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Rechtsprechung des Monats September 2024: Beanstandungspflicht im Hauptverfahren

By 2. September 2024No Comments
Rechtsprechung des Monats

BGH, Beschl. v. 12.09.2023 – 4 StR 179/23, BeckRS 2023, 27296

Schwerpunkte: §§ 55, 238, 337 StPO

In Kooperation mit Alpmann Schmidt präsentieren wir die Rechtsprechung des Monats. Hierbei handelt es sich um examensrelevante Rechtsprechung, die dir von erfahrenen Praktiker:innen vorgestellt wird. Zusätzlich bieten dir diese Fälle die Möglichkeit, das Schreiben von Assessorklausuren zu üben.

Fall

A ist vor dem Landgericht wegen Vergewaltigung angeklagt. Nachdem sich A zunächst über seinen Verteidiger zur Sache eingelassen hat, wird Zeugin E in den Zeugenstand gerufen. E beruft sich über den ihr als Zeugenbeistand bestellten Rechtsanwalt auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 Abs. 1 StPO. Die Zeugin wird sodann im allseitigen Einverständnis von der Vorsitzenden entlassen.

A wird schließlich zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.

Hat eine frist- und formgerechte Revision des A Erfolg?

Leitsätze

  1. Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang ein Zeuge durch seine Aussage eine Verfolgungsgefahr i.S.d. § 55 Abs. 1 StPO begründen kann und daher die Auskunft verweigern darf, unterliegt als Maßnahme der Sachleitung weitgehend der wertenden Beurteilung des Vorsitzenden.
  2. Hält ein Verfahrensbeteiligter dessen Entscheidung für rechtsfehlerhaft und damit für unzulässig, hat er gemäß § 238 Abs. 2 StPO die Möglichkeit, hiergegen den gesamten Spruchkörper anzurufen. Unterlässt der verteidigte Angeklagte dies, kann er in der Revisionsinstanz mit einer entsprechenden Rüge, durch die er sich in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setzen würde, nicht mehr gehört werden.

Gutachten

Die Revision ist erfolgreich, wenn A geltend machen kann, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruht, § 337 Abs. 1 und 2 StPO.

1.
Die Kammer könnte unter Verstoß gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO von der Vernehmung der Zeugin abgesehen haben, obwohl die Voraussetzungen für eine Auskunftsverweigerung nach § 55 Abs. 1 StPO tatsächlich nicht vorgelegen haben.

Zweck der Norm ist es, Fehler des Vorsitzenden im Rahmen der Instanz zu korrigieren und damit Revisionen zu vermeiden (Meyer-Goßner/Schmitt § 238 Rn. 10 m.w.N.).

Eine solche Beanstandungspflicht aus § 238 Abs. 2 StPO ist immer zu prüfen, wenn:

  • eine auf die Sachleitung bezogene Anordnung des Vorsitzenden i.S.d. § 238 StPO betroffen ist,
  • der Angeklagte verteidigt ist bzw. die Beanstandungspflicht kennt und
  • die zu beanstandende Handlung dem Vorsitzenden Entscheidungsspielraum belässt.

Missachtet die Verteidigung die Beanstandungspflicht, ist eine hierauf gestützte Verfahrensrüge unzulässig (vgl. auch AS-Skript Strafurteil und Revisionsrecht in der Assessorklausur [2023], Bl. 112Rn. 358).

§ 238 Abs. 2 StPO stellt eine wichtige Präklusionsnorm des Revisionsrechts dar!

Die Rüge des A könnte jedoch präkludiert und somit unzulässig sein, wenn A schon in der Hauptverhandlung vom Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO hätte Gebrauch machen müssen. Ausweislich § 238 StPO obliegen die Verhandlungsleitung sowie die Aufnahme des Beweises dem Vorsitzenden. Die Zulässigkeit einer Verfahrensrüge setzt dabei grundsätzlich voraus, dass der Beschwerdeführer von dem Zwischenrechtsbehelf des Abs. 2 Gebrauch gemacht hat (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 238 Rn. 23).

„[6] … Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang ein Zeuge durch seine Aussage eine Verfolgungsgefahr i.S.d. § 55 Abs. 1 StPO begründen kann und daher die Auskunft verweigern darf, unterliegt als Maßnahme der Sachleitung weitgehend der wertenden Beurteilung des Vorsitzenden. Hält ein Verfahrensbeteiligter dessen Entscheidung für rechtsfehlerhaft und damit für unzulässig, hat er gemäß § 238 Abs. 2 StPO die Möglichkeit, hiergegen den gesamten Spruchkörper anzurufen. Unterlässt der verteidigte Angeklagte dies, kann er in der Revisionsinstanz mit einer entsprechenden Rüge, durch die er sich in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setzen würde, nicht mehr gehört werden. Auch liegt hierin keine unzulässige Einschränkung der Rüge, das Gericht habe durch das teilweise oder völlige Unterlassen der Sachvernehmung des Zeugen seine Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO verletzt. Denn da durch die Anordnung des Vorsitzenden die Beschränkung der gerichtlichen Sachaufklärung zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wird, kann der Verstoß gegen die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit über § 238 Abs. 2 StPO bereits dort beanstandet werden.“

2.
Die Rüge ist somit bereits unzulässig, da A entgegen § 238 Abs. 2 StPO nicht vom Zwischenrechtsbehelf Gebrauch gemacht hat.

Ergebnis
Die Revision des A ist zu verwerfen, § 349 Abs. 2 StPO.

Diese Rechtsprechung wurde für dich von StAin Dr. Christina Lang aufbereitet.

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Beitragsautor:

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt ist ein juristischer Fachverlag, der zudem juristische Lehrgänge und Repetitorien anbietet. In Kooperation mit JurCase präsentiert Alpmann Schmidt bei uns monatlich eine Rechtsprechung des Monats. Mehr Informationen zu Alpmann Schmidt gibt es hier.

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