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Überhängende Äste von Bäumen auf fremde Grundstücke

By 12. Oktober 2021Oktober 23rd, 2023No Comments
Aktuelle Rechtsprechung

Überhängende Äste – bald Thema in juristischen Examensklausuren? 

„Das Selbsthilferecht nach § 910 Abs. 1 BGB ist – vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen eines Rückschnitts – nicht deshalb ausgeschlossen, weil durch die Beseitigung des Überhangs das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.“

(BGH, Urteil vom 11. Juni 2021 – V ZR 234/19)

Dieser Leitsatz des Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 11. Juni 2021 mag vielleicht im ersten Moment nicht gerade spannend klingen. Tatsächlich behandelt dieses Urteil jedoch eine Reihe examensrelevanter Fragen und vor allem eine Materie, die ein gern gesehenes Thema in juristischen Examensklausuren ist: Grundstücks- und Nachbarschaftsstreitigkeiten. Zudem greift der BGH in seinem Urteil die Grundsätze der §§ 910, 906 BGB auf und konturiert die Anforderungen an das Selbsthilferecht des Nachbarn gemäß § 910 BGB. Es wäre also keine Überraschung, wenn das Selbsthilferecht des Nachbarn bald auch Gegenstand von Examensklausuren im Ersten und Zweiten Staatsexamen ist. Der folgende Beitrag soll die maßgeblichen Erwägungen des BGH in seinem Urteil vom 11.06.2021 beleuchten und einen Überblick über das Selbsthilferecht des Nachbarn aus § 910 BGB im Fall des Überhangs geben.

Es ereignete sich folgender Sachverhalt:

Die Kläger und der Beklagte sind Eigentümer von benachbarten Grundstücken. Auf der gemeinsamen Grundstücksgrenze steht seit ca. 40 Jahren eine 15 Meter hohe Schwarzkiefer, deren Äste seit mindestens 20 Jahren über die Grundstücksgrenze hinweg auf das Grundstück des Beklagten ragen. Von den Ästen der Schwarzkiefer fallen Nadeln und Zapfen herab. Der Beklagte hatte die Kläger in der Vergangenheit dazu aufgefordert, diese überhängenden Äste zurückzuschneiden. Seine Aufforderung blieb jedoch ohne Erfolg, so dass der Beklagte die überhängenden Äste selbst abschnitt. Daraufhin reichten die Kläger eine Klage ein. Mit dieser Klage möchten die Kläger erreichen, dass der Beklagte es unterlässt, von der Kiefer oberhalb von fünf Meter überhängende Zweige abzuschneiden. Diesbezüglich argumentieren sie, dass die Standsicherheit ihres Baumes durch das Abschneiden der Zweige gefährdet werde. Zunächst hatten die Kläger mit ihrer Klage vor dem Amtsgericht und dem Landgericht Erfolg. Der Bundesgerichtshof hatte in seinem Urteil vom 11.06.2021 nunmehr über die Revision des Beklagten zu entscheiden.

Auffassung der Vorinstanz

Die Vorinstanz sprach den Klägern einen Unterlassungsanspruch gegen den Beklagten aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB zu. Als Begründung führte das Berufungsgericht an, dass die Vorschrift des § 910 BGB vorliegend nicht eingreife. § 910 Abs. 1 BGB bestimmt:

Der Eigentümer eines Grundstücks kann Wurzeln eines Baumes oder eines Strauches, die von einem Nachbargrundstück eingedrungen sind, abschneiden und behalten. Das Gleiche gilt von herüberragenden Zweigen, wenn der Eigentümer dem Besitzer des Nachbargrundstücks eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt hat und die Beseitigung nicht innerhalb der Frist erfolgt.“

Nach der Auffassung des Berufungsgerichts regele § 910 BGB jedoch nur die Fälle, in denen es um eine unmittelbare Beeinträchtigung von überhängenden Ästen gehe. Da sich der Beklagte vorliegend allerdings auf den Nadel- und Zapfenbefall auf seinem Grundstück – also eine mittelbare Folge des Überhangs – berufe, sei § 910 BGB nicht anwendbar, sondern vielmehr § 906 BGB. Es handele sich hierbei um Immissionen im Sinne des § 906 BGB. Nach § 906 Abs. 1 S. 1 BGB kann der Eigentümer eines Grundstücks die Zuführung von Gasen, Dämpfen, Gerüchen, Rauch, Ruß, Wärme, Geräusch, Erschütterungen und ähnliche von einem anderen Grundstück ausgehende Einwirkungen insoweit nicht verbieten, als die Einwirkung die Benutzung seines Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt. § 906 Abs. 2 S. 1 BGB bestimmt, dass das Gleiche insoweit gilt, als eine wesentliche Beeinträchtigung durch eine ortsübliche Benutzung des anderen Grundstücks herbeigeführt wird und nicht durch Maßnahmen verhindert werden kann, die Benutzern dieser Art wirtschaftlich zumutbar sind. Das Berufungsgericht subsumierte unter diese Vorgaben des § 906 BGB und kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Nadel- und Zapfenbefall auf dem Grundstück des Klägers nicht um einen ortsunüblichen Befall handele, so dass die Kläger ein Abschneiden der Äste nicht gemäß § 906 BGB zu dulden hätten.

Die Entscheidung des BGH

Der BGH hob auf die Revision des Beklagten hin das Berufungsurteil auf und verwies den Rechtsstreit aufgrund der mangelnden Entscheidungsreife an das Berufungsgericht zurück.

Zwar lägen die Voraussetzungen des § 1004 Abs. 1 BGB vor, denn der Beklagte sei als unmittelbarer Handlungsstörer anzusehen, der mit dem Abschneiden der Zweige das Eigentum der Kläger an ihrem Grundstück beeinträchtigt habe und auch die Wiederholungsgefahr sei indiziert.

Der BGH führte jedoch aus:

„Zu Unrecht verneint das Berufungsgericht aber eine Duldungspflicht der
Kläger im Sinne von § 1004 Abs. 2 BGB, weil es § 910 BGB für die Beeinträchtigung durch den Nadel- und Zapfenabfall für nicht anwendbar hält und stattdessen den Maßstab des § 906 BGB heranzieht.“

§ 1004 Abs. 2 BGB bestimmt, dass der Anspruch ausgeschlossen ist, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist. Eine Duldungspflicht sei hier mit der Argumentation des Berufungsgerichts nicht ersichtlich. Im vorliegenden Fall sei nämlich § 910 BGB anzuwenden. Diesbezüglich verweist der BGH auf ein Urteil des Senats vom 14. Juni 2019. Schon 2019 stellte der BGH in diesem Urteil klar:

„Ob der Eigentümer eines Grundstücks vom Nachbargrundstück herüberragende Zweige ausnahmsweise dulden muss, bestimmt sich – vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen eines Rückschnitts – allein nach § 910 Abs. 2 BGB. Der Maßstab des § 906 BGB gilt hierfür auch dann nicht, wenn die von den herüberragenden Zweigen ausgehende Beeinträchtigung in einem Laub-, Nadel- und Zapfenabfall besteht.

(BGH, Urteil vom 14. Juni 2019 – V ZR 102/18)

(Hervorhebungen durch die Verfasserin)

JurCase informiert:

§ 910 BGB stellt also auch im Fall von mittelbaren Folgen eines Überhangs die einschlägige Norm dar. Es ist in den Fällen dieser mittelbaren Folgen also nicht auf § 906 BGB zurückzugreifen.

Auch sei das Selbsthilferecht des Nachbarn nicht ausgeschlossen. Ein solcher Ausschluss folge hier weder aus landesrechtlichen Vorschriften noch daraus, dass der Baum durch das Abschneiden der Äste drohe, abzusterben, noch aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis oder aufgrund des Risikos, dass der Baum seine Standfestigkeit zu verlieren drohe.

Der BGH liefert diesbezüglich eine vor allem an dem Sinn und Zweck des § 910 BGB orientierte Argumentation für seinen Standpunkt:

Das Selbsthilferecht aus § 910 Abs. 1 BGB besteht im Ausgangspunkt ohne Einschränkungen, wenn seine tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen. Beschränkt ist es allein dadurch, dass dem Eigentümer das Recht nach Abs. 2 nicht zusteht, wenn die Wurzeln oder Zweige die Benutzung seines Grundstücks nicht beeinträchtigen. Eine Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung, mit der der Ausschluss des Selbsthilferechts teilweise begründet wird […], ist gesetzlich nicht vorgesehen und widerspräche den Vorstellungen des Gesetzgebers. Dieser hat sich bewusst für eine einfache und allgemein verständliche Ausgestaltung des Selbsthilferechts entschieden, die eine rasche Erledigung etwaiger Zwistigkeiten zwischen den Nachbarn ermöglicht […]. Diesem Ziel liefe es zuwider, wenn der durch den Überhang beeinträchtigte Nachbar von dem Selbsthilferecht nur unter der Voraussetzung Gebrauch machen dürfte, dass das Abschneiden der Wurzeln oder Zweige die Standfestigkeit des Baumes nicht gefährdet, noch aus sonstigen Gründen zum Absterben des Baumes führen kann, was sich in vielen Fällen nicht ohne Hinzuziehung eines sachverständigen oder zumindest sachkundigen Dritten beurteilen lassen wird. Denn das Selbsthilferecht soll einfach handhabbar und seine Ausübung nicht mit Haftungsrisiken belastet sein.

Außerdem trage der Eigentümer des Grundstücks mit dem Baum die Verantwortung dafür, dass sich kein Überhang des Baumes auf ein anderes Grundstück entwickele, so dass er nicht geltend machen könne, der Nachbar habe es zu unterlassen, den Überhang zu entfernen, wenn er diese Verantwortung selbst vernachlässigt habe. Dies gelte auch dann, wenn der Baum dadurch in seiner Standfestigkeit beeinträchtigt werde.

Zudem sei zu beachten, dass landesrechtliche Vorschriften, beispielsweise in den Nachbargesetzen der Länder, kein Selbsthilferecht des Nachbarn im Falle des Überhanges regeln. Der BGH verweist hier darauf, dass den Ländern diesbezüglich keine Gesetzgebungskompetenz zukommt, so dass landesrechtliche Vorschriften auch nicht in der Lage seien, das Selbsthilferecht gemäß § 910 BGB einzuschränken.

JurCase informiert:

An dieser Stelle wird der fächerübergreifende Bezug dieser Entscheidung des BGH deutlich. Der BGH bedient sich einer teleologischen und gesetzessystematischen Auslegung der Vorschrift des § 910 BGB und zieht neben dem Willen des Gesetzgebers auch die Gesetzgebungskompetenz – also einen öffentlich-rechtlich geprägten Gedanken – als Begründungsansatz heran.

Auch das nachbarrechtliche Gemeinschaftsverhältnis sei hier nicht in der Lage, einen Ausschluss des Selbsthilferechts herbeizuführen. Diesbezüglich meint der BGH:

„Nach ständiger Rechtsprechung des Senats haben die Rechte und Pflichten von Grundstücksnachbarn insbesondere durch die Vorschriften der §§ 905 ff. BGB und die Bestimmungen der Nachbarrechtsgesetze der Länder eine ins Einzelne gehende Sonderregelung erfahren. Daneben kommt eine allgemeine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme aus dem Gesichtspunkt des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses nur dann zum Tragen, wenn ein über die gesetzliche Regelung hinausgehender billiger
Ausgleich der widerstreitenden Interessen dringend geboten erscheint […].“

Vorliegend habe jedoch der Eigentümer des Grundstückes mit dem Baum selbst das Risiko der möglichen Instabilität des Baumes geschaffen, indem er das regelmäßige Beschneiden seines Baumes unterlassen habe. Das nachbarrechtliche Gemeinschaftsverhältnis greife hier also schon nicht als Argumentationsfigur ein.

Allerdings billigt der BGH zu, dass sich „[e]ine Beschränkung der Befugnis des Beklagten, die auf sein Grundstück überhängenden Zweige abzuschneiden, allerdings aus naturschutzrechtlichen Regelungen ergeben [kann]. Insoweit wird das Berufungsgericht gegebenenfalls weitere Feststellungen zu treffen haben.“

 Hiervon macht der BGH jedoch zugleich noch eine Rückausnahme:

„Keinen Einschränkungen unterliegt die Befugnis zur Ausübung des Selbsthilferechts des § 910 BGB hingegen, wenn der beeinträchtigte Grundstückseigentümer mit Erfolg eine Ausnahmegenehmigung für die Beseitigung der Störungsquelle beantragen kann. Ob das der Fall ist, müssen die Zivilgerichte, ebenso wie das Bestehen des Verbots, selbständig prüfen“

Eine Ausschlussmöglichkeit des Selbsthilferechts behält sich der BGH damit vor. Da die Frage danach, ob naturschutzrechtliche Regelungen – bspw. Verbote in Baumschutzsatzungen – existieren, jedoch in den Vorinstanzen noch keine Rolle spielte, ist diese Frage nunmehr von dem Berufungsgericht zu beantworten. In diesem Zusammenhang ist außerdem zu klären, ob der Beklagte vorliegend – bei dem Bestehen von naturschutzrechtlichen Regelungen – eine Ausnahmegenehmigung erlangen kann, so dass er weiterhin von seinem Selbsthilferecht Gebrauch machen könnte. Ansonsten wäre das Selbsthilferecht des Beklagten ausgeschlossen.

Außerdem wies der BGH darauf hin, dass sich für das Berufungsgericht bisher nicht die Frage stellte, ob eine Beeinträchtigung des Beklagten durch die herabhängenden Äste und den Nadel- und Zapfenbefall vorläge. § 910 Abs.2 BGB bestimmt, dass dem Beklagten das Selbsthilferecht nicht zusteht, wenn die Wurzeln oder die Zweige die Benutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigen. Diesbezüglich träfe die Kläger die Darlegungs- und Beweislast, dass keine derartige Beeinträchtigung vorliege.

JurCase informiert:

Eine gewisse Richtung hinsichtlich der Beurteilung, ab wann eine solche Beeinträchtigung vorliegt, gibt der BGH in seinem Urteil vor, indem er klarstellt:

„In welchen Fällen keine Beeinträchtigung vorliegt, entscheidet nicht das subjektive Empfinden des Grundstückseigentümers; maßgebend ist vielmehr die objektive Beeinträchtigung der Grundstücksbenutzung […]. So ist eine objektive Beeinträchtigung der Grundstücksnutzung etwa zu verneinen bei einem in ca. 5 m Höhe ungefähr 0,4 m herüberragenden Zweig […].“

Zuletzt stellt der BGH klar, dass das Selbsthilferecht des Nachbarn kein Anspruch sei, so dass es auch keinen Verjährungsregeln unterliege. Vielmehr könne es nur verwirkt werden. Allerdings sei hier auch keine Verwirkung eingetreten. Diesbezüglich greift der BGH die Voraussetzungen einer Verwirkung auf. Die Verwirkung eines Rechts setze nämlich neben dem reinen Zeitablauf voraus, „[…] dass der Berechtigte durch sein gesamtes Verhalten bei dem Verpflichteten das Vertrauen geschaffen hat, er werde sein Recht nicht mehr geltend machen und dass dieser sich darauf eingerichtet hat; der Vertrauenstatbestand kann nicht durch bloßen Zeitablauf geschaffen werden […]. Ein schutzwürdiges Vertrauen der Kläger darauf, dass der Beklagte sein Recht aus § 910 BGB nicht geltend machen werde, hat das Berufungsgericht bislang nicht festgestellt.“

Fazit: Es bleibt spannend

Der BGH bestätigte im Rahmen des Urteils nochmalig, dass der § 910 BGB auch im Falle von mittelbaren Folgen des Überhangs zur Anwendung gelangt. Geklärt ist nunmehr außerdem, dass „[d]as Selbsthilferecht nach § 910 Abs. 1 BGB – vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen eines Rückschnitts – nicht deshalb ausgeschlossen [ist], weil durch die Beseitigung des Überhangs das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.“ Hier machte der BGH deutlich, dass der Eigentümer des Grundstücks, auf dem der Baum steht, verantwortlich dafür ist, dass der Baum regelmäßig beschnitten wird und nicht über die Grundstücksgrenze hinauswächst. Ob der Beklagte im vorliegenden Fall durch die Äste und den Nadel- und Zapfenbefall tatsächlich eine Beeinträchtigung seines Grundstückes im Sinne des § 910 BGB hinzunehmen hat und ob naturschutzrechtliche Regelungen existieren, die das Selbsthilferecht des Beklagten doch noch einschränken können, wird das Berufungsgericht nun zu klären haben. Es bleibt also spannend.

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Beitragsautor:

Laureen

Laureen

Laureen war zu ihrer Zeit bei uns Diplom-Juristin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich des Strafrechts bei Nagel Schlösser Rechtsanwälte. Sie hat bei uns über verschiedene Themen berichtet, etwa zu ihrem Referendariat und vor allem zu #Gewusst: Aktuelle Rechtsprechung.

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