Problem: Tateinheit bei Alternativvorsatz
Einordnung: Strafrecht AT I/Tatbestand
BGH, Urteil vom 14.01.2021 4 StR 95/20
EINLEITUNG
Der BGH prüft die Strafbarkeit eines mit Alternativvorsatz ausgeführten Angriffs mit dem Ergebnis, dass hier zwei Vorsatzdelikte nebeneinander verwirklicht sein können.
SACHVERHALT
Der Angeklagte A schlug mit einem Hammer in Richtung der Nebenklägerin N und ihres unmittelbar hinter ihr stehenden Bruders B. Dabei hielt er es für möglich, dass der Hammer eine der beiden Personen treffen und verletzen könnte. Dies nahm er billigend in Kauf. N und B konnten den Schlag so weit ablenken, dass der Hammer den B leicht am Kopf traf.
Strafbarkeit des A?
[Anm.: Es ist davon auszugehen, dass A nicht mit Tötungsvorsatz handelte.]
LEITSATZ
Zur rechtlichen Bewertung eines Alternativvorsatzes, wenn sich dieser auf die Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter verschiedener Rechtsgutsträger bezieht.
PRÜFUNGSSCHEMA:
GEFÄHRLICHE KÖRPERVERLETZUNG, §§ 223 I, 224 I StGB
A. Tatbestand
I. Grunddelikt: § 223 I StGB
-
- Körperliche Misshandlung, Gesundheitsschädigung
- Vorsatz bzgl. 1.
II. Qualifikation: § 224 I StGB
-
- Qualifizierender Umstand gem. § 224 I Nr. 1 – 5 StGB
- Vorsatz bzgl. 2.
B. Rechtswidrigkeit und Schuld
LÖSUNG
A. Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 StGB z.N.d. B
Durch den Schlag mit dem Hammer könnte A sich wegen gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 StGB zum Nachteil des B strafbar gemacht haben.
I. Tatbestand
- Grunddelikt: § 223 I StGB
a) Körperliche Misshandlung, Gesundheitsschädigung
Dass der Hammer den B am Kopf traf, stellt eine körperliche Misshandlung Auch ist davon auszugehen, dass eine Gesundheitsschädigung in Form von Prellungen oder Abschürfungen vorliegt.
Körperliche Misshandlung ist jede üble, unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich beeinträchtigt.
Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines nicht nur unerheblichen pathologischen Zustandes.
b) Vorsatz bzgl. a)
Diese Folgen hatte A für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, er handelte also mit Eventualvorsatz bzgl. der Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale.
- Qualifikation: § 224 I StGB
a) § 224 Nr. 2 StGB
Ein Hammer, mit dem gegen den Kopf des Opfers geschlagen wird, stellt zwar keine Waffe aber ein gefährliches Werkzeug dar, sodass die Qualifikation gem. § 224 I Nr. 2 StGB vorliegt.
b) § 224 I Nr. 5 StGB
Bei einem Schlag mit einem harten schweren Gegenstand wie einem Hammer gegen den Kopf des Opfers hängt es lediglich vom Zufall ab, ob dieses getötet wird, sodass auch eine das Leben gefährdende Behandlung i.S.v. § 224 I Nr. 5 StGB gegeben ist.
Waffe ist jeder Gegenstand, der dazu bestimmt ist, Menschen zu verletzen.
Gefährliches Werkzeug ist jeder Gegenstand der aufgrund seiner Beschaffenheit und der konkreten Anwendung geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen.
c) Vorsatz bzgl. a) und b)
der qualifizierenden Umstände hatte A Vorsatz.
II. Rechtswidrigkeit und Schuld
A handelte rechtswidrig und schuldhaft.
III. Ergebnis
A ist strafbar gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 StGB.
B. Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5, 22, 23 I StGB z.N.d. N
Durch den Schlag könnte A sich auch wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5, 22, 23 I StGB zum Nachteil der N strafbar gemacht haben.
I. Vorprüfung
N wurde nicht verletzt, sodass das Delikt nicht vollendet ist. Die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich aus § 224 II StGB.
II. Tatentschluss
A müsste Tatentschluss zur Begehung einer gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil der N haben. Er hatte es billigend in Kauf genommen, N durch den Schlag mit dem Hammer zu verletzen, was eine gefährliche Körperverletzung i.S.v. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5 StGB dargestellt hätte (s.o.). Fraglich ist jedoch, ob es zulässig ist, einen entsprechenden Tatentschluss (also Vorsatz) anzunehmen, obwohl bereits ein Vorsatz des A zur Verletzung des B angenommen wurde.
Tatentschluss ist der Wille zur Verwirklichung der objektiven Tatumstände bei gleichzeitigem Vorliegen eventuell erforderlicher besonderer subjektiver Tatbestandsmerkmale.
„[5] Die Tatsache, dass der Angeklagte den Eintritt eines Körperverletzungserfolges bei nur einem der beiden Tatopfer für möglich hielt, nicht aber einen Erfolgseintritt bei beiden (sog. Alternativvorsatz), steht der Annahme von zwei bedingten Körperverletzungsvorsätzen nicht entgegen.
[6] aa) Der Bundesgerichtshof hat – soweit ersichtlich – noch keine Entscheidung dazu getroffen, wie miteinander verbundene, auf sich gegenseitig ausschließende Erfolge bei verschiedenen Opfern gerichtete bedingte Vorsätze zu behandeln sind. Das Urteil des Senats vom 15. September 2005 […] betrifft eine Konstellation, in welcher der Angeklagte den Tod eines der beiden Opfer anstrebte und daneben den Tod des zweiten Opfers billigend in Kauf nahm. Beide bedingten Vorsätze schlossen sich dabei also nicht gegenseitig aus, sondern konnten nach der Vorstellung des Täters nebeneinander verwirklicht werden (sog. kumulativer Vorsatz). […]
BGH, Urteil vom 15.09.2005,
4 StR 216/05, NStZ-RR 2006, 168
[7] Für das Verhältnis zwischen einem mit bedingtem Tötungsvorsatz begangenen Totschlagsversuch und einer für den Fall des Überlebens alternativ zumindest für möglich gehaltenen schweren Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1, Abs. 2 StGB zum Nachteil desselben Opfers ist allerdings bereits anerkannt, dass sich nach der Vorstellung des Täters gegenseitig ausschließende Folgen (sofortiger Tod oder Weiterleben mit schweren Folgen) Gegenstand von zwei nebeneinander bestehenden Vorsätzen sein können.
BGH, Beschluss vom 03.07.2012, 4 StR 126/12; Urteil vom 25.06.2002, 5 StR 103/02
[8] In der Literatur wird teilweise die Auffassung vertreten, dass in den Fällen des sogenannten Alternativvorsatzes nur einer der beiden Vorsätze zurechenbar sein könne, weil es der Täter ausgeschlossen habe, mehr als eines der in Rede stehenden Delikte zu vollenden. Demgegenüber nimmt die Literatur mehrheitlich eine handlungseinheitliche Verwirklichung beider Vorsätze an und will sich hieraus ergebende Wertungsprobleme erst – mit unterschiedlichen Ergebnissen – auf der Konkurrenzebene lösen.
LK, StGB, § 15 Rn 136; Joerden, JZ 1990, 298
Schönke/Schröder, StGB, § 15 Rn 91; SK, StGB, § 16 Rn 58 ff.; Rengier, AT, § 14 Rn 52
[9] bb) Der Senat geht entsprechend der überwiegenden Meinung in der Literatur davon aus, dass der Angeklagte mit zwei – ihm zurechenbaren – bedingten Körperverletzungsvorsätzen gehandelt hat.
[10] Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, weiter, dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung zumindest abfindet.
BGH, Urteil vom 20.09.2012,
3 StR 140/12, NStZ-RR 2013, 75
[11] Diese Voraussetzungen sind nach den Feststellungen sowohl hinsichtlich der Nebenklägerin als auch in Bezug auf ihren Bruder erfüllt. Für die Annahme von nur einem zurechenbaren Vorsatz besteht kein Grund. Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt nicht vor, denn auf sich gegenseitig ausschließende Erfolge gerichtete Vorsätze können miteinander verbunden werden, solange sie – wie hier – nicht den sicheren Eintritt eines der Erfolge zum Gegenstand haben.“
v. Heintschel-Heinegg, JA 2009, 149
A hat also mit Tatentschluss zur Begehung einer gefährlichen Körperverletzung auch zum Nachteil der N gehandelt.
III. Unmittelbares Ansetzen, § 22 StGB
Durch die Ausführung des Schlages hat A auch i.S.v. § 22 StGB zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar angesetzt.
Unmittelbares Ansetzen ist gegeben, wenn der Täter die Schwelle zum „jetzt geht es los“ überschreitet, was der Fall ist, wenn er Handlungen vornimmt, die in die Tatbestandsverwirklichung unmittelbar einmünden sollen und deshalb das geschützte Rechtsgut aus Sicht des Täters bereits konkret gefährdet ist.
IV. Rechtswidrigkeit und Schuld
A handelte rechtswidrig und schuldhaft.
V. Kein Rücktritt gem. § 24 StGB
Anhaltspunkte für einen strafbefreienden Rücktritt gem. § 24 StGB sind nicht ersichtlich.
VI. Ergebnis
A ist strafbar gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5, 22, 23 I StGB.
C. Konkurrenzen
„[12] […] Jedenfalls dann, wenn sich alternative Vorsätze des Täters – wie hier – auf höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Rechtsgutsträger richten und einer der erwarteten Erfolge eintritt, stehen das vollendete und das versuchte Delikt zueinander in Tateinheit (§ 52 StGB).
[13] aa) In Rechtsprechung und Lehre ist anerkannt, dass von einer sogenannten gleichartigen Tateinheit (Idealkonkurrenz) auszugehen ist, wenn der Täter durch eine Handlung denselben Tatbestand mehrfach verwirklicht und dabei höchstpersönliche Rechtsgüter verschiedener Rechtsgutsträger betroffen sind. Andernfalls wäre eine erschöpfende Erfassung des verwirklichten Tatunrechts zum Nachteil aller Geschädigten im Schuldspruch nicht sichergestellt und würde dessen Klarstellungsfunktion nicht vollständig Rechnung getragen.
BGH, Beschluss vom 08.11.2011, 3 StR 316/11, NStZ 2012, 389
BGH, Beschluss vom 27.11.2018, 2 StR 481/17, NStZ 2018, 708; Schönke/Schröder, StGB, § 15 Rn 91
[14] bb) Daran gemessen ist auch im vorliegenden Fall von (gleichartiger) Tateinheit auszugehen. Denn der Angeklagte hat sowohl die zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Nebenklägerin als auch die zum Schutz der körperlichen Integrität ihres Bruders aufgestellten Verhaltensnormen verletzt und in Bezug auf beide ein Delikt verwirklicht bzw. unmittelbar dazu angesetzt. Obgleich er davon ausgegangen ist, dass allenfalls ein tatbestandsmäßiger Erfolg eintreten wird, hat er damit eine größere Tatschuld auf sich geladen, als derjenige, der nur einen einfachen Vorsatz aufweist. Dieser Schuldgehalt wird erst mit der tateinheitlichen Verurteilung auch wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil der Nebenklägerin neben der Verurteilung wegen vollendeter gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil ihres Bruders erschöpfend abgebildet und klargestellt.“
A ist also strafbar gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2, 5; 223 I, 224 I Nr. 2, 5, 22, 23 I; 52 StGB.
FAZIT
Eine klassische Konstellation, in der es in einer Examensaufgabe zunächst einmal gilt, sich nicht auf die falsche Fährte locken zu lassen, dass hier ein Fehlgehen der Tat (aberratio ictus) vorliege. Denn auch wenn N wohl das primäre Ziel des Täters gewesen sein mag, so hatte er doch auch die Verletzung des B in seinen Vorsatz mitaufgenommen, sodass der Eintritt dieses Erfolges kein „Fehlgehen“ darstellt.
Wie der BGH selber ausführt, wird die Konstellation des Alternativvorsatzes (dolus alternativus) in der Literatur durchaus anders gelöst, jedoch erscheinen die Argumente des BGH für die Annahme von zwei Vorsatzdelikten in Tateinheit letztlich überzeugend.
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