Bundesgerichtshof (BGH), Beschluss vom 17.04.2024, Az.: 1 StR 403/23
Problem: Rücktritt nach Erkennen eines error in persona
Einordnung: Strafrecht AT I / Versuch
In Kooperation mit Jura Intensiv präsentieren wir dir den #examensrelevanten Fall des Monats. Dieser bietet einen Sachverhalt mit Fragestellung, sodass der Fall eigenständig gelöst werden kann. Die hier präsentierten Lösungen enthalten in aller Regel auch weiterführende Hinweise für eine optimale Examensvorbereitung.
Einleitung
Der BGH prüft, ob der Täter noch vom Versuch (hier: dem Versuch einer Erfolgsqualifikation) zurücktreten kann, wenn er erkannt hat, dass sich seine Tat infolge einer Verwechselung (error in persona) gegen die falsche Person gerichtet hatte.
Sachverhalt
Der Angeklagte A, Facharzt für Allgemeinchirurgie, sterilisierte am 10.03.2016 im Rahmen einer Operation zur Behebung eines beidseitigen Leistenbruchs den minderjährigen und einwilligungsunfähigen 17-jährigen P. A ging aufgrund einer Personenverwechslung davon aus, den ebenfalls minderjährigen und einwilligungsunfähigen G zu operieren, bei dem zeitgleich zur Behandlung des Leistenbruchs eine Sterilisation durchgeführt werden sollte. Unmittelbar im Anschluss an den Eingriff erkannte A seinen Irrtum. Er legte die Personenverwechslung noch am selben Tag gegenüber der Mutter des P offen und vermittelte sie am Folgetag an einen Spezialisten für Refertilisierung. Zwei Wochen später konnte die Zeugungsfähigkeit des P durch eine Operation wiederhergestellt werden. Die Eltern des G, die der Sterilisation ihres Sohnes zugestimmt hatten, waren u.a. für den Aufgabenkreis „Gesundheitsfürsorge“ als Betreuer ihres Sohnes bestellt. Ein Sterilisationsbetreuer (§ 1817 II BGB) war nicht bestellt worden; die erforderliche Genehmigung des Betreuungsgerichts für die Sterilisation (§ 1830 II BGB) lag nicht vor, was A bekannt war.
Hat A sich durch die Operation nach dem StGB strafbar gemacht?
Leitsätze der Redaktion:
- Die in § 226 I StGB bezeichneten schweren Folgen müssen von längerer Dauer sein; diese „Langwierigkeit“ der schweren Folge ist Teil des tatbestandlichen Erfolgs; fehlt es hieran, ist der Tatbestand nicht vollendet.
- „Tat“ im Sinne von § 24 I StGB ist die Tat im sachlich-rechtlichen Sinne, also die in den gesetzlichen Straftatbeständen umschriebene tatbestandsmäßige Handlung und der tatbestandsmäßige Erfolg; ein Rücktritt gemäß § 24 I StGB setzt daher nur ein Abstandnehmen von bzw. eine Verhinderung der Vollendung dieses gesetzlichen Tatbestands voraus; die vorherige Erreichung außertatbestandlicher Ziele ist unschädlich; dies gilt auch in den Fällen eines „sinnlos gewordenen Tatplans“.
- Deshalb ist ein Rücktritt auch dann möglich, wenn sich die Tat des Täters ursprünglich als Folge eines error in persona gegen ein falsches Opfer gerichtet und der Täter vor seinen Rücktrittsbemühungen den Irrtum erkannt hat; die Identität des Opfers betrifft nämlich lediglich außertatbestandliche Ziele des Täters.
- Ein Rücktritt vom beendeten Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts ist grundsätzlich auch dadurch möglich, dass der Täter das Eintreten der schweren Folge verhindert, nachdem er zunächst alles Erforderliche für den Erfolgseintritt getan hatte.
- Verschleierungshandlungen des Täters schließen einen Rücktritt nicht aus, es sei denn, die Verschleierung ist der alleinige Zweck und die Vollendungsverhinderung ist lediglich unbeabsichtigte und zufällige Folge dieser Verschleierungsbemühungen.
JuraIntensiv informiert:
PRÜFUNGSSCHEMA: RÜCKTRITT VOM VERSUCH GEM. § 24 I StGB
A. Kein Fehlschlag des Versuchs
B. Rücktrittsvoraussetzungen
I. Unbeendeter oder beendeter Versuch
II. Beim unbeendeten Versuch: Freiwilliges Aufgeben der weiteren Tatausführung, § 24 I 1 1. Fall StGB
III. Beim beendeten Versuch
1. Freiwilliges Verhindern der Vollendung, § 24 I 1 2. Fall StGB oder
2. Freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, die Vollendung zu verhindern, § 24 I 2 StGB
Lösung
A. Strafbarkeit gem. § 223 I StGB zum Nachteil des P
Durch die Operation könnte A sich wegen Körperverletzung gem. § 223 I StGB zum Nachteil des P strafbar gemacht haben.
I. Tatbestand
1. Körperliche Misshandlung und/oder Gesundheitsschädigung
Durch die Operation, insbesondere durch die hierbei vorgenommene Sterilisation, hat A den P körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt.
2. Vorsatz
A müsste mit Vorsatz zur Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale gehandelt haben.
Wenn A sich eine medizinisch indizierte Sterilisation vorgestellt hätte, dann hätte er zumindest nach derjenigen Meinung, die in solchen Fällen den Tatbestand des § 223 I StGB verneint (s.o.), keinen Vorsatz. Allerdings wusste A um das Fehlen der medizinischen Indikation, sodass er Vorsatz zur Begehung einer Körperverletzung hatte.
Zwar wollte A eigentlich nicht P sondern G operieren, war aber im Tatzeitpunkt davon ausgegangen, dass P der G sei. Dieser Irrtum über die Identität des Opfers (error in persona) ist aufgrund der Gleichwertigkeit der Tatobjekte – P und G sind beides Menschen – unbeachtlich; nach herrschender Meinung hat sich der Vorsatz des A auf P konkretisiert.
II. Rechtswidrigkeit
Eine Rechtfertigung des A ist nicht ersichtlich. Insbesondere haben weder P noch dessen gesetzliche Vertreter in seine Sterilisation eingewilligt. A hat also rechtswidrig gehandelt.
III. Schuld
A ist davon ausgegangen, dass eine Einwilligungserklärung der gesetzlichen Vertreter seines Patienten vorliegen würde. Er hat sich also irrig vorgestellt, gerechtfertigt zu sein.
Sollte A geglaubt haben, die Sterilisation des Patienten auch ohne betreuungsgerichtliche Genehmigung vornehmen zu dürfen, so stellt dies eine Überdehnung der Grenzen des anerkannten Rechtfertigungsgrundes der Einwilligung dar, also einen Erlaubnisirrtum. Dessen Rechtsfolgen richten sich nach § 17 StGB. A hätte vor Durchführung der Sterilisation einen anwaltlichen Rat dazu einholen können, ob die Einwilligung durch die Eltern für eine Rechtfertigung ausreicht. Dann wäre ihm mitgeteilt worden, dass dies nicht der Fall ist. Der Irrtum war also vermeidbar. Somit lässt der Erlaubnisirrtum des A seine Strafbarkeit nicht entfallen, sondern eröffnet nur gem. §§ 17 S. 2, 49 I StGB die Möglichkeit der Strafmilderung.
A hat also schuldhaft gehandelt.
IV. Strafantrag, § 230 StGB
Der gem. § 230 StGB grds. erforderliche Strafantrag ist gestellt.
V. Ergebnis
A ist strafbar gem. § 223 I StGB zum Nachteil des P.
B. Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 22, 23 I StGB zum Nachteil des G
Eine Strafbarkeit des A gem. §§ 223 I, 22, 23 I StGB wegen versuchter Körperverletzung zum Nachteil des G scheidet aus. Wie bereits festgestellt hat sich als Folge des error in persona des A dessen Körperverletzungsvorsatz auf P konkretisiert. Es würde deshalb eine unzulässige Doppelverwertung des Vorsatzes des A darstellen. neben der vollendeten Körperverletzung zum Nachteil des P noch einen entsprechenden Versuch zum Nachteil des G anzunehmen.
C. Strafbarkeit gem. § 226 I Nr. 1, II StGB zum Nachteil des P
A könnte sich durch die Operation wegen schwerer Körperverletzung gem. § 226 I Nr. 1, II StGB zum Nachteil des P strafbar gemacht haben.
I. Tatbestand
1. Grunddelikt: § 223 I StGB
Den Tatbestand des Grunddeliktes, der Körperverletzung gem. § 223 I StGB zum Nachteil des P, hat A erfüllt (s.o.).
2. Qualifikation: § 226 I Nr. 1, II StGB
Es müsste weiterhin eine schwere Folge i.S.v. § 226 I StGB eingetreten sein. In Betracht kommt hier der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit, § 226 I Nr. 1 StGB.
„[8] […] Die in § 226 Abs. 1 StGB bezeichneten schweren Folgen müssen von längerer Dauer sein. Diese ‚Langwierigkeit‘ der schweren Folge ist Teil des tatbestandlichen Erfolgs; fehlt es hieran, ist der Tatbestand nicht vollendet. ‚Längere Dauer‘ ist dabei nicht mit Unheilbarkeit gleichzusetzen. Es genügt, wenn die Behebung bzw. nachhaltige Verbesserung des – länger währenden – krankhaften Zustands nicht abgesehen werden kann. Andererseits kommt es dem Täter zugute, wenn die zumindest teilweise Wiederherstellung konkret wahrscheinlich ist. Für die Beurteilung ist im Grundsatz der Zeitpunkt des Urteils maßgebend.
Diese Maßstäbe zugrundegelegt, fehlt es an dem Eintritt der schweren Folge, weil die Zeugungsfähigkeit des Geschädigten P nach den Urteilsfeststellungen zwei Wochen nach der Vasektomie […] wiederhergestellt werden konnte.“
(vgl. MüKo, StGB, § 226 Rn. 13; BGH, Urteil vom 11.05.2023, 4 StR 421/22, NStZ-RR 2023, 247; Urteil vom 23.10.2019, 5 StR 677/18, StV 2020, 83; Urteil vom 07.02.2017, 5 StR 483/16, NJW 2017, 1763.)
Da keine schwere Folge eingetreten ist, hat A den Qualifikationstatbestand des § 226 I StGB nicht verwirklicht.
II. Ergebnis
A ist nicht strafbar gem. § 226 I Nr. 1, II StGB.
D. Strafbarkeit gem. §§ 226 I Nr. 1, II, 22, 23 I StGB zum Nachteil des P
A könnte sich allerdings wegen versuchter schwerer Körperverletzung gem. §§ 226 I Nr. 1, II, 22, 23 I StGB zum Nachteil des P strafbar gemacht haben.
I. Vorprüfung
Bei A ist keine Strafbarkeit wegen vollendeter schwerer Körperverletzung gegeben (s.o.). § 226 II StGB stellt ein Verbrechen dar, §§ 226 II, 12 I StGB, sodass sich die Versuchsstrafbarkeit aus § 23 I StGB ergibt.
II. Tatentschluss
A hatte Vorsatz, also Tatentschluss, zur Begehung einer Körperverletzung gem. § 223 I StGB (s.o.). Auch im Rahmen des Tatentschluss stellt die Tatsache, dass A seine Tat eigentlich nicht gegen P, sondern gegen G richten wollte, einen unbeachtlichen error in persona dar.
2. Bzgl. Qualifikation: § 226 I Nr. 1, II StGB
A könnte auch Tatentschluss zur Verwirklichung des Qualifikationstatbestands des § 226 I Nr. 1, II StGB gehabt haben.
a) Absicht zur Herbeiführung einer schweren Folge gem. § 226 I Nr. 1 StGB
A müsste sich vorgestellt haben, eine schwere Folge des § 226 I StGB herbeizuführen. Für die weitere Qualifikation gem. § 226 II StGB müsste A diesbezüglich absichtlich oder wissentlich gehandelt haben.
A wollte sein Opfer sterilisieren, also dafür sorgen, dass dieses dauerhaft die Fortpflanzungsfähigkeit verliert, und so eine schwere Folge gem. § 226 I Nr. 1 StGB herbeiführen. Dies war auch das Ziel der Operation, sodass A mit einer entsprechenden Absicht gehandelt und so auch die Anforderungen des § 226 II StGB erfüllt hat.
b) Bzgl. Kausalität Grunddelikt – schwere Folge
A hat sich vorgestellt, dass der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit eine unmittelbare Folge der Operation darstellen würde, durch die er den Tatbestand des Grunddelikts verwirklicht. Er hat sich also vorgestellt, dass man das Grunddelikt nicht hinwegdenken könne ohne dass die schwere Folge entfiele und hatte somit Tatentschluss bzgl. der Kausalität des Grunddelikts für die schwere Folge.
c) Bzgl. deliktsspezifischen Gefahrzusammenhangs
A hatte sich vorgestellt, dass die schwere Folge Resultat einer typischen Gefahr des Erfolgs des Grunddeliktes sei, hatte also auch Tatentschluss bzgl. des für § 226 I StGB erforderlichen deliktsspezifischen Gefahrzusammenhangs.
A hatte somit Tatentschluss bzgl. der Begehung einer schweren Körperverletzung gem. § 226 I Nr. 1, II StGB.
III. Unmittelbares Ansetzen, § 22 StGB
IV. Rechtswidrigkeit und Schuld
A handelte rechtswidrig und schuldhaft (s.o.).
V. Rücktritt gem. § 24 I StGB
A könnte jedoch dadurch, dass er die Mutter des P informierte und an einen Spezialisten für Refertilisierung überwies, vom Versuch gem. § 24 I StGB strafbefreiend zurückgetreten sein.
1. Kein Fehlschlag
Ein Rücktritt wäre allerdings ausgeschlossen, wenn der Versuch des A bereits fehlgeschlagen wäre.
„[10] Der Versuch ist nicht fehlgeschlagen. Vielmehr hielt der Angeklagte die Vollendung der Tat weiterhin für möglich.“
Im vorliegenden Sachverhalt richtete sich der Versuch des A aber lediglich infolge eines error in persona gegen P (s.o.). A wollte eigentlich die schwere Folge bei G herbeiführen und hat nur infolge einer Verwechselung seine Handlung gegen P gerichtet. Allerdings hatte A vor Ausführung derjenigen Handlungen, die einen Rücktritt darstellen könnten, diesen Irrtum erkannt. Dies könnte u.U. der Annahme eines Rücktritts entgegenstehen.
„[11] (1) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ‚Tat‘ im Sinne von § 24 Abs. 1 StGB die Tat im sachlich-rechtlichen Sinne, also die in den gesetzlichen Straftatbeständen umschriebene tatbestandsmäßige Handlung und der tatbestandsmäßige Erfolg. Ein Rücktritt gemäß § 24 Abs. 1 StGB setzt daher nur ein Abstandnehmen von bzw. eine Verhinderung der Vollendung dieses gesetzlichen Tatbestands voraus. Die vorherige Erreichung außertatbestandlicher Ziele ist unschädlich. Dies gilt auch in den Fällen eines ‚sinnlos gewordenen Tatplans‘ (vgl. auch BGH, Beschluss vom 19.05.1993, GSSt 1/93, NJW 1993, 2061 und BGH, Beschluss vom 17.11.2007, 2 StR 458/07, NStZ 2008, 275). Die ‚Tat‘ im Sinne von § 24 Abs. 1 StGB, deren Rücktritt hier in Rede steht, ist mithin – entgegen den Ausführungen des Landgerichts – nicht die beabsichtigte Sterilisierung des konkreten identifizierbaren Patienten, sondern allgemeiner die vom Tatbestand des § 226 Abs. 1 Nr. 1 Alternative 4, Abs. 2 StGB umschriebene Verursachung der Zeugungsunfähigkeit einer Person. Diese ‚Tat‘ war nicht fehlgeschlagen, sondern wäre – hätte der Angeklagte den Dingen seinen Lauf gelassen – zum Nachteil des P zur Vollendung gelangt. Die Identität des Patienten betraf lediglich außertatbestandliche Motive des Angeklagten. Ob der Angeklagte von seinem Entschluss, den Patienten G zu sterilisieren, (endgültig) abgerückt ist, ist somit unerheblich.
[11] Dies wahrt auch den Opferschutz, weil für den Täter ein Anreiz geschaffen wird, die Tatvollendung nach Bemerken eines ‚error in persona‘ noch aktiv zu verhindern (vgl. zum Opferschutz beim Rücktritt: BGH, Urteil vom 20.04.2016, 2 StR 320/15, NJW 2016, 2015).
[12] (2) Auch die Literatur hält einen Rücktritt beim ‚error in persona‘ jedenfalls bei einem beendeten Versuch im Ergebnis für möglich, wenn der Täter seine Verwechslung erst nach Vornahme der Tathandlung bemerkt und sich nunmehr erfolgreich um die Rettung seines verletzten Opfers bemüht. Hiervon abweichende Literaturstimmen, die im Falle des Bemerkens eines ‚error in persona‘ durch den Täter stets einen Fehlschlag annehmen, verkennen den Tatbegriff im Sinne des § 24 StGB.“ (vgl. nur NK, StGB, § 24 Rn 24; Rengier, Strafrecht AT, § 35 Rn 24; Murmann, JuS 2021, 385 und Fischer, StGB, § 24 Rn 8; Schönke/Schröder, StGB, § 24 Rn 11; Roxin, Strafrecht AT II, § 30 Rn 94)
Ein Rücktritt des A ist also trotz Erkennens seines error in persona noch möglich.
2. Rücktrittsvoraussetzungen, § 24 I StGB
a) Unbeendeter oder beendeter Versuch
Im Rahmen der hier einschlägigen Rücktrittsvorschrift des § 24 I StGB hängen die vom Täter zu erfüllenden Rücktrittsvoraussetzungen davon ab, ob es sich um einen unbeendeten oder beendeten Versuch handelt. Beim unbeendeten Versuch findet § 24 I 1 1. Fall StGB Anwendung, beim beendeten Versuch hingegen § 24 I 1 2. Fall, 2 StGB.
getan hat. Beendet ist ein Versuch, wenn der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat bereits alles zur Herbeiführung des Erfolgs Notwendige getan hat.
„[14] Es lag ein beendeter Versuch vor, weil der Angeklagte mit dem Durchtrennen der Samenleiter des P nach seiner Vorstellung bereits alles Erforderliche getan hatte, um dessen Zeugungsunfähigkeit herbeizuführen. Dem steht nicht entgegen, dass der Angeklagte nach dieser letzten Ausführungshandlung nicht an einen Rücktritt dachte, weil er davon ausging, G mit Einwilligung der Eltern zu sterilisieren und er dessen Zeugungsunfähigkeit auch herbeiführen wollte. Eine Rücktrittsperspektive ergab sich für ihn jedenfalls mit Erkennen des ‚error in persona‘, weil hierdurch die erfolgte Sterilisation nachträglich unerwünscht wurde und der Angeklagte nun erstmals vor der Entscheidung stand, eine (dauerhafte) Zeugungsunfähigkeit des P durch aktive Gegenmaßnahmen zu verhindern bzw. sich hierum ernsthaft zu bemühen oder den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen.“ (vgl. auch BGH, Urteil vom 26.05.2011, 1 StR 20/11, NStZ 2011, 688)
b) Verhindern der Vollendung, § 24 I 1 2. Fall StGB
Bei den hier vorliegenden beendeten Versuch setz ein Rücktritt grundsätzlich voraus, dass der Täter die Vollendung der Tat verhindert, § 24 I 1 2. Fall StGB.
„[15] Der Angeklagte verhinderte die Vollendung des Delikts. Ein Rücktritt vom beendeten Versuch eines erfolgsqualifizierten Delikts ist grundsätzlich auch dadurch möglich, dass der Täter das Eintreten der Folge verhindert, nachdem er zunächst alles Erforderliche für den Erfolgseintritt getan hatte (vgl. auch BGH, Urteil vom 05.06.2019, 1 StR 34/19, NJW 2019, 3659). Die Aufdeckung der Tat gegenüber der Mutter des Geschädigten P und deren Vermittlung an den Refertilisierungsexperten setzte eine neue Kausalkette in Gang, an deren Ende die […] Refertilisierung des Geschädigten stand. Damit hat der Angeklagte die am besten geeignete (‚optimale‘) Rettungsmaßnahme ergriffen. Dabei ist unerheblich, dass der Angeklagte – was die Feststellungen nahelegen […] – unmittelbar nach der Tatentdeckung zunächst versuchte, seine Tat gegenüber der Zeugin P zu verschleiern bzw. zu bagatellisieren, bis er die Tat dann umfassend offenbarte und den Geschädigten an einen Refertilisierungsexperten vermittelte (vgl. auch BGH, Beschluss vom 23.08.2022, 1 StR 270/22, NStZ-RR 2022, 338). Verschleierungshandlungen des Täters schließen einen Rücktritt nicht aus, es sei denn – was hier nicht der Fall ist – die Verschleierung ist der alleinige Zweck und die Vollendungsverhinderung ist lediglich unbeabsichtigte und zufällige Folge dieser Verschleierungsbemühungen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 26.02.2019, 4 StR 514/18, NStZ-RR 2019, 271).“
Die objektiven Voraussetzungen für einen Rücktritt des A gem. § 24 I 1 2. Fall StGB sind somit gegeben.
c) Freiwilligkeit
A müsste auch freiwillig gehandelt haben.
„[17] aa) Freiwillig ist der Rücktritt, wenn er nicht durch zwingende Hinderungsgründe veranlasst wird, sondern der eigenen autonomen Entscheidung des Täters entspringt, der Täter also ‚Herr seiner Entschlüsse‘ geblieben ist (vgl. auch BGH, Beschluss vom 14.02.2023, 4 StR 442/22, NStZ 2023, 599). Dabei stellt die Tatsache, dass der Anstoß zum Umdenken von außen kommt, für sich genommen die Autonomie der Entscheidung des Täters nicht in Frage. Anders kann es sein, wenn unvorhergesehene äußere Umstände dazu geführt haben, dass bei weiterem Handeln das Risiko, angezeigt oder bestraft zu werden, unvertretbar ansteigen würde (vgl. auch BGH, Urteil vom 14.12.2022, 1 StR 273/22, NStZ-RR 2023, 105). Nicht maßgeblich für die Bewertung der Freiwilligkeit ist dagegen der bei Beginn der Tat bestehende Tatplan. Es gilt nicht die Tatplanperspektive, sondern der Rücktrittshorizont nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung.
[18] bb) Das Landgericht knüpft demgegenüber rechtsfehlerhaft an den Tatplan an, indem es ausführt, die Bemühungen des Angeklagten, den Eintritt der dauerhaften Fortpflanzungsunfähigkeit des Geschädigten P zu verhindern, seien nicht als freiwilliges Abstandnehmen vom Tatplan im Sinne des § 24 StGB anzusehen, weil sich dieser auf den Patienten G bezogen und der Angeklagte die Bemühungen entfaltet habe, als er erkannt habe, dass er einem ‚error in persona‘ unterlegen sei; damit aber sei er von seinem Entschluss, bei dem Geschädigten G eine dauerhafte Fortpflanzungsunfähigkeit herbeizuführen, nicht freiwillig abgerückt.“
Die Entscheidung, seinen Fehler gegenüber der Mutter des P einzugestehen und diese an einen Refertilisierungsexperten zu verweisen, stellt einen autonomen Entschluss des A dar, bei dem er auch „Herr seiner Entschlüsse“ war. Auch wenn der Anstoß zu diesem Verhalten von außen gekommen sein mag – insb. dadurch, dass A nachträglich, u.U. erst bei Durchsicht der Akten erkannte, dass er den falschen Patienten operiert hatte, ist nicht ersichtlich, dass A davon ausging, dass sein Fehler auch anderen bereits aufgefallen war und deshalb das Risiko, angezeigt und bestraft zu werden, unvertretbar angestiegen sei. Jedenfalls nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ ist somit davon auszugehen, dass A freiwillig gehandelt hat.
A ist somit strafbefreiend gem. § 24 I 1 2. Fall StGB vom Versuch zurückgetreten.
VI. Ergebnis
A ist nicht strafbar gem. §§ 223 I, 226 I Nr. 1, II, 22, 23 I StGB.
E. Gesamtergebnis
A ist strafbar gem. § 223 I StGB.
Fazit
Dieser Sachverhalt enthält so viele klassische Examensprobleme, dass ihn sich ein Justizprüfungsamt kaum besser hätte ausdenken können.
Im Rahmen der Körperverletzung durch einen ärztlichen Eingriff vertritt eine Literaturauffassung, dass hier eine teleologische Reduktion vorzunehmen sei und ein Heileingriff jedenfalls dann bereits keine tatbestandliche Körperverletzung darstellt, wenn er medizinisch indiziert ist und lege artis durchgeführt wird. Wenn der Arzt lediglich irrig glaubt, einen medizinisch indizierten Eingriff lege artis durchzuführen, wäre dies nach dieser Literaturauffassung ein Tatbestandsirrtum, § 16 I 1 StGB.
Selbst wenn man den Tatbestand des § 223 I StGB bejaht, würde eine wirksame Einwilligung in den Eingriff zumindest eine rechtfertigende Einwilligung darstellen. Und bei minderjährigen Patienten (wie im vorliegenden Sachverhalt) wären es grundsätzlich deren Eltern, die eine entsprechende Einwilligung erklären könnten. Würde der Arzt sich also vorstellen, einen minderjährigen Patienten zu operieren, dessen Eltern wirksam eingewilligt hätten, so würde dies einen Erlaubnistatbestandsirrtum darstellen. Bei einer Sterilisation wie im vorliegenden Fall können jedoch die Eltern eine solche Einwilligung nicht ohne Genehmigung eines Sterilisationsbetreuers und des Betreuungsgerichtes erklären. Da A sich aber vorstellte, einen Patienten zu sterilisieren, bei dem lediglich die Eltern eingewilligt hätten und nicht die Behörden, hat er sich keine Umstände vorgestellt, bei deren tatsächlichen Vorliegen er gerechtfertigt wäre.
Auch der hier einschlägige Versuch der Erfolgsqualifikation ist eine interessante Konstellation. Diese ist zunächst einmal zu unterscheiden vom erfolgsqualifizierten Versuch. Bei erfolgsqualifizierten Versuch liegt das Grunddelikt lediglich als Versuch vor, bereits dieser Versuch hat jedoch die schwere Folge herbeigeführt. Beim Versuch der Erfolgsqualifikation ist das Grunddelikt hingegen entweder vollendet oder versucht worden, aber die schwere Folge ist – entgegen der Tätervorstellung – nicht eingetreten. Das denkbare Problem, ob der Versuch einer Erfolgsqualifikation strafbar sein kann, wenn der Versuch des Grunddeliktes dies nicht ist (vgl. § 239 I, III StGB) stellte sich hier nicht, da bei § 226 II StGB sowohl der Versuch des Grunddelikts (gem. § 223 II StGB) strafbar ist als auch derjenige der Erfolgsqualifikation (vgl. § 226 II, 12 I, 23 I StGB).
Auch interessant ist die Frage, ob der Täter, dessen Versuch sich infolge eines error in persona gegen ein falsches Opfer gerichtet hat, nach Erkennen dieses Irrtums noch zurücktreten kann (s.o.). Die Literaturauffassung, die dies mit der Begründung verneint, dass aus Sicht des Täters der Versuch, das gewollte Opfer zu treffen, fehlgeschlagen ist, wenn er erkennt, dass er das falsche Opfer angegriffen hatte, ist nachvollziehbar. Wenig überraschend ist aber auch, dass der BGH dies anders sieht, da bei Annahme eines Fehlschlags der Täter nicht mehr zurücktreten könnte, was letztlich opferfeindlich wäre, da dies die Wahrscheinlichkeit dafür senken würde, dass der Täter Maßnahmen zur Vollendungsverhinderung ergreift.
RA – Rechtsprechungs-Auswertung
für Studierende und Referendare
In der monatlich erscheinenden Ausbildungszeitschrift „RA“ von Jura Intensiv werden examensrelevante Urteile prüfungsorientiert aufbereitet.
Ob im Abo, als Print- oder Digitalversion – mit der RA bist Du immer über die aktuellsten Entscheidungen informiert.
JurCase Mietangebot für dein
Zweites Staatsexamen
Für alle Bundesländer bietet JurCase die zugelassenen Hilfsmittel auf Basis der Prüfungsordnung der jeweiligen Bundesländer zur Miete an.
Du kannst je nach Bedarf nur die Examenskommentare, nur die Gesetzestexte oder das Kombi-Paket mit allen Kommentaren und Gesetzestexten bei JurCase mieten.