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Rechtsprechung des Monats August 2024: Fortsetzung des Rechtsstreits nach Anfechtung eines Prozessvergleichs

By 5. August 2024No Comments
Rechtsprechung des Monats

OLG Hamm, Urt. v. 12.04.2024 – 26 U 2/23, BeckRS 2024, 8735

Schwerpunkte: §§ 119, 123, 779 BGB

In Kooperation mit Alpmann Schmidt präsentieren wir die Rechtsprechung des Monats. Hierbei handelt es sich um examensrelevante Rechtsprechung, die dir von erfahrenen Praktiker:innen vorgestellt wird. Zusätzlich bieten dir diese Fälle die Möglichkeit, das Schreiben von Assessorklausuren zu üben.

Fall

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers des in RÜ 8/2024 geschilderten Falles beantragt, nachdem er die Anfechtung des Prozessvergleiches erklärt hat, das gerichtliche Verfahren fortzusetzen.

Er beantragt für den Kläger nunmehr,

den Beklagten zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes i.H.v. 2.000 € zu verurteilen und den ursprünglichen Rechtsstreit fortzusetzen.

Der Beklagte beantragt festzustellen,

dass der Rechtsstreit durch Vergleich vom 10.11.2023 erledigt ist.

Entwerfen Sie die Entscheidung des zuständigen Landgerichtes (Tenor und Entscheidungsgründe).

Leitsatz

Wird ein Prozessvergleich angefochten, ist auf Antrag der Partei das Verfahren fortzusetzen. Stellt sich heraus, dass der Vergleich nicht wirksam angefochten wurde und daher weiter Bestand hat, ist die Erledigung des Verfahrens durch Endurteil festzustellen.

Vorüberlegung

1.
In RÜ 8/2024 haben wir bereits herausgearbeitet, dass der Prozessvergleich eine Doppelnatur hat. Als privatrechtlicher Vertrag klärt er die bisher umstrittene materielle Rechtslage verbindlich für die Parteien, vorliegend also: Der Kläger hat gegen den Beklagten nur einen Anspruch in Höhe von 2.000 €. Weder kann der Kläger noch mehr verlangen, noch kann der Beklagte nun geltend machen, er hafte überhaupt nicht.

Der Prozessvergleich ist zugleich eine Prozesshandlung. Er beendet also, ohne dass es noch einer Klagerücknahme etc. bedarf, einen bei Gericht anhängigen Rechtsstreit. Das ist anders bei einem außergerichtlichen Vergleich. Auch mit diesem können die Parteien streitige Fragen verbindlich klären. Ein anhängiger Rechtsstreit wird durch den außergerichtlichen Vergleich allein allerdings nicht beendet. Deshalb – Achtung, anwaltliche Haftungsfalle – sollte in einem außergerichtlichen Vergleich immer auch vereinbart werden, wie ein anhängiger Rechtsstreit beendet wird. Üblich ist etwa die Vereinbarung, dass der Kläger die Klage zurücknimmt und der Beklagte keinen Kostenantrag stellt.

2.
Die Unwirksamkeit eines Vergleiches kann nur die prozessuale oder nur die materiellrechtliche Seite betreffen, das ist Frage der Auslegung im Einzelfall, ob nach dem Willen und den Interessen der Parteien der verbleibende Teil des Vergleiches isoliert Bestand haben soll.

Näher zur Behandlung des Vergleichs in der Urteilsklausur AS-Skript Die zivilgerichtliche Assessorklausur (2023), Rn. 724 ff. Tipps und Tricks für den Vergleichsschluss in Kautelarklausuren finden Sie in AS-Skript Die zivilrechtliche Anwaltsklausur (2024), Rn. 569.

Bei einer wirksamen Anfechtung ist aber in der Regel sowohl die materiellrechtliche als auch die prozessuale Wirkung des Vergleichs beseitigt. Materiellrechtlich kann also bei einer wirksamen Anfechtung der Kläger seine Nachforderung geltend machen oder der Beklagte wiederum seine Haftung vollständig abstreiten. Prozessual führt die Anfechtung des Vergleichs dazu, dass die im Vergleich enthaltene Prozessbeendigungsvereinbarung wirkungslos ist. Das Verfahren läuft dann also (wieder) und ist fortzusetzen. Der Kläger darf also keine neue Klage erheben, sondern muss bei wirksamer Anfechtung des Vergleiches die Fortsetzung des bisherigen Verfahrens beantragen.

a)
Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Wirkungen des Vergleichs (durch Anfechtung) entfallen sind, so setzt es also auf diesen Antrag das Verfahren fort und entscheidet am Ende über die Klageanträge.

b)
Ist der Vergleich weiterhin wirksam, so ist das Verfahren prozessual beendet und das Gericht darf (wie nach einer Klagerücknahme) nicht mehr in der Sache entscheiden. Zur Klarstellung muss es aber feststellen, dass das Verfahren beendet ist. Dies muss nach der Rechtsprechung des BGH in einem Endurteil erfolgen. Es handelt sich nicht um eine Anordnung des Gerichtes, sondern nur um eine (deklaratorische) Feststellung der Wirkungen des Vergleiches, der weiter Bestand hat.

Urteil

Im Namen des Volkes

Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit durch Vergleich vom 10.11.2023 erledigt ist.

Die weiteren Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung des Beklagten durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des nach dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

[Tatbestand]

Entscheidungsgründe:

I.

Der Rechtsstreit der Parteien ist durch Abschluss des Vergleichs vom 10.11. 2023 erledigt.

1. „[9]  Der Streit über die Wirksamkeit eines Prozessvergleichs ist aus verfahrensrechtlichen Gründen durch Fortsetzung des alten Verfahrens auszutragen, indem die Partei, die den Vergleich für unwirksam hält, Terminsantrag mit dieser Begründung stellt. Das Gleiche gilt für den Streit über die anfängliche materielle Unwirksamkeit des Vergleichs z.B. wegen Nichtigkeit oder Anfechtung. Bringt die Fortsetzung des alten Verfahrens das Ergebnis, dass der Vergleich wirksam ist, so ist durch Endurteil auszusprechen, dass der Rechtsstreit durch Vergleich erledigt ist.“

2. Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze war die Erledigung des Rechtsstreites festzustellen, da der Prozessvergleich wirksam ist.

Die Beweislast hat vorliegend keine Bedeutung, da der Kläger bereits seiner Darlegungslast nicht nachgekommen ist: Aus seinem Vortrag ergibt sich keine Unwirksamkeit des Vergleichs. Sein Vortrag ist also unschlüssig. Auch auf das Vorbringen des Beklagten kommt es daher nicht an.

a) „[10] Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Prozessvergleich den Rechtsstreit nicht beendet hat, trägt derjenige, der dies geltend macht, hier der Kläger.“

An dieser Stelle müssen nun die in RÜ 8/2024 geprüften Gründe für eine mögliche Unwirksamkeit des Vergleiches im Urteilsstil dargestellt werden. Zur Vermeidung von Wiederholungen haben wir hier verkürzt nur die Obersätze wiedergegeben.

b) Der Vortrag des beweisbelasteten Klägers ist bereits unschlüssig. Eine Unwirksamkeit des Vergleiches ergibt sich auf Grundlage des Vortrages des Klägers weder unter dem Gesichtspunkt des § 779 Abs. 1 BGB noch aus der erklärten Anfechtung des Vergleiches gemäß §§ 119 Abs. 1, 2, 123 Abs. 2, 142 Abs. 1 BGB.

aa) Der Vergleich ist nicht gemäß 779 Abs. 1 BGB unwirksam, denn …

bb) Der Vergleich ist auch nicht aufgrund der erklärten Anfechtung des Klägers vom 14.11.2023 von vornherein nichtig, § 142 Abs. 1 BGB. Denn es besteht kein Anfechtungsgrund für den Kläger.

(1) Der Anfechtungsgrund eines Erklärungsirrtums gemäß § 119 Abs. 1 Alt. 2 BGB besteht nicht. Denn …

(2) Auch ein Inhaltsirrtum gemäß § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB ist zu verneinen, denn …

(3) Auch ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Vergleichs gemäß § 119 Abs. 2 BGB lag nicht vor. Denn …

(4) Schließlich ist auch ein Anfechtungsgrund aus § 123 Abs. 2 Alt. 1 BGB wegen einer arglistigen Täuschung eines Dritten zu verneinen. Denn …

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 709 S. 1, 2, 708 Nr. 11, 711 ZPO.

So OLG Oldenburg, Urt. v. 25.03.1997 – 5 U 177/96, BeckRS 1997, 31031013; vgl. OLG Stuttgart NJW-RR 2000, 1035; so z.B. BGH NJW 1996, 3345

1. Im Tenor wird die Feststellung der Erledigung des Rechtsstreits ausgesprochen. Auch wenn von „Erledigung“ die Rede ist, ist damit nicht die übereinstimmende Erledigungserklärung i.S.d. § 91a ZPO oder die einseitige Erledigungserklärung gemeint, sondern einfach die tatsächliche Beendigung des Verfahrens. Man könnte also auch die Beendigung des Rechtsstreits feststellen. Allerdings spricht auch der BGH von „Erledigung“.

2. Die Kostenentscheidung sollte die „weiteren Kosten“ des Rechtsstreits erfassen. Denn da der Vergleich wirksam ist, ist auch die in ihm enthaltene Kostenvereinbarung bzw. bei Fehlen einer solchen Vereinbarung die Kostenfolge des § 98 ZPO (Kostenaufhebung) weiter wirksam. Diese umfasst alle bis zum Abschluss des Vergleichs entstandenen Kosten. Die Kostenentscheidung des Urteils erfasst also – ähnlich wie bei der Entscheidung nach Einspruch gegen ein Versäumnisurteil – nur die nach Fortsetzung des Rechtsstreits entstandenen Kosten.

3. Die vorläufige Vollstreckbarkeit ist nur für die Kostenentscheidung auszusprechen. Denn die Hauptsache ist ein Feststellungsurteil, das keinen vollstreckbaren Inhalt hat und für das daher auch keine Sicherheit festgesetzt werden muss. Für die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung gilt hier § 708 Nr. 11 ZPO, da die vollstreckbaren (Anwalts-)Kosten des Beklagten bei einem Gebührenstreitwert von 2.000 € deutlich unter 1.500 € liegen.

Diese Rechtsprechung wurde für dich von VRiLG Peter Finke aufbereitet.

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Beitragsautor:

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt ist ein juristischer Fachverlag, der zudem juristische Lehrgänge und Repetitorien anbietet. In Kooperation mit JurCase präsentiert Alpmann Schmidt bei uns monatlich eine Rechtsprechung des Monats. Mehr Informationen zu Alpmann Schmidt gibt es hier.

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