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Ist die „elektronische Fußfessel“ mit dem Grundgesetz vereinbar?

By 19. April 2022Oktober 23rd, 2023No Comments
Aktuelle Rechtsprechung

BVerfG mit Beschluss vom 01. Dezember 2020 (2 BvR 916/11, 2 BvR 636/12)

Im Jahr 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über die Verfassungsmäßigkeit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung – bekannt als „elektronische Fußfessel“ – zu entscheiden. Die Richter:innen in Karlsruhe kamen zu dem Ergebnis: § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO – die gesetzlichen Vorschriften der elektronischen Aufenthaltsüberwachung – sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

Zum Sachverhalt:

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied im Jahr 2009, dass eine weitere Sicherungsverwahrung konventionswidrig sei, wenn die im Zeitpunkt der Verurteilung geltende Höchstfrist von zehn Jahren abgelaufen sei. Infolgedessen war es möglich, dass Personen trotz einer negativen Rückfallprognose die Freiheit erlangten und dauerhaft polizeilich überwacht werden mussten. Als Alternative zu diesen polizeilichen Überwachungsmaßnahmen führte der Gesetzgeber im Jahr 2011 die elektronische Aufenthaltsüberwachung ein. Diese wurde als Weisung im Rahmen der Führungsaufsicht in das Gesetz eingefügt. Maßgeblich sind zwei Normen: § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO.

Im vorliegenden Verfahren ging es um zwei Männer, die beide langjährige Freiheitsstrafen verbüßt hatten. Sie wurden in die Freiheit entlassen und unterlagen polizeilichen Überwachungsmaßnahmen. Schließlich wurde stattdessen jeweils die elektronische Aufenthaltsüberwachung angeordnet, die beiden Männer erhielten also eine „elektronische Fußfessel“. Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügten sie eine Verletzung von:

  • 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde)
  • 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Allgemeines Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als informationelles Selbstbestimmungsrecht und in seiner Ausprägung als Resozialisierungsgebot)
  • 12 GG (Berufsfreiheit)
  • 11 GG (Freizügigkeit)
  • 2 Abs. 2 Satz 2 GG (Freiheit der Person)
  • 103 Abs. 2 GG (Rückwirkungsverbot)
  • dem allgemeinen Vertrauensschutzgebot und
  • 19 Abs. 1 Satz 2 GG (Zitiergebot).

Wie funktioniert die elektronische Aufenthaltsüberwachung?

Infolge der Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung, wird am Fuß der Person ein Überwachungsgerät angebracht. Es handelt sich um eine „elektronische Fußfessel“, die rund um die Uhr getragen wird. Das Justizministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern hat in einem der beiden Verfahren der Männer eine Stellungnahme zu den Rahmenbedingungen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung gegeben, wobei es die Funktionsweise eines der eingesetzten Überwachungsgeräte beschrieben hat: Das eingesetzte Gerät sei versiegelt und wiege nur einige hundert Gramm. Die Person könne mit dem Gerät duschen und schlafen. Der Aufenthaltsort der Person werde ermittelt, indem das Gerät Signale von GPS-Satelliten empfange. Hierdurch werde der Standort der Person berechnet und überprüft, ob sich die Person – sofern derartige Weisungen erteilt worden seien – in Gebots- oder Verbotszonen befinde, die in dem Gerät hinterlegt seien. Sofern die Leitung unterbrochen werde, das Gerät manipuliert werde oder eine verbotene Zone betreten werde, erfolge eine Mitteilung über Mobilfunk an die technische Überwachungszentrale. Gleichzeitig zeige das Gerät der Person derartige Verstöße an, zum Beispiel durch Vibration und eine LED-Anzeige. In der eigenen Wohnung bestehe eine sogenannte „Home-Unit“ (Heimeinheit). Sobald die Person in den Radius von 30 Metern um seine Heimeinheit gelange, werde die Ortung für die Dauer des Aufenthalts dort abgeschaltet, so dass nur noch die Information gesendet werde, dass die Person sich zuhause aufhalte, nicht jedoch wo sich die Person innerhalb der Wohnung befinde. Der Akku des Geräts habe eine Betriebsdauer von mehreren Stunden, die je nach Gerät und Hersteller variiere. In dem vorliegenden Fall habe das Gerät des einen Beschwerdeführers beispielsweise eine durchschnittliche Betriebsdauer von 22 bis 24 Stunden nach Herstellerangaben, bei zweistündigem durchgängigem Laden und einer normalen Nutzung. Die Daten würden in einer gesicherten Datenbank gespeichert und ausschließlich automatisiert verarbeitet werden. Nach zwei Monaten würden die Daten über Ereignisse gelöscht werden.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Das BVerfG entschied mit seinem Beschluss vom 01. Dezember 2020, dass die in § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12, Satz 3 StGB in Verbindung mit § 463a Abs. 4 StPO geregelte elektronischen Aufenthaltsüberwachung mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Die beiden Verfassungsbeschwerden seien zulässig, jedoch unbegründet. Die Richter:innen in Karlsruhe kamen zwar zu dem Ergebnis, dass die elektronische Aufenthaltsüberwachung mit einem intensiven Grundrechtseingriff verbunden sei. Allerdings sei dieser Grundrechtseingriff im Hinblick auf das Gewicht der Rechtsgüter, die durch diese Maßnahme geschützt würden, hinzunehmen. Im Einzelnen waren die folgenden Erwägungen ausschlaggebend für die Entscheidung:

BVerfG zur Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)

Es liege kein Eingriff in die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG vor, da die Überwachung lediglich die Feststellung ermögliche, wo sich die Person befinde. Nicht erfasst werde, die Optik, Akustik und die Art des Handelns der Person an dem Ort. Außerdem werde in der Wohnung der Person („Home-Unit“) nicht ermittelt, wo genau sich die Person aufhalte. Es erfolge lediglich eine GPS-Ortung, bei der nicht mehr als der Aufenthaltsort der Person ermittelt werde. Damit werde jedoch nicht der unantastbare Bereich privater Lebensgestaltung berührt. Auch handele es sich dabei nicht um eine „Rundumüberwachung“, so dass die Person nicht Objekt des staatlichen Handelns werde.

BVerfG zum Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)

Auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht der beiden Männer aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sei nicht verletzt. Zwar sei mit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung ein Eingriff in die Privatsphäre verbunden. Allerdings seien die Rechtsgüter, die durch die elektronische Aufenthaltsüberwachung geschützt würden, von besonderem Gewicht. Die elektronische Aufenthaltsermittlung sei daher verhältnismäßig, denn sie sei auch nur unter strengen Voraussetzungen möglich: Insbesondere sei der Adressatenkreis dieser Maßnahme eingeschränkt und es müsse die hinreichend konkrete Gefahr für weitere schwere Straftaten bestehen.

Auch liege kein Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Resozialisierungsgebot vor, denn die eigenverantwortliche Lebensgestaltung und die Wiedereingliederung sei auch mit der „elektronischen Fußfessel“ möglich. Diese lasse sich durch entsprechende Kleidung verdecken, so dass der Betroffene selbst entscheiden könne, ob und wie er die Fußfessel zeige. Damit sei mit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung jedoch keine Stigmatisierungswirkung verbunden. Zwar sei die Lebensführung durch die „elektronische Fußfessel“ beispielsweise bei der Aufnahme intimer Kontakte stärker beeinträchtigt, dieser Eingriff sei jedoch mit dem Blick auf die geschützten Rechtsgüter der elektronischen Aufenthaltsüberwachung – das Leben, die Freiheit, die körperliche Unversehrtheit und die sexuellen Selbstbestimmung Dritter – gerechtfertigt.

Auch das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgende Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei nicht verletzt. § 463a Abs.4 StPO stelle ein umfangreiches Gerüst an Regelungen für die Erhebung, Verarbeitung, Verwendung und Löschung personenbezogener Daten auf. Überdies sei – wie bereits ausgeführt – die Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung nur unter strengen Voraussetzungen möglich.

BVerfG zur Körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 S. 1 GG)

Auch sei das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht verletzt. Es seien bereits keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die elektronische Fußfessel gesundheitsschädliche oder ähnliche schmerzhafte Auswirkungen verursache.

BVerfG zur Berufsfreiheit (Art. 12 GG)

Da schon eine objektiv berufsregelnde Tendenz der Vorschriften fehle, sei auch die Berufsfreiheit nicht verletzt. Es sei kein Verbot hinsichtlich der Wahl des Berufs oder der Ausbildungsstätte mit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung verbunden und auch die Berufsausübung sei durch das Tragen der „elektronischen Fußfessel“ nicht derartig stark beeinträchtigt.

Auch im Übrigen mit grundgesetzlichen und konventionsrechtlichen Bestimmungen vereinbar

Überdies sei auch keine Verletzung des rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, der Freiheit der Person Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, der Freizügigkeit aus Art. 11 Abs. 1 GG, der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG,  des Rückwirkungsverbots aus Art. 103 Abs. 2 GG und des Zitiergebots aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG erkennbar. Konventionsrechtliche Bestimmungen seien ebenso nicht verletzt.

BVerfG sieht Nachbesserungsbedarf

Auch wenn das BVerfG in seinem Beschluss zu der Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften und der elektronischen Aufenthaltsüberwachung kam, sieht es dennoch Nachbesserungsbedarf für den Gesetzgeber:

Allerdings ist die elektronische Aufenthaltsüberwachung im Vergleich zu den anderen Maßnahmen der Führungsaufsicht besonders eingriffsintensiv. Dies begründet besondere Beobachtungs- und gegebenenfalls Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers […]. Er ist angesichts der bisher wenig aussagekräftigen Evaluation der Maßnahme verpflichtet, die spezialpräventiven Wirkungen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung empirisch zu beobachten und das gesetzliche Regelungskonzept gegebenenfalls den dabei gewonnenen Erkenntnissen anzupassen. […] Im Hinblick auf die technischen Rahmenbedingungen der elektronischen Aufenthaltsüberwachung trifft den Gesetzgeber jedoch aufgrund des schnellen technologischen Wandels ebenfalls eine Beobachtungs- und gegebenenfalls Nachbesserungspflicht […].“

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Beitragsautor:

Laureen

Laureen

Laureen war zu ihrer Zeit bei uns Diplom-Juristin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich des Strafrechts bei Nagel Schlösser Rechtsanwälte. Sie hat bei uns über verschiedene Themen berichtet, etwa zu ihrem Referendariat und vor allem zu #Gewusst: Aktuelle Rechtsprechung.

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