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Rechtsprechung des Monats März 2025: Effektive Ausübung des Rechts zum Schlussvortrag

BGH, Beschluss vom 18.04.2024 – 6 StR 545/23 (BeckRS 2024, 11296)

Schwerpunkte: §§ 258, 337 StPO

In Kooperation mit Alpmann Schmidt präsentieren wir die Rechtsprechung des Monats. Hierbei handelt es sich um examensrelevante Rechtsprechung, die dir von erfahrenen Praktiker:innen vorgestellt wird. Zusätzlich bieten dir diese Fälle die Möglichkeit, das Schreiben von Assessorklausuren zu üben.

Fall

A war mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des H und gefährliche Körperverletzung zum Nachteil einer weiteren Geschädigten vorgeworfen worden. Der Strafkammervorsitzende terminierte die Hauptverhandlung auf drei Sitzungstage.

Am zweiten Sitzungstag erteilte der Vorsitzende einen rechtlichen Hinweis, wonach hinsichtlich der Tat zum Nachteil des H auch eine Verurteilung wegen tateinheitlichen versuchten Mordes gemäß § 211 Abs. 2 Var. 4 und 5 StGB in Betracht kommen sollte. Die Vorschrift wurde verlesen, ein Haftbefehl verkündet und A im Saal verhaftet. Im Haftbefehl wurde der Tatvorwurf dahin konkretisiert, dass A die ihm zur Last gelegten Messerstiche in Richtung des Oberkörpers des sich „keines Angriffs versehenen und deshalb wehrlosen“ H geführt habe. Ein vom Verteidiger gestellter Aussetzungsantrag, gestützt auf die wegen des verschärften Tatvorwurfs notwendige Vorbereitungszeit, wurde, ebenso wie die hilfsweise begehrte Unterbrechung für die Dauer von einer Woche, zurückgewiesen. Es seien keine neuen Tatsachen oder tatsächlichen Verhältnisse in der Hauptverhandlung aufgetreten, die A nicht bereits der Anklageschrift habe entnehmen können. Die Hauptverhandlung wurde sodann bis zum nächsten Sitzungstag unterbrochen.

Die Bestimmung des konkreten Verfahrensgangs, so auch der Zeitpunkt des Schließens der Beweisaufnahme, obliegt der Verhandlungsleitung des Vorsitzenden, § 238 Abs. 1 StPO. Indem die Verteidigung eine auf die Sachleitung bezogene Anordnung beanstandet, führt sie eine Entscheidung des Gerichts, einen Kammerbeschluss, herbei (sog. Zwischenrechtsbehelf, § 238 Abs. 2 StPO).

Am folgenden Tag wurde die Hauptverhandlung mit der kurzfristig terminierten Vernehmung von Sachverständigen und Zeugen, u.a. des B, der Angaben zu Motiv und zur subjektiven Tatseite tätigte, fortgesetzt und die Beweisaufnahme „im allseitigen Einverständnis“ geschlossen. Der Verteidiger beantragte zur Vorbereitung auf den Schlussvortrag eine Unterbrechung der Hauptverhandlung. Er sehe sich eingedenk des Verfahrensablaufs, namentlich des gerichtlichen Hinweises, der Verhaftung seines Mandanten im Sitzungssaal und der bis eben durchgeführten Beweisaufnahme nicht in der Lage, sachgerecht zu plädieren. Den Antrag wies der Vorsitzende unter Hinweis auf die Gründe der abgelehnten Aussetzung vom vorangegangenen Sitzungstag zurück. Diese Anordnung wurde von der Strafkammer sodann bestätigt.

Nach den Schlussvorträgen wurde das Urteil verkündet und A wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren verurteilt.

Gegen das Urteil legt A ordnungsgemäß Revision ein.

Hat die zulässig erhobene Rüge der Verletzung formellen Rechts Erfolg?

Leitsätze

  1. § 258 Abs. 1 StPO dient unmittelbar der Gewährleistung des durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör. Dieses Recht erschöpft sich aufgrund seiner überragenden Bedeutung nicht in der bloßen Möglichkeit zur Äußerung; vielmehr muss den Verfahrensbeteiligten eine wirksame Ausübung ermöglicht werden. Das Gericht ist daher dazu verpflichtet, angemessene Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Verfahrensbeteiligten einen Schlussvortrag in der Weise halten können, wie sie ihn für sachdienlich erachten.
  2. Ob und ggf. in welchem Umfang eine Vorbereitungszeit zu gewähren ist, hat das Tatgericht aufgrund der Umstände des Einzelfalls nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wenn die Verfahrensbeteiligten eine Vorbereitungszeit verlangen. Danach kann es je nach Umfang und Dauer der Hauptverhandlung sowie dem konkreten Prozessverlauf notwendig sein, zur Ausarbeitung der Schlussvorträge eine angemessene Vorbereitungszeit einzuräumen.

Gutachten

Die Revision ist erfolgreich, wenn das Urteil auf einer Gesetzesverletzung beruht, § 337 Abs. 1 und 2 StPO.

1. Indem die Strafkammer die von der Verteidigung beantragte Vorbereitungszeit verweigert hatte, könnte § 258 Abs. 1 StPO verletzt sein. Hiernach erhalten nach dem Schluss der Beweisaufnahme der Staatsanwalt und sodann der Angeklagte zu ihren Ausführungen und Anträgen das Wort, wobei ausweislich § 258 Abs. 3 StPO der Schlussvortrag des Angeklagten auch durch den Verteidiger gehalten werden kann.

„[7] Der Angeklagte erhält durch § 258 Abs. 1 StPO das Recht, nach Beendigung der Beweisaufnahme und vor der endgültigen Entscheidung des Gerichts zum gesamten Sachverhalt und zu allen Rechtsfragen des Verfahrens Stellung zu nehmen. Die Vorschrift dient damit unmittelbar der Gewährleistung des durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör …. Dieses Recht erschöpft sich aufgrund seiner überragenden Bedeutung nicht in der bloßen Möglichkeit zur Äußerung; vielmehr muss den Verfahrensbeteiligten eine wirksame Ausübung ermöglicht werden. Das Gericht ist daher dazu verpflichtet, angemessene Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Verfahrensbeteiligten einen Schlussvortrag in der Weise halten können, wie sie ihn für sachdienlich erachten.

[8] Dabei steht es indes nicht im Belieben der Verfahrensbeteiligten, ob und in welchem Umfang eine Vorbereitungszeit zu gewähren ist. Was dazu erforderlich ist, bestimmt sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalls. Danach kann es je nach Umfang und Dauer der Hauptverhandlung sowie dem konkreten Prozessverlauf notwendig sein, zur Ausarbeitung der Schlussvorträge eine angemessene Vorbereitungszeit einzuräumen. Ob und ggf. in welchem Umfang diese zu gewähren ist, hat das Tatgericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wenn die Verfahrensbeteiligten eine Vorbereitungszeit verlangen. Für die Beurteilung der Angemessenheit derselben kann neben der Komplexität und dem Umfang der Sach- und Rechtslage insbesondere auch relevant sein, dass die Verfahrensbeteiligten bereits zuvor auf den anstehenden Schluss der Beweisaufnahme hingewiesen wurden oder aus anderen Gründen damit rechnen mussten, ihre Plädoyers halten zu müssen.

Bei einer Verletzung des § 258 Abs. 1 StPO ist – im Gegensatz zur gesetzlichen Vermutung des § 338 Hs 1 StPO und den dort abschließend aufgezählten sog. absoluten Revisionsgründen – stets die Prüfung erforderlich ist, ob das Urteil auf dem festgestellten Gesetzesverstoß beruht, § 337 Abs. 1 StPO. Die höchstrichterliche Rspr. ist in diesem Zusammenhang aber recht weitgehend, sodass bei Verstößen gegen § 258 StPO in der Regel nur ausnahmsweise ein „Beruhen“ insgesamt auszuschließen sein wird (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 258 Rn. 34 m.w.N.). Dabei gehört zum notwendigen Revisionsvorbringen der von der Verteidigung auf § 258 StPO zu stützenden Verfahrensrüge aber nicht, was der Verteidiger im Schlussvortrag noch hätte vorbringen wollen (Meyer-Goßner/Schmitt § 258 Rn. 33).

[10] Zwar konnten die Verfahrensbeteiligten ursprünglich davon ausgehen, dass am letzten von drei terminierten Hauptverhandlungstagen die Beweisaufnahme geschlossen wird und die Schlussvorträge zu halten sind. Da aber entgegen der Ladungsverfügung … am letzten Sitzungstag … mehrere Zeugen und zwei Sachverständige vernommen wurden, durfte die Strafkammer von den Verfahrensbeteiligten nicht bereits wegen der ursprünglichen Terminierung verlangen, unmittelbar nach dem Schluss der Beweisaufnahme den Verfahrensstoff sachgerecht aufbereitet zu haben.

[11] Unvertretbar aber war die Versagung jedweder Unterbrechung jedenfalls in der Zusammenschau mit der Bedeutung der Aussage des am letzten Sitzungstag vernommenen Zeugen B. Dessen Angaben waren nicht allein für den Tötungsvorsatz bedeutsam; besondere Relevanz kam ihnen … für das Tötungsmotiv zu. Damit bestand ein unmittelbarer Zusammenhang zu dem Hinweis auf eine Verurteilung des [A] wegen des höchststrafwürdigen Tötungsverbrechens eines versuchten Mordes aus niedrigen Beweggründen … , der trotz der seit der Anklageerhebung unveränderten Sachlage erst tags zuvor erteilt worden war.“

2. Das Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Inhalt eines sachgerecht vorbereiteten Schlussvortrags ein für A günstigeres Ergebnis bewirkt hätte, § 337 Abs. 1 StPO.

Ergebnis: Die Revision des A hat Erfolg. Das Urteil des Landgerichts ist aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere als Jugendkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen, § 349 Abs. 4 StPO.

Diese Rechtsprechung wurde für dich von StAin Dr. Christina Lang aufbereitet.

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Beitragsautor:

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt ist ein juristischer Fachverlag, der zudem juristische Lehrgänge und Repetitorien anbietet. In Kooperation mit JurCase präsentiert Alpmann Schmidt bei uns monatlich eine Rechtsprechung des Monats. Mehr Informationen zu Alpmann Schmidt gibt es hier.

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