In dubio pro reo für den Studenten?
Früher sagte man, für ein Jurastudium muss man dringend in der Schule Latein lernen. Heute weiß ich: nein, muss man nicht. Es stimmt zwar, dass einige lateinische Begriffe verwendet werden, diese kann man jedoch einzeln lernen. Man braucht dafür keine Kenntnisse in der lateinischen Sprache. Ich habe selbst fünf Jahre aus diesem Grund in der Schule Latein gelernt und kann sagen, dass ich es im Studium nicht gebraucht habe. Die Begriffe, die man benutzt, lernt man einfach so, wie Definitionen, auswendig.
Warum benutzt man lateinische Begriffe?
Die Rechtswissenschaften haben ihren Ursprung an der Universität von Bologna (heutiges Italien). Ende des 11. Jahrhunderts wurden dort Juristen im römischen Recht ausgebildet. Das kodifizierte Recht (abstrakt definiertes Recht wie in Deutschland) hat sich weitestgehend aus dem römischen Recht entwickelt. Die Römer haben auch die lateinische Sprache maßgeblich geprägt, sodass es nur logisch ist, dass einzelne feststehende Begriffe aus dem Latein auch heute noch verwendet werden. Einige Begriffe sind wirklich so wichtig, dass man sie kennen muss. Andere nutzen längere lateinische Phrasen gerne zur Einschüchterung des Gegenübers. Vorsicht sollte man allerdings walten lassen, wenn man sich nicht ganz sicher ist bei einem Ausdruck. Lieber nutzt man die deutsche Übersetzung als eine falsche lateinische Wendung!
Latein: Die wichtigsten Begriffe
Auch ohne Latinum lassen sich die wichtigsten Begriffe lernen und anwenden. Der wahrscheinlich bekannteste Begriff im Strafrecht ist „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten. Diese Unschuldsvermutung findet ihren Ursprung in Art. 6 Abs. 2 EMRK und ist einer der zentralen Grundsätze des Strafrechts. Ein weiterer Prozessgrundsatz ist der „nemo tenetur se ipsum accusare“, der besagt, dass niemand verpflichtet ist, sich selbst anzuklagen. Bei der Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme unterscheidet man zwischen dem „animus auctoris“, dem Täterwillen und dem „animus socii“, dem Teilnehmerwillen. Der Vorsatz ist der „dolus“, meistens kombiniert wie „dolus eventualis“ (Eventualvorsatz) oder „dolus generalis“ (Generalvorsatz).
Weiterhin unterscheidet man zwischen „vis absoluta“ (willensausschließende Gewalt) und „vis compulsiva“ (willensbeugende Gewalt). Diese Unterscheidung ist wichtig bei der Abgrenzung von Raub zu räuberischer Erpressung.
Häufig hört man auch von der a.l.i.c., der „actio libera in causa“ (freie Handlung in der Ursache), die ein sehr umstrittenes Gewohnheitsrechtliches Institut im Strafrecht ist, bei welchem der Täter ein Geschehen in Gang setzt und sich dann bis zur Schuldunfähigkeit betrinkt, während er die Tat beendet. Im Strafrecht spricht man in der Kausalität von einer Bedingung, die nicht hinweggedacht werden konnte, ohne, dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele, „condicio sine qua non“– Formel.
Wenn der Bundesgerichtshof [BGH] oder das Bundesverfassungsgericht [BVerfG] ein „obiter dictum“ aussprechen, dann handelt es sich um etwas „nebenbei gesagtes“, also eine Rechtsansicht, die für das eigentliche Urteil gar nicht relevant ist. Im Polizeirecht ist ein tödlicher Schuss ein „ultima ratio“, also das letzte Mittel, was eingesetzt werden darf.
Im Zivilrecht handelt es sich bei „ius cogens“ um zwingendes Recht. Das Recht ist nicht vertraglich abdingbar und kann nicht durch Parteiwillen geändert werden. In dem §812 BGB werden verschiedenen Ansprüche auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung normiert. Dabei unterscheidet man die „condictio indebiti“ (§812 Abs. 1 S. 1 Var. 1 BGB), wo eine Leitung ohne rechtlichen Grund erlangt wurde, von der „condictio ob causam finitam“ (§812 Abs. 1 S. 2 Var. 1 BGB), bei welcher der rechtliche Grund später weggefallen ist und der „condictio ob rem“ (§812 Abs. 1 S. 2 Var. 2 BGB), wo der mit der Leistung bezweckte Erfolg nie eingetreten ist.
Im BGB sind zwar einige Vertragstypen festgelegt, aber es können auch Verträge „sui generis“geschlossen werden, die eigener Art und keinem Vertragstyp zuzuordnen sind.
Im Schuldrecht wird auch manchmal eine „invitatio ad offerendum“ ausgesprochen, also eine Einladung zur Abgabe von Angeboten, z. B. durch eine Katalogauslage. Im Zeitpunkt des Vertragsschlusses müssen die „essentialia negotii“ feststehen, also die wesentlichen Vertragspunkte. Eine falsche Bezeichnung schadet dabei allerdings nicht, wenn beide Parteien übereinstimmend dasselbe gemeint haben, „falsa demonstratio non nocet“.
Anders als im anglo-amerikanischen Recht gilt im BGB der Grundsatz: „pacta sunt servanda“, Verträge müssen eingehalten werden. Dabei wirken Verträge nur „inter partes“, also zwischen den Vertragsparteien.
Wenn man von „de lege lata“ spricht, dann bezieht man sich auf das aktuell geltende Recht. Im Gegensatz dazu ist „de lege ferenda“ das noch in Kraft tretende Recht.
Handelt jemand „contra legem“, dann handelt er gegen das Gesetz.
Generell meint „ex ante“ von vorneherein, also die Betrachtung eines Sachverhaltes aus der Perspektive bevor er sich ereignet hat. Im Gegensatz dazu meint „ex post“ die Betrachtung im Nachhinein, nachdem der Sachverhalt sich ereignet hat. „Ex nunc“ meint die Wirkung von nun an, „ex tunc“ die Wirkung von Anfang an, etwa wenn ein Kaufvertrag wirksam angefochten hat, erlischt er ex tunc, wenn ein Arbeitsvertrag gekündigt wird, erlöscht dieser hingegen ex nunc.
Wichtig ist auch, wenn ein Gesetz spezieller ist, dann ist es „lex specialis“, wie zum Beispiel das HGB für die Handelsgeschäfte zum BGB.
Fazit
Man muss kein Latinum besitzen, um das Jurastudium bewältigen zu können. Neben den oben genannten Begriffen lernt man im Studium noch eine Vielzahl weiterer Phrasen, die man an geeigneter Stelle einsetzen kann. Beliebt ist dabei auch „judex non calculat“, was so viel heißt wie „der Richter rechnet nicht“. Dies wird oft als Scherz angebracht, dass Juristen nicht so gut rechnen könnten! Ich empfehle durch das Studium hindurch eine kleine Vokabelliste mit lateinischen Ausdrücken anzulegen, um dann im richtigen Moment damit zu glänzen. Übertreiben muss man es jedoch nicht mit der Anwendung von Latein!