NdsOVG, Beschluss vom 12.01.2024 – 1 ME 104/23, BeckRS 2024, 582
Schwerpunkt: § 80 VwGO
In Kooperation mit Alpmann Schmidt präsentieren wir die Rechtsprechung des Monats. Hierbei handelt es sich um examensrelevante Rechtsprechung, die dir von erfahrenen Praktiker:innen vorgestellt wird. Zusätzlich bieten dir diese Fälle die Möglichkeit, das Schreiben von Assessorklausuren zu üben.
Fall
Das Bauamt erhält eine Nachbarbeschwerde. Herr Bodin nutze seine Eigentumswohnung als Ferienwohnung („Airbnb“). Das Bauamt stellt drei weitere Ferienwohnungen in dem Haus fest. Nach Anhörung untersagt es den Eigentümern am 18.03.2024 diese Nutzung, weil die nötige Baugenehmigung fehle. Nur bei Herrn Bodin ordnet das Bauamt für ihn überraschend die sofortige Vollziehung unter Verweis auf eine Nachbarbeschwerde an.
20.03.2024
An das Verwaltungsgericht
Bodin ./. Goldstadt
Ich beantrage namens und in Vollmacht des Antragstellers (ASt.),
die aufschiebende Wirkung der zugleich erhobenen Klage gegen die Nutzungsuntersagung vom 18.03.2024 wiederherzustellen.
Begründung:
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist gleichheitswidrig, weil die Verfügungen gegen die drei anderen Wohnungseigentümer nicht sofort vollziehbar sind. Die Begründung ist erkennbar vorgeschoben. Außerdem ist die Nutzungsuntersagung offensichtlich rechtswidrig, weil das Mehrfamilienhaus ganz am Rande eines allgemeinen Wohngebiets liegt. Außerdem …
Das Bauamt von Goldstadt bittet das Rechtsamt um Unterstützung im Rechtsstreit. Entwerfen Sie die Rückschrift des Rechtsamts an das Bauamt.
Leitsätze
1. Entscheidungserheblicher Zeitpunkt für das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung eines VA ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (§ 80 Abs. 5 VwGO).
2. Evtl. Fehler, die die Eilbedürftigkeit der Vollziehung betreffen, kann die Behörde noch im laufenden Gerichtsverfahren heilen.
Rückschrift
U.m.A. dem Bauamt
Ich rate, die drei anderen Nutzungsuntersagungen noch für sofort vollziehbar zu erklären. Dann wird der Eilantrag aller Voraussicht nach abgelehnt.
A.
Der Antrag ist zulässig, insb. gemäß § 80 Abs. 5 S. 1, 2. Var VwGO statthaft und der ASt. als Adressat der Verfügung gemäß § 42 Abs. 2 VwGO analog antragsbefugt. Ein Aussetzungsantrag an die Behörde ist vor der Anrufung des Gerichts nicht nötig, wie der Umkehrschluss aus § 80 Abs. 6 VwGO ergibt.
B.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist bereits (ggf. teilweise) begründet, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehung den formellen Anforderungen nicht genügt, die § 80 Abs. 3 VwGO stellt.
I. Formelle Rechtmäßigkeitsanforderungen
1. Die Erlassbehörde ist für die VzA zuständig, § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO.
2. Dass die sofortige Vollziehung für den ASt. „überraschend“, also ohne Anhörung, angeordnet wurde, führt nicht zur formellen Rechtswidrigkeit.
„[11] … Eine gesonderte Anhörung erfordert die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO nicht, sei es, weil es sich bei dieser bereits nicht um einen VA handelt, sei es, weil es selbst bei Annahme eines VA die an seine formelle Rechtmäßigkeit zu stellenden Anforderungen durch § 80 Abs. 3 VwGO abschließend geregelt sind.“
3. Das förmliche Erfordernis des § 80 Abs. 3 VwGO, das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen, ist erfüllt.
„[12] … Die Begründung muss der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung vor Augen führen und sie veranlassen, das besondere, ausnahmsweise überwiegende öffentliche Interesse an einer solchen Vollziehung aus den Umständen des Einzelfalls zu rechtfertigen. Dabei darf sie auf die formelle Ordnungsfunktion des öffentlichen Baurechts abstellen und namentlich berücksichtigen, dass der rechtstreue Bauherr gegenüber demjenigen, der ohne Genehmigung baut, nicht benachteiligt werden darf. Stets erforderlich ist aber, dass die Behörde erkennen lässt, aus welchen Gründen die Bestandskraft des Verwaltungsaktes nicht abgewartet werden soll.“
Selbst wenn die Begründung, wie der ASt. rügt, nur vorgeschoben also rechtswidrig wäre, änderte das nichts, dass der Einzelfall betrachtet worden ist.
„[12] … § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO … erfordert nicht, dass die von der Behörde gewählte Begründung der materiellen Überprüfung standhält. Unerheblich ist deshalb, ob die gegebene Begründung richtig und ein überwiegendes öffentliches Interesse am Sofortvollzug tatsächlich gegeben ist.“
II. Materielle Anforderungen
Der Antrag hat nur Erfolg, wenn das Gericht der Ansicht ist, dass das Interesse des ASt., vor Bestandskrafteintritt die Verfügung nicht befolgen zu müssen, das behördliche Vollzugsinteresse vor Bestandskrafteintritt überwiegt. Diese Abwägungsentscheidung richtet sich v.a. nach der (überschlägig/summarisch) zu prüfenden Rechtmäßigkeit der Verfügung.
1. Die Verfügung stützt sich wohl zu Recht auf die formelle Baurechtswidrigkeit. Die Nutzungsuntersagung ist wahrscheinlich rechtmäßig, denn die Änderung des Nutzungszwecks von Dauerwohnen zur vorübergehenden Übernachtungsmöglichkeit ist nach allen LBauO genehmigungsbedürftig.
2. Allerdings besteht die Gefahr, dass das Gericht einen Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 GG sieht, weil nur die gegen den ASt. gerichtete Nutzungsuntersagung sofort vollziehbar ist. Es erscheint fraglich, ob allein die (zufällige) Nachbarbeschwerde die Ungleichbehandlung rechtfertigt.
Dieser evtl. Rechtsfehler kann aber noch im laufenden Gerichtsverfahren behoben werden. Denn das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Nutzungsuntersagung muss (erst) bei gerichtlichen Entscheidung vorliegen (sog. entscheidungserheblicher Zeitpunkt).
„[14] … Für die Bewertung der Vollzugs- und Aufschubinteressen im Rahmen des Sofortvollzugs hat das Gericht auch Umstände zu berücksichtigen, die erst nach der letzten Behördenentscheidung entstanden oder bekannt geworden sind.“
Das Bauamt sollte also möglichst rasch auch die drei anderen Nutzungsuntersagungen für sofort vollziehbar erklären.
„[15] … Das Ziel, der Ordnungsfunktion des formellen Baurechts zur Durchsetzung zu verhelfen und dem sich insoweit rechtswidrig verhaltenden Bürger keinen Vorteil gegenüber dem rechtstreuen Bauherrn zu verschaffen, ist ein besonderes öffentliches Interesse, das die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertigt.“
Diese Rechtsprechung wurde für dich von VRVG Dr. Martin Stuttmann aufbereitet.
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