OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 26.05.2021, 1 LB 11/17
Das Baurecht – für viele Studierende und Referendar:innen wahrscheinlich nicht gerade ein Lieblingsfach. Dennoch spielt es immer wieder eine große Rolle in Examensklausuren – und eine noch größere in der Praxis.
Das Oberverwaltungsgericht (OVG) des Landes Schleswig-Holstein befasste sich in seiner Entscheidung vom 26.05.2021 mit der Frage der Beseitigung baurechtswidrig errichteter Bauten, der Störerhaftung sowie der Rechtsnachfolge im Prozess bei Eigentümerwechsel.
Der Sachverhalt
Die in diesem Beitrag dargestellte Entscheidung des OVG Schleswig-Holstein erging in einem Berufungsverfahren gegen eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Schleswig-Holstein von April 2016.
In seiner Klage richtete sich der Kläger gegen eine baurechtliche Beseitigungsanordnung.
Dieser Anordnung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger war zum Zeitpunkt seiner Klage anteilig zur Hälfte Eigentümer eines Grundstücks, welches zwei weitere Personen als Nießbrauchsberechtigte nutzten.
Auf diesem Grundstück wurde im Jahr 2005 mit Baugenehmigung der Bauaufsichtsbehörde ein Einfamilienhaus errichtet. Die Baugenehmigung erging unter der Auflage, dass die Festsetzungen des einschlägigen Bebauungsplans berücksichtigt werden.
Nr. 7 des Bebauungsplans enthält folgende Festsetzung:
„7. Nebenanlagen § 14 Abs. 1 BauNVO [Baunutzungsverordnung]
Untergeordnete Nebenanlagen und Einrichtungen gemäß § 14 Abs. 1 BauNVO müssen einen Abstand von mind. 3,00 m zu öffentlichen und privaten Verkehrsflächen einhalten.“
Südöstlich des Hauses befindet sich eine Gartenmauer mit einer Länge von 10,48m bei einer Höhe von 1,80m.
Im September 2007 stellt ein Mitarbeiter der Bauaufsichtsbehörde fest, dass diese Mauer den erforderlichen Abstand von 3 Metern zu der privaten Verkehrsfläche des Grundstücks teilweise nicht aufweist.
Die Bauaufsichtsbehörde fordert den Eigentümer des Grundstücks als Zustandsstörer gemäß § 59 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 LBO [Landesbauordnung] zur Beseitigung der Mauer binnen zwei Monaten auf, insoweit diese nicht den Festsetzungen des Bebauungsplans entspricht. Die Mauer sei formell und materiell illegal.
Gegen diese Beseitigungsanordnung erhebt der Kläger Widerspruch. Er führt begründend auf, dass nicht er für die Beseitigung der Mauer verantwortlich sei, sondern die damaligen Nießbrauchsberechtigten als Handlungsstörer. Er habe mit dem Zustand auf dem Grundstück nichts zu tun und könne daher als Eigentümer nicht in Anspruch genommen werden.
Außerdem stelle die Mauer keine selbständige Nebenanlage im Sinne der Nr. 9 des Bebauungsplans dar und sei daher anzeige- und genehmigungsfrei. Die Mauer beeinträchtige ferner keine öffentlichen Belange und sei der Bauaufsicht seit vielen Jahren bekannt.
Der Widerspruch wird jedoch zurückgewiesen mit der Begründung, die Verantwortlichkeit im Baurecht sei weniger personen- als grundstücksbezogen. Es gehe um die Beseitigung des baurechtswidrigen Zustands auf dem Grundstück und die Haftung für diesen Zustand und nicht um die Haftung für das Verhalten, welche zu dem Zustand geführt hat. Verantwortlich für den Zustand sei laut dem VG derjenige, der für das Grundstück zuständig sei, also der Eigentümer.
Daraufhin erhebt der damalige Eigentümer im September 2014 nun Klage mit dem Antrag, die Beseitigungsanordnung in Form des Widerspruchsbescheids aufzuheben.
Klage erstinstanzlich abgewiesen
Das VG Schleswig-Holstein weist die Klage ab und bezieht sich im Wesentlichen auf die Begründung des Widerspruchsbescheids.
Gegen diese Entscheidung geht der Kläger nun in Berufung. Ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen führt er aus, dass die Bauordnungsverfügung nicht hinreichend bestimmt sei. Außerdem hält der Kläger die Beseitigungsanordnung insbesondere im Hinblick auf die Störerauswahl für ermessensfehlerhaft.
Der Beklagte fordert die Abweisung der Klage.
JurCase informiert:
Das Ermessen der Behörde besteht aus zwei Komponenten: dem Entschließungsermessen und dem Auswahlermessen.
1. Das Entschließungsermessen ist die Entscheidung, ob die Behörde überhaupt tätig wird.
2. Das Auswahlermessen ist die Entscheidung, wie die Behörde tätig wird.
Dies betrifft neben der Auswahl des richtigen Mittels auch Auswahl des richtigen Verantwortlichen.
Unterschieden wird grundsätzlich zwischen Verhaltensverantwortlichkeit und Zustandsverantwortlichkeit.
- Verhaltensverantwortlicher ist, wer die Gefahr durch eigenes Verhalten verursacht.
- Zustandsverantwortlicher ist, wem der rechtswidrige Zustand zugerechnet werden kann.
Die Entscheidung des OVG Schleswig-Holstein
Nach der Entscheidung des OVG Schleswig-Holstein ist die Berufung des Klägers zulässig, aber unbegründet.
Zunächst hatte das Gericht darüber zu entscheiden, ob die Klage überhaupt statthaft ist.
Das Eigentum an dem Grundstück war nämlich in der Zwischenzeit im Dezember 2017 auf die früheren Nießbrauchsberechtigten übergegangen.
Das Gericht stellt diesbezüglich jedoch fest, dass die streitgegenständliche Bauordnungsverfügung gemäß § 59 Abs. 4 LBO auch für die neuen Eigentümer als Rechtsnachfolger gilt und sich nicht im Sinne des § 112 Abs. 2 LVwG [Landesverwaltungsgesetz] erledigt hat.
Es habe auf den Prozess also keinen Einfluss, dass das Eigentum nach Rechtshängigkeit übertragen wurde.
In der Sache bleibt die Berufung allerdings erfolglos. Das Gericht hält die Beseitigungsanordnung und den Widerspruchsbescheid für rechtmäßig.
Nach § 50 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 LBO „haben die Bauaufsichtsbehörden die bei der Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung und Beseitigung sowie bei der Nutzung und Instandhaltung von Anlagen nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Sie können insbesondere die teilweise oder vollständige Beseitigung von Anlagen anordnen, die im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert werden, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.“
Die Begründung der Berufung, die Bauordnungsverfügung sei nicht hinreichend bestimmt, weist das Gericht zurück. Mit der Aufforderung die Mauer „insoweit zu beseitigen, dass ein Abstand zur Erschließungsstraße […] von mindestens 3,00 m eingehalten wird“, sei die Anordnung so bestimmt, dass sie nicht einer unterschiedlichen subjektiven Beurteilung zugänglich ist.
Die Mauer sei zudem sowohl formell als auch materiell illegal und wurde demnach im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet.
JurCase informiert:
Formelle Illegalität bedeutet, dass eine Baugenehmigung zwar notwendig ist, diese jedoch fehlt. Genehmigungsfreie Vorhaben sind so lange formell illegal, bis das erforderliche Verwaltungsverfahren abgeschlossen und der Baubeginn nun zulässig ist. Demgegenüber meint materielle Illegalität einen Verstoß gegen materiell-rechtliche Vorschriften (z.B. § 30 BauGB, auch i.V.m. BauNVO).
Das OVG führt diesbezüglich folgendes aus:
„Bei der Gartenmauer mit einer Höhe von 1,80 m und einer Länge von 10,48 m handelt es sich nicht um ein verfahrensfreies Bauvorhaben. Eine Verfahrensfreiheit ergibt sich insbesondere nicht aus § 63 Abs. 1 Nr. 7 d) LBO, der lediglich Sichtschutzwände bis zu 2 m Höhe und bis zu 5 m Länge für verfahrensfrei erklärt. Eine danach erforderliche Baugenehmigung für die Errichtung der Gartenmauer liegt nicht vor.“
[…]
Die Gartenmauer ist auch materiell illegal. Sie verstößt zwar nicht gegen die Abstandflächenvorschriften der LBO, aber gegen Nr. 7 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 9 (1. Änderung).
[…]
Der gemäß Nr. 7 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans Nr. 9 (1. Änderung) einzuhaltende Abstand von mindestens 3,00 m zu öffentlichen und privaten Verkehrsflächen wird ausweislich des im Baugenehmigungsverfahrens eingereichten Lageplans, aus dem sich für den straßenseitig verlaufenden Mauerteil ein Abstand von 2 bis 2,70 m ergibt, teilweise unterschritten.
Rechtmäßige Zustände könnten auch nicht auf andere Weise als durch die Beseitigung der Gartenmauer hergestellt werden:
„Als anderweitige Maßnahmen kommen die Gewährung von Ausnahmen nach § 31 Abs. 1 BauGB [Baugesetzbuch], Befreiungen gemäß § 31 Abs. 2 BauGB, Abweichungen nach § 71 Abs. 1 LBO oder Nebenbestimmungen in Betracht. […]
Nach § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, die Abweichung städtebaulich vertretbar ist und wenn die Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. […]
Eine Befreiung der Gartenmauer von der textlichen Festsetzung Nr. 7 würde die Grundzüge der Planung berühren.“
Den Ausführungen des Klägers, die Beseitigungsanordnung, die im Ermessen der Bauaufsichtsbehörde steht, sei ermessenfehlerhaft ergangen, folgt das OVG hier nicht.
Das Gericht hält die Inanspruchnahme des Klägers als damaligen Eigentümer nicht für einen Fehler bei der Ausübung des Auswahlermessens.
Daran ändert insbesondere auch der nachträgliche Eigentümerwechsel nichts.
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines belastenden Verwaltungsaktes kommt es grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung an.
Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer baurechtlichen Beseitigungsanordnung ist nach § 59 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 LBO jedoch auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen, damit die Behörde ihre Ermessensentscheidung bei Änderung der Sach- und Rechtslage gegebenenfalls korrigieren und die Anordnung aufheben kann.
Somit ist bei der Beurteilung von Ermessenfehlern bezüglich der Störerauswahl auch eine nachträglich eintretende Rechtsnachfolge im Sinne des § 59 Abs. 4 LBO zu berücksichtigen.
Grundsätzlich kommen als Adressaten einer Beseitigungsanordnung nach §§ 217, 218 LVwG sowohl Handlungs- als auch Zustandsstörer in Betracht.
Bei mehreren Verantwortlichen muss die Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen darüber entscheiden, gegen welche Person sie vorgehen will.
Hierbei ist der Grundsatz der Effektivität der Gefahrenabwehr von großer Bedeutung. Die Behörden haben ihr Ermessen immer derart auszuüben, dass der rechtswidrige Zustand am schnellsten und effektivsten beseitigt werden kann.
Bei der Auswahl des Verantwortlichen gibt es keine feste Rangfolge.
„Ist der Behörde der Handlungsstörer jedoch bekannt und für die Behörde erkennbar, dass der Zustandsstörer kein eigenes Interesse an der betreffenden baulichen Anlage hat, ist es in der Regel ermessenfehlerhaft, den Eigentümer als Zustandsstörer anstelle des Handlungsstörers in Anspruch zu nehmen“, so das OVG in seiner Entscheidung.
Den Kläger als damaligen Eigentümer statt des Nießbrauchsberechtigten in Anspruch zu nehmen, war ausgehend hiervon ermessensfehlerhaft.
Mit der Übertragung des Grundstücks ist dieser Umstand laut dem OVG nun jedoch anders zu betrachten:
„Die auf den Grundstückseigentümer als Zustandsstörer zielende Störerauswahl des Beklagten begegnet jetzt keinen Bedenken mehr, weil [der ehemalige Nießbrauchsberechtigte als neuer Eigentümer] als neuer Zustandsstörer gleichzeitig auch Handlungsstörer ist. Die vom Beklagten seinerzeit angeführten Gründe für die Inanspruchnahme des Zustandsstörers treffen ohne Weiteres auch auf den Rechtsnachfolger des Klägers zu und erfordern deshalb keine weitergehenden Ermessenserwägungen im Hinblick auf die konkret verantwortliche Person.“
Kernaussagen der Entscheidung
Das OVG hat sich in seiner Entscheidung mit grundlegenden Fragen des Baurechts beschäftigt:
Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer bauaufsichtsrechtlichen Beseitigungsanordnung ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich, um Änderungen der Sach- und Rechtslage berücksichtigen zu können.
Dies kann sich beispielsweise bei der Beurteilung von Ermessenfehlern der Behörde auswirken.
Ändern sich die Eigentumsverhältnisse des streitgegenständlichen Grundstücks gelten etwaige Anordnungen der Bauaufsichtsbehörde auch gegen den neuen Eigentümer. Hierdurch soll verhindert werden, dass die Verwaltung nach Änderung der Eigentümerverhältnisse erneut tätig werden muss, obwohl sich die Sachlage selbst nicht verändert hat.
Es zeigt sich: eine Anordnung, die zum Zeitpunkt des Erlasses gegebenenfalls aufgrund von Ermessenfehlern rechtswidrig war, kann in Folge einer Änderung der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtmäßig sein.