des Art. 6 EMRK Bezug. Hiernach sind das Schweigerecht eines Beschuldigten und seine Entscheidungsfreiheit, in einem Strafverfahren auszusagen oder zu schweigen, dann verletzt, wenn die Strafverfolgungsbehörden in einem Fall, in dem sich der Beschuldigte für das Schweigen entschieden hat, eine Täuschung anwenden, um ihm ein Geständnis oder andere belastende Angaben zu entlocken, die sie in einer Vernehmung nicht erlangen konnten und die so belastende Aussage in den Prozess als Beweis einführen.

Das Recht auf ein faires Verfahren umfasst dabei das Recht jedes Angeklagten auf Wahrung seiner Aussage- und Entschließungsfreiheit innerhalb des Strafverfahrens. Es hat in dem verfassungsrechtlich verankerten Gebot der Selbstbelastungsfreiheit (,nemo tenetur se ipsum accusare‘) und in den Vorschriften der §§ 136a, 163a Abs. 4 S. 2 StPO seinen Niederschlag gefunden. Das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung bedeutet, dass im Rahmen des Strafverfahrens niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen.

… [Nach] der Rspr. des BGH kann das heimliche und täuschende, durch Ermittlungsbehörden veranlasste Ausfragen des Beschuldigten durch private oder verdeckt ermittelnde Personen gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen, obwohl hier der Schwerpunkt nicht im Zwang zur Mitwirkung des Beschuldigten, sondern in der Heimlichkeit seiner Ausforschung oder der bewussten Mitteilung eines unvollständigen Sachverhalts liegt. Entscheidend ist danach, ob der Beschuldigte in einer vernehmungsähnlichen Situation gegen seinen Willen zu einer Selbstbelastung gedrängt wird. Dabei ist zu beachten, ob sich der Beschuldigte in Haft befindet, sich bereits auf sein Schweigerecht berufen hatte und mit welcher Intensität, insbesondere bei beharrlichem Drängen unter Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses, auf den Beschuldigten staatlich zurechenbar eingewirkt wurde.“

Gemessen an diesen Maßstäben ist das Vorgehen der Ermittlungsbeamten hinzunehmen und das Recht des A auf ein faires Verfahren nicht verletzt.

„ … Maßgeblich ist, dass mit der wahrheitswidrigen Angabe der Ermittlungsbeamten, alle anderen Gewahrsamszellen seien belegt, keine Aussage darüber verbunden war, die Angeklagten könnten sich ungestört und ohne jegliche Überwachung über den Tatvorwurf austauschen. Die Mitteilung diente vielmehr lediglich dazu, die Heimlichkeit der angeordneten Überwachungsmaßnahme zu verdecken. Somit ist … durch das Vorgehen der Polizeibeamten kein schutzwürdiger Vertrauenstatbestand aufseiten des Angeklagten und des Mitangeklagten dahin geschaffen worden, sie könnten sich unüberwacht unterhalten. Ein entsprechender Erklärungswert war mit der Erläuterung zur Belegung der Hafträume nicht verbunden.“

3. Die Erkenntnisse aus der Innenraumüberwachung durften daher durch das Tatgericht verwertet werden. Ein Verstoß gegen § 261 StPO liegt nicht vor.

Ergebnis: Die Revision des A ist erfolglos und als unbegründet zu verwerfen, § 349 Abs. 2 StPO.

Diese Rechtsprechung wurde für dich von StAin Dr. Christina Lang aufbereitet.

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Beitragsautor:

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt ist ein juristischer Fachverlag, der zudem juristische Lehrgänge und Repetitorien anbietet. In Kooperation mit JurCase präsentiert Alpmann Schmidt bei uns monatlich eine Rechtsprechung des Monats. Mehr Informationen zu Alpmann Schmidt gibt es hier.

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