BGH, Beschluss vom 18.10.2023 – 1 StR 222/23, BeckRS 2023, 37467
Schwerpunkt: §§ 52, 252 StPO
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Fall
A wurde wegen Vergewaltigung und Körperverletzung zum Nachteil seiner Schwester Z, die auch als Nebenklägerin an der Hauptverhandlung teilnahm, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Z hatte jeweils nach ordnungsgemäßer Belehrung über ihre Zeugenrechte im Ermittlungsverfahren zunächst bei einer polizeilichen Vernehmung, bei der aussagepsychologischen Sachverständigen S und vor dem Ermittlungsrichter ausgesagt und Angaben zum Tathergang gemacht. In der Hauptverhandlung machte sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO Gebrauch und gestattete zugleich, dass die Aussage bei S über ihre Angaben im Ermittlungsverfahren verwertet werden dürfe. Die Strafkammer will daraufhin die ermittlungsrichterliche Vernehmung der Z und deren Angaben bei der S ihrer Beweiswürdigung zugrunde legen. Dagegen will sie ausdrücklich nicht – auch nicht im Rahmen der Gutachtenerstattung – die polizeiliche Vernehmung der Z berücksichtigen.
Darf das Tatgericht Angaben der S über die Vernehmung der Z und die ermittlungsrichterliche Vernehmung im Urteil verwerten?
Das selbstständige Verwertungsverbot nach § 252 StPO ist in beiden juristischen Staatsexamen ein Prüfungsklassiker. Der BGH hat nun erstmals entschieden, dass ein Teilverzicht des Zeugen auf dieses Verwertungsverbot nicht zulässig ist.
Leitsatz
Gestattet ein Zeuge trotz Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 Abs. 1 StPO die Verwertung früherer Aussagen, so kann er dies nicht auf einzelne Vernehmungen beschränken. Ein Teilverzicht führt vielmehr dazu, dass sämtliche früheren Angaben – mit Ausnahme richterlicher Vernehmungen nach Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht – unverwertbar sind.
Gutachten
Prüfungsschema: Verwertungsverbot gemäß § 252 StPO
- Zeugnisverweigerungsrecht des Zeugen gemäß § 52 StPO
- Geltendmachung Zeugnisverweigerungsrecht in Hauptverhandlung
- Rechtsfolge: Umfassendes Verlesungs- und Verwertungsverbot früherer Angaben des Zeugen
- Ausnahmen
- Frühere Spontanäußerungen des Zeugen
- Richterliche Vernehmungen des Zeugen
- Vollständiger Verzicht des Zeugen auf § 252 StPO
Verstoß gegen § 252 StPO
Die Verwertung der Angaben der S und der ermittlungsrichterlichen Vernehmung könnte gegen § 252 StPO verstoßen.
I. Umfassendes Verwertungsverbot nach § 252 StPO
Aussage nicht zur Belastung eines Angehörigen beitragen lassen zu müssen, gilt § 252 StPO nach h.M. über den Wortlaut hinaus als umfassendes Verwertungsverbot, nicht nur als Verlesungsverbot, welches bereits aus § 250 S. 2 StPO folgt. Danach kann der Zeuge noch in der Hauptverhandlung entscheiden, ob seine frühere, vielleicht voreilige oder unbedachte Aussage verwertet werden darf. Beruft er sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 Abs. 1 StPO, unterliegen daher sämtliche früheren Angaben in nichtrichterlichen Vernehmungen grundsätzlich einem Beweisverwertungsverbot.
Verwertbar sind allerdings richterliche Vernehmungen nach Belehrung des Zeugen über sein Zeugnisverweigerungsrecht. Eine qualifizierte Belehrung des Zeugen, dass trotz seiner späteren Berufung auf § 52 StPO der Richter vernommen werden kann, ist nicht erforderlich (BGH RÜ 2017, 36).
II. Verzicht des Zeugen auf § 252 StPO
Nach der st.Rspr. kann der Zeuge auf die „Sperrwirkung seiner Zeugnisverweigerung“ verzichten, sodass dann seine früheren Angaben durch die Vernehmungsperson oder den Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführt werden können. Hintergrund ist, dass das Beweisverwertungsverbot nach § 252 StPO nur dem Schutz des Zeugen dient, der über diesen Schutz disponieren und durch die mittelbare Einführung seiner früheren Angaben zur Sachaufklärung beitragen kann. Dem Umstand, dass sich der Zeuge hierdurch einer konfrontativen Befragung entzieht, ist durch eine entsprechend vorsichtige Beweiswürdigung Rechnung zu tragen. Daher konnte Z im Grundsatz einerseits in der Hauptverhandlung als Schwester (siehe Art. 51 EGBGB i.V.m. § 1589 Abs. 1 BGB) des Angeklagten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO Gebrauch machen, um nicht selbst aussagen zu müssen, und andererseits die Verwertung ihrer früheren Angaben, auch solcher gegenüber der S, aus dem Ermittlungsverfahren gestatten.
III. Zulässigkeit des Teilverzichts
„[10] Ein solcher Teilverzicht ist unzulässig. Denn ein Zeuge kann nur in dem Rahmen über das Beweisverwertungsverbot verfügen, in dem es seinem Schutz dient. Schutzzweck des § 252 StPO i.V.m. § 52 Abs. 1 StPO ist es indes ausschließlich, die Entscheidungsfreiheit des Zeugen dahin zu gewährleisten, ob er in einem Strafprozess gegen einen Angehörigen aussagen und so ggf. zu dessen Belastung beitragen möchte. Das bedeutet: Der Zeuge kann entscheiden, ob er sich als Beweismittel zur Verfügung stellen will oder nicht. Darüber hinaus hat er kein schützenswertes Interesse daran, den Umfang der Verwertbarkeit der von ihm bereits vorliegenden Angaben zu bestimmen, weshalb insoweit im Interesse des Angeklagten und der Allgemeinheit an der Wahrheitserforschung seinem Einfluss auf das Strafverfahren Grenzen zu ziehen sind.“
Ergebnis
Danach konnte Z nach ihrer Zeugnisverweigerung nicht bloß teilweise über § 252 StPO disponieren. Das Tatgericht kann also nur die Angaben aus der richterlichen Vernehmung, aber nicht die Angaben gegenüber der S verwerten.
Diese Rechtsprechung wurde für dich von Notarassessor Dr. Manuel Ladiges, LL.M. (Edinburgh) aufbereitet.
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