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Fall des Monats November 2023: Verkehrssicherungspflicht bei Müllcontainern

By 15. November 2023No Comments
Fall des Monats

LG Darmstadt, Urteil vom 23.06.2023, Az.: 19a O 23/23
(leicht abgewandelt)

Problem: Verkehrssicherungspflicht bei Müllcontainern

Einordnung: Deliktsrecht

Einleitung

Auch von Müllcontainern können Gefahren ausgehen, wenn sie auf der Straße stehengelassen werden. Fraglich ist, wer hierfür haftet.

Sachverhalt

K ist Eigentümer eines Pkw, den seine Ehefrau am 09.08.2018 ordnungsgemäß am Straßenrand abgestellt hatte. B ist Eigentümerin und Vermieterin der Immobilie X. S ist per Kontrahierungszwang das zuständige Müllentsorgungsunternehmen, das bei der Immobilie X für die Leerung der Müllcontainer durch Kontrahierungszwang verantwortlich ist. Weder K noch seine Ehefrau sind Mieter in der Immobilie X. Am 09.08.2018 wurden die zur Immobilie X gehörenden Müllcontainer durch S um 09:00 Uhr geleert, jedoch nicht in die Müllcontainergarage gebracht, sondern nach der Leerung an der Straße, nur gesichert durch die Feststellbremse, stehengelassen. Zu dieser Zeit herrschte starker Wind. Um 15:00 Uhr wurde das Fahrzeug des K durch die zur Immobilie X gehörenden Müllcontainer stark beschädigt, weil diese vom Wind in Richtung des Pkw des K verweht wurden. K verlangt wegen der Schäden an seinem Pkw von B Zahlung von 8.885,98 € Schadensersatz. B verweigert dies mit dem Hinweis, S habe in der Vergangenheit immer zuverlässig gearbeitet.
Zu Recht?

Hinweis: Im Fall bestand auf Schuldnerseite Streit zwischen zwei Beklagten, B1 und B2, wer Eigentümer der Liegenschaft war. Weil es für die Lösung nicht darauf ankommt, haben wir diesen Aspekt weggelassen und beide Beklagte zu einer Person zusammengefasst.

Leitsatz der Redaktion

Der Vermieter genügt seiner Verkehrssicherungspflicht, wenn er Sorge dafür trägt, dass Müllcontainer standsicher sind. Die Standsicherheit wird gewährleistet, wenn Pedalbremsen benutzt werden. Der Vermieter darf sich dabei grundsätzlich darauf verlassen, dass das Müllentsorgungsunternehmen auch die Pedalbremse betätigt. Nur unter besonderen Umständen ist ein Handeln darüber hinaus notwendig. Etwa bei ersichtlichem oder angekündigtem schwerem Unwetter oder wenn bekannt ist, dass die Pedalbremse nicht angezogen zu werden pflegt.

Lösung

A. Anspruch des K gegen die B auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 8.885,98 € gem. §§ 611, 280 I, 241 II BGB i. V. m. den Regeln des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter

Zwischen K und B besteht kein Vertrag. Es besteht aber ein Vertrag über die Entsorgung des Abfalls zwischen B und S. In den Schutzbereich dieses Vertrages könnte K nach den Grundsätzen des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter einbezogen sein. Diese erfordern eine Leistungsnähe des K zu B, ein Interesse des B an der Einbeziehung des K, eine Erkennbarkeit beider Punkte für B. Viertens dürfte die Einbeziehung nicht wegen fehlender Schutzwürdigkeit des K ausgeschlossen sein. Leistungsnähe liegt vor, wenn K so nah beim Gläubiger B steht, dass er mit den Gefahren der Leistung bestimmungsgemäß genauso in Kontakt gerät wie B. Hier steht K in keiner Beziehung zu B, ist als Geschädigter ein reiner Zufallsgläubiger. Folglich liegen die Voraussetzungen des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter nicht vor.
Hinweis: Das LG Darmstadt hat sich mit den Regeln des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter überhaupt gar nicht befasst, sondern lediglich geschrieben: „[21] Eine vertragliche Haftung scheidet schon deshalb aus, weil zwischen dem Kläger und den Beklagten keine vertragliche Beziehung besteht.“ Sollte der Fall in die Berufung vor das OLG Frankfurt gehen, ist aber davon auszugehen, dass der zuständige Senat ein paar Sätze zur Leistungsnähe des K schreibt.

B. Anspruch des K gegen die B auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 8.885,98 € gem. § 823 I BGB

I. Rechtsgutsverletzung

Indem das Eigentum des K verletzt wurde, liegt die Verletzung eines von § 823 I BGB geschützten Rechtsguts vor.

II. Verhalten der B

B ist Eigentümerin und Vermieterin der Liegenschaft. Aufgrund des Vermietens der Liegenschaft an Mieter entsteht der Entsorgungsbedarf, der von S befriedigt wird.

III. Haftungsbegründende Kausalität

Das Vermieten der Liegenschaft stellt nur ein Ingangsetzen eines Kausalverlaufs, mithin ein mittelbar schädigendes Verhalten dar. Deshalb muss eine Verkehrssicherungspflicht (VSP) verletzt sein, damit das Verhalten der B eine auch rechtswidrige Verletzung des Eigentums des K sein kann. Eine solche Pflicht entsteht entweder kraft Gesetzes oder durch Eröffnung einer Gefahrenquelle aus Treu und Glauben gem. § 242 BGB. Wer eine Immobilie beherrscht, wird Träger der zugehörigen Verkehrssicherungspflicht. Zu prüfen ist, ob B eine solche Pflicht verletzt hat.
Hinweis: Nach dem Beherrschungsprinzip ist der Eigentümer grundsätzlich verkehrssicherungspflichtig hinsichtlich der vom Grundstück ausgehenden Gefahren. Zu diesen gehören zunächst auch die mit der Entsorgung verbundenen Problemkreise.

[24] Regelungsinhalt der sogenannten Verkehrssicherungspflichten ist es, dritte Personen möglichst vor solchen Gefahren zu schützen, die durch die Eröffnung einer Gefahrenquelle entstehen können. Diese Pflicht begründet und beschränkt sich zugleich darin, dass der Verantwortliche Einfluss auf diese Gefahrenquelle hat. Eine solche Verkehrssicherungspflicht besteht indes nicht uneingeschränkt: es gibt keine allgemeine Pflicht andere Personen gegen jede irgendwie denkbare Gefährdung zu schützen.

Hinweis: Entscheidend ist stets die konkrete inhaltliche Bestimmung der jeweiligen VSP. Diese führt im Falle der Beherrschung der vom Eigentum ausgehenden Gefahren gleichwohl nicht zu einer Gefährdungshaftung des Eigentümers. Diese Eingrenzung sollte als prinzipielle Einschränkung der Auslegung vorangestellt werden.

[25] Die Verkehrssicherungspflicht des Eigentümers bzw. Vermieters gebietet es, ein Gebäude einschließlich seiner Außenanlagen so zu unterhalten, dass es ohne Gefährdung anderer denjenigen Witterungseinflüssen standhält, mit denen in der betreffenden Region gerechnet werden muss (…). Diese Verkehrssicherungspflicht ist aber nicht mit einer Gefährdungsoder Zufallshaftung gleichzusetzen mit der Folge, dass der Vermieter jegliche Schäden zu ersetzen hat, welche andere auf seinem Grundstück erleiden (…).

 [26] Hinsichtlich des hier in Rede stehenden Sachverhalts ist es zu verlangen, dass die Vermieterin Sorge dafür trägt, dass die Müllcontainer standsicher sind. Die Standsicherheit wird gewährleistet, wenn Pedalbremsen benutzt werden. Die Sicherung der Müllcontainer durch die Bremse grundsätzlich ausreichend. (…)

Hinweis: Das LG Darmstadt sieht die Feststellbremsen der Müllcontainer grundsätzlich als ausreichende Sicherungseinrichtung an.

[27] Da die Beklagten aber die Streitverkündete als Müllentsorgungsunternehmen beauftragt haben (welche der Beklagten den Auftrag erteilt hat, kann wie Eingangs ausgeführt, dahinstehen), durften sie auch davon ausgehen, dass dieses ordentlich arbeitet und insbesondere die Feststellbremse als einfachste Tätigkeit festzieht (…). Denn – wie (…) bereits ausgeführt – liegt die Verantwortung für die nach der Leerung auf die Straße gestellten Müllcontainer zunächst bei dem Entsorgungsunternehmen (…). Solange den Beklagten keine Hinweise bekannt sind, dass das Müllentsorgungsunternehmen nicht fachgerecht arbeitet (…), gab es für sie keinen Anlass zum Handeln. Derartige Anhaltspunkt sind nicht vorgetragen.

Wichtig: Die VSP entsteht zunächst beim Eigentümer. Weil es sich um eine nur projekt- und aufgabenbezogene Pflicht handelt, ist sie übertragbar. Indem S diese faktisch übernommen hat, wurde S Träger der Pflicht. Bei B verbleibt eine Auswahl-, sowie eine Überwachungspflicht, deren Inhalt im Einzelfall zu bestimmen ist. Das LG Darmstadt folgt hier diesem „Drehbuch“, ohne die „Regieanweisungen“ zu verschriftlichen.

[28] Es gibt auch keine Anhaltspunkte für ein eventuelles Auswahl- oder Überwachungsverschulden der Beklagten im Hinblick auf das beauftragte Müllentsorgungsunternehmen. Daraus könnte sich ein Schadensersatzanspruch ergeben, wenn die Beklagte nicht ein Unternehmen das sorgfältig arbeitet, ausgewählt hat oder sich bei der Überwachung dieses Unternehmens einen Pflichtenverstoß zurechnen lassen müsste. Da unbestritten ein Anschlusszwang hinsichtlich des Müllentsorgungsunternehmens bestand, scheidet ein Auswahlverschulden von vornherein aus. Für ein Überwachungsverschulden ist nichts vorgetragen.

Hinweise:
Eine Verletzung einer Auswahlpflicht kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil hier Kontrahierungszwang bestand.
Für eine Verletzung einer Überwachungspflicht müssen Anhaltspunkte gesucht, gefunden und entsprechend bewertet werden.

[29] Auch aus dem Umstand, dass die Müllcontainer bis zum Zeitpunkt des (streitigen) Vorfalls nicht in ihre Garagen zurückverbracht wurden, kann keine Pflichtverletzung gefolgert werden. Eine Verpflichtung, die geleerte Tonne sofort wieder auf ihr Grundstück zu verbringen, besteht nicht (…). Ausreichend ist es, wenn die Tonne im Laufe des Leerungstages wieder zurückgestellt wird. (…). Dass die Tonnen demnach um 15:00 Uhr noch nicht zurückgestellt waren, stellt keine Pflichtverletzung dar.

Wichtig: Tonnen dürfen nach der Leerung stehen bleiben. Es genügt, wenn sie im Laufe des Leerungstages zurückgestellt werden. Dies folgt schon daraus, dass sich ein genauer Leerungstermin selten vorhersagen lässt und es Eigentümern nicht zuzumuten ist, sich stundenlang in Bereitschaft zu halten.

[30] Etwas anderes könnte sich freilich daraus ergeben, dass besondere Umstände ein vom Regelfall abweichendes Verhalten gebieten würden. Das könnte etwa daraus folgen, dass ein besonders schweres Unwetter angekündigt oder als sehr wahrscheinlich zu erwarten ist, bei dem davon ausgegangen werden muss, dass die Müllcontainer ohne eine über die Feststellbremse hinausgehende Sicherung Schäden verursachen würden (…). Allerdings kann dahinstehen, wen diese weitere Pflicht treffen würde (in Betracht kommt sowohl der Eigentümer / Vermieter als auch das Müllentsorgungsunternehmen). Denn es ist von dem Kläger schon nichts Konkretes zu einem derartigen Unwetter vorgetragen. Der Vortrag des Klägers erschöpft sich in der ersichtlich unkonkreten Behauptung, es sei den ganzen Tag über „sehr stürmisch“ gewesen bzw. es habe „sehr starken Wind“ gegeben. Was das konkret heißt, wie die Verantwortlichen von dem Wetter erfahren haben müssen oder wann sie hätten handeln sollen, teilt der Kläger hingegen nicht mit. Es hätte auch Vortrags dazu bedurft, dass die Feststellbremse angesichts des Wetters nicht ausreichend war. Das Amtsgericht Lichtenfels (…) hatte in einem ähnlich gelagerten Fall eine Haftung bei einem Gewitter mit Winden mit einer Geschwindigkeit von 75 Km/h verneint. Der Vortrag des Klägers ist in der Klageschrift indes eher dahin zu verstehen, dass er davon ausging, die Feststellbremse sei überhaupt nicht betätigt worden und die Container daher verweht. Damit aber brauchten die Beklagten wie oben ausgeführt nicht zu rechnen.

Gemeint ist: Bei einem schweren Unwetter wäre es B zuzumuten, sich nach dem genauen Leerungszeitpunkt zu erkundigen, um die Container sofort von der Straße weg in die Garage zu verbringen. Hier hat K aber weder etwas zu einem schweren Unwetter noch dazu vorgetragen, dass die Feststellbremse nicht genügte, um Sicherheit herzustellen – auch deshalb verlor er den Prozess.

C. Anspruch des K gegen die B auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 8.885,98 € gem. § 831 I BGB

Indem B, wie bereits festgestellt wurde, weder ein Auswahl- noch ein Überwachungsverschulden trifft, kann dahinstehen, ob S Verrichtungsgehilfe des B im Sinne des § 831 I 1 BGB ist und ob S eine unerlaubte Handlung begangen hat. In jedem Fall liegt eine Exkulpation gem. § 831 I 2 BGB vor. Folglich haftet B nicht gem. § 831 I BGB auf Schadensersatz.

D. Ergebnis

K hat gegen B keinen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 8.885,98 €.

Fazit

Wer eine Liegenschaft beherrscht, haftet grundsätzlich für die von ihr ausgehenden Gefahren. Diese Verkehrssicherungspflicht ist keine Gefährdungs- oder Zufallshaftung. Eine aufgabenbezogene Pflicht kann durch faktische Übernahme auf das Entsorgungsunternehmen übergehen. Beim Eigentümer verbleibt die Pflicht, dieses sorgfältig auszuwählen und zu überwachen.

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Beitragsautor:

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