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Rechtsprechung des Monats August 2023: Voraussetzungen für die Eigentumsvermutung des 
mittelbaren Besitzers aus § 1006 Abs. 3 BGB

By 7. August 2023November 3rd, 2023No Comments
Rechtsprechung des Monats

§§ 868, 1006 BGB; §§ 286, 292 ZPO

Voraussetzungen für die Eigentumsvermutung des 
mittelbaren Besitzers aus § 1006 Abs. 3 BGB

OLG Hamm, Beschl. v. 09.01.2023 – 7 U 124/22, BeckRS 2023, 7636

In Kooperation mit Alpmann Schmidt präsentieren wir nunmehr die Rechtsprechung des Monats. Hierbei handelt es sich um eine examensrelevante Rechtsprechung, die dir von einem Praktiker vorgestellt wird.

Leitsätze

  1. Die Eigentumsvermutung nach § 1006 Abs. 3 BGB kommt nicht zur Anwendung, wenn der Kläger nicht beweist, dass er zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens mittelbarer Besitzer und der Fahrer nur aufgrund eines Besitzmittlungsverhältnisses i.S.d. § 868 BGB unmittelbarer Besitzer war.
  2. Zum Beweis von Eigentum sowie mittelbarem Besitz genügt allein weder die Vorlage der Zulassungsbescheinigung II noch erst recht nicht die der Zulassungsbescheinigung I.
  3. Bei fehlender Beteiligung einer beklagten Partei an einem vermeintlichen Kaufvertragsschluss der anderen Partei mit einem Dritten spricht zu Gunsten der anderen Partei keine Vermutung für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Kaufvertragsurkunde.

Fall

Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall wegen der Beschädigung eines Pkw gegen den beklagten Haftpflichtversicherer geltend. Der auf Klägerseite beteiligte Pkw wurde durch den Zeugen A gesteuert. Die Beklagte bestreitet im gerichtlichen Verfahren ausschließlich die Aktivlegitimation der Klägerin. Die Beklagte hat vorgerichtlich, als der Streit bezüglich der Aktivlegitimation der Klägerin noch nicht aufgekommen war, einen Teil des Schadens reguliert.

Die Klägerin behauptet, sie betreibe ein Gewerbe, zu dessen Ausführung sie den Pkw angeschafft und dem A vermietet habe. Sie ist der Meinung, ihr Eigentum ergebe sich aus den Zulassungsbescheinigungen I und II sowie dem Kaufvertrag über das Fahrzeug, die sämtlich auf ihren Namen lauten, was unstreitig ist. Sie meint, auf die Frage der Eigentümerstellung komme es für den Schadensersatzanspruch auch deshalb nicht an, weil in der Teilregulierung der Beklagten ein Schuldanerkenntnis liege.

Die Beklagte behauptet, tatsächlich sei der Zeuge A selbst, der der Sohn der Klägerin ist, Inhaber des Gewerbes. Das Gewerbe sei lediglich auf den Namen der Klägerin als Strohfrau angemeldet worden. Tatsächlich stünden sämtliche Fahrzeuge im Eigentum und Besitz des Zeugen A. Nur dieser könne daher, bei entsprechender Vermietung an Dritte, mittelbarer Besitzer der Fahrzeuge sein.

Die Aussage des Zeugen A zu dieser Frage bleibt unergiebig.

Entwerfen Sie die Entscheidungsgründe des zuständigen Gerichts (ohne Nebenentscheidungen).

Vorüberlegung

Der Fall betrifft mehrere gesetzliche und ungeschriebene Vermutungstatbestände. Greift die Vermutungswirkung, so ist die streitige Tatsache (hier die Eigentümerstellung) nicht mehr beweisbedürftig.

1. Der Gegner muss dann bei einer gesetzlichen Vermutung das Gegenteil beweisen, § 292 ZPO.

Vgl. näher dazu AS-Skript Die zivilgerichtliche Assessorklausur (2023), Rn. 864 ff. Die Grenze zwischen Anscheinsvermutung und Anscheinsbeweis ist fließend.

Neben den gesetzlich normierten Vermutungen gibt es ungeschriebene Vermutungen, die auch Anscheinsvermutungen oder tatsächliche Vermutungen genannt werden. Diese sind von der Rspr. herausgebildet worden. Anders als bei der gesetzlichen Vermutung muss der Gegner beim Eingreifen der Vermutungswirkung nicht das Gegenteil beweisen. Es genügt, die Vermutung zu erschüttern.

Greift keine gesetzliche oder tatsächliche Anscheinsvermutung, so muss der Anspruchsteller den Vollbeweisführen.

2. Einen wichtigen Fall einer gesetzlichen Vermutung bildet § 1006 BGB für das Eigentum an einer beweglichen Sache. Der unmittelbare Besitzer muss gemäß § 1006 Abs. 1 S. 1 BGB lediglich seinen unmittelbaren Besitz nachweisen, also eine einzige Tatsache, damit die Vermutung eingreift, dass er auch Eigentümer ist. Die Sache wäre also sehr einfach gewesen, wenn der Zeuge A selbst geklagt hätte: Er war unmittelbarer Besitzer, gemäß § 1006 Abs. 1 BGB wäre also vermutet worden, dass er auch Eigentümer war.

3. Da im vorliegenden Fall unmittelbarer Besitzer des Fahrzeugs aber A war, kann die Klägerin nur mittelbare Besitzerin gewesen sein. Für die Eigentumsvermutung muss daher gemäß § 1006 Abs. 3 BGB der mittelbare Besitz nachgewiesen werden. Der mittelbare Besitz erfordert nach § 868 BGB ein Besitzmittlungsverhältnis. Dabei handelt es sich wiederum um eine Rechtsfrage. Die Klägerin muss also einen Sachverhalt vortragen und beweisen, aufgrund dessen angenommen werden kann, dass A zu ihr in einem Besitzmittlungsverhältnis stand. Das wäre bei einem Mietverhältnis zwischen der Klägerin und A wohl zweifellos der Fall. Die Klägerin muss aber beweisen, dass es ein solches Mietverhältnis gab.

Gründe (ohne Tatbestand und Nebenentscheidungen)

Statt „aktivlegitimiert“ können Sie auch schreiben, dass die Klägerin nicht Anspruchsinhaberin ist.

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin ist nicht aktivlegitimiert.

1. „[3] Die Eigentümerstellung der Klägerin am streitgegenständlichen Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt stehtnicht mit der nach § 286 ZPO erforderlichen Gewissheit fest.

[4] Das strenge Beweismaß des § 286 ZPO verlangt die volle Überzeugung des Gerichts. Diese erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet.

[5] Hier bestehen erhebliche Zweifel, denen die Klägerin … kein Schweigen gebieten konnte.

[6] Die Klägerin kann sich nichtauf die Eigentumsvermutung des § 1006 BGB berufen.

[7] § 1006 Abs. 1 S. 1 BGB kommt nicht zur Anwendung, da sie zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens unstreitig nicht unmittelbare Besitzerin des streitgegenständlichen Fahrzeugs war.

[8] Auch § 1006 Abs. 3 BGB kommt nicht zur Anwendung, da die Klägerin nicht bewiesen hat, dass sie zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens mittelbare Besitzerin und der Zeuge A nur aufgrund eines Besitzmittlungsverhältnisses i.S.d. § 868 BGB unmittelbarer Besitzer gewesen wäre.

[9] Daran bestehen … ebenso erhebliche Zweifel wie an ihrer Behauptung, sie sei zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens Eigentümerin des Fahrzeugs gewesen.

[10] Zum Beweis von Eigentum wie (mittelbarem) Besitz genügt allein weder die Vorlage der Zulassungsbescheinigung II – noch erst recht nicht die der Zulassungsbescheinigung I –, weil sie keine Aussage zum Eigentum treffen, noch die Vorlage des schriftlichen Kaufvertrages.

Bzgl. des Kaufvertrags behandelt das OLG Hamm an dieser Stelle inzident in der Prüfung der Voraussetzungen der gesetzlichen Vermutung aus § 1006 Abs. 3 BGB eine tatsächliche Vermutung/Anscheinsvermutung:

Es spricht aufgrund der fehlenden Beteiligung der Beklagten an dem vermeintlichen Vertragsschlusszugunsten der Klägerin auch keine Vermutung für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Kaufvertragsurkunde.

[11] Zulassungsbescheinigungen und Kaufvertrag stellen damit nur Indizien dar, die in die Beweiswürdigung neben der vorrangig durchzuführenden Beweisaufnahme durch Vernehmung von Zeugen und ggf. Parteien in die Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO einfließen können. ´

Privaturkunden wie ein (nicht notariell beurkundeter) Kaufvertrag begründen gemäß § 416 ZPO vollen Beweis nur dafür, dass die in ihnen enthaltenen Erklärungen von den Ausstellern abgegeben sind. Ob diese Erklärungen aber auch inhaltlich richtig sind, ergibt sich daraus nicht. Deshalb hat die Rechtsprechung über § 416 ZPO hinaus eine tatsächliche Vermutung für die inhaltliche Richtigkeit entwickelt. Diese Vermutung gilt aber nur zwischen den Beteiligten des Kaufvertrages (Leitsatz 3).

[12] Den erforderlichen Nachweis hat die Beweisaufnahme nicht erbracht.

[Die Aussage des Zeugen A ist unergiebig geblieben und konnte die Indizwirkung der Zulassungsbescheinigung nicht erhärten.]

[15] Es besteht die ernsthafte Möglichkeit, dass tatsächlich der Zeuge weiterhin wahrer Betreiber des Gewerbes war und das Geschäft nur unter dem Namen der Mutter geführt hat, ohne Eigentum und Besitz an den Fahrzeugen auf die Klägerin zu übertragen. Diese ernsthafte Möglichkeit schließt eine Überzeugungsbildung von der Eigentümerstellung der Klägerin zum Unfallzeitpunkt nach § 286 ZPO aus.“

2. „[16] Die Beklagte zu 2 hat mittels der Teilregulierung auch kein Anerkenntnis hinsichtlich der Eigentümerstellung abgegeben.

Anhaltspunkte für ein abstraktes Schuldanerkenntnis bestehen nicht (§§ 133, 157 BGB).

Unter Rn. 12–13 müsste nun die eigentliche Beweiswürdigung folgen: Wieso war die Aussage des Zeugen unergiebig? Dazu kann hier natürlich nichts weiter ausgeführt werden, da die Aussage des Zeugen im hier geschilderten Sachverhalt (anders als im Aktenauszug im 2. Staatsexamen) nicht wiedergegeben wurde.

Aber auch ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis, das ein bestehendes Schuldverhältnis lediglich bestätigte, liegt nicht vor, da durch dieses ein Schuldverhältnis insgesamt oder in einzelnen Bestimmungen dem Streit oder der Ungewissheit entzogen werden soll, indem es die Berufung auf das Fehlen anspruchsbegründender Tatsachen und das Bestehen rechtshindernder wie -vernichtender Einwendungen und Einreden ausschließt. Hier stand indes … die Eigentümerstellung zunächst gar nicht in Streit und sollte damit auch nicht einem Streit oder einer Ungewissheit entzogen werden. Auch auf § 242 BGB kann sich die Klägerin insoweit nicht berufen.“

1. Die fehlende Aktivlegitimation (die Klägerin ist also nicht Anspruchsinhaber) können Sie als Anwalt auf Klägerseite häufig klären und dadurch diesen Streitpunkt „abräumen“. Schon wenn die Aktivlegitimation auch nur zweifelhaft erscheint, kann der weitere möglicherweise in Betracht kommende Anspruchsinhaber (hier der Zeuge A) den Anspruch einfach an die Klägerin abtreten. Sollte das Gericht zu dem Ergebnis gelangen, dass die Klägerin ohnehin bereits Anspruchsinhaberin war, so ginge die Abtretung ins Leere. Das muss aber rechtzeitigerfolgen, also möglichst direkt dann, wenn die Aktivlegitimation durch die Beklagtenseite erstmals in Zweifel gezogen wird – und natürlich vor einer Verjährung des Anspruchs. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin eine Abtretung erst in der Berufungsinstanz behauptet, was nach der Entscheidung des OLG Hamm (der Punkt ist hier nicht abgedruckt) zu spät war.

Dazu näher AS-Skript Die zivilgerichtliche Assessorklausur (2023), Rn. 463 ff.

Alternativ zu einer Abtretung besteht auch die Möglichkeit der gewillkürten Prozessstandschaft. Dabei muss aber zunächst geprüft werden, ob die Voraussetzungen vorliegen. Insbesondere sind ein berechtigtes Interesse und eine Offenlegung der Prozessstandschaft erforderlich.

Wird die Klage wie hier mangels Aktivlegitimation abgewiesen, bedeutet das zunächst nur, dass die Klägerin keinen Anspruch gegen den Beklagten hat. Das hindert den Zeugen A nicht, nun seinerseits zu behaupten, er sei Eigentümer und eine neue Klage – nun im eigenen Namen – gegen die Beklagte zu erheben.

2. Auch Ziff. 2 ist praktisch sehr relevant. Der Einwand, in Abschlagszahlungen oder Teilregulierungen sei ein abstraktes oder deklaratorisches Schuldanerkenntnis zu sehen, wird sehr oft erhoben. Die Entscheidung des OLG Hamm zeigt, wie man diesen Einwand abhandeln kann.

Diese Rechtsprechung wurde für dich von VRiLG Peter Finke aufbereitet.

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Beitragsautor:

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt

Alpmann Schmidt ist ein juristischer Fachverlag, der zudem juristische Lehrgänge und Repetitorien anbietet. In Kooperation mit JurCase präsentiert Alpmann Schmidt bei uns monatlich eine Rechtsprechung des Monats. Mehr Informationen zu Alpmann Schmidt gibt es hier.

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