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Fall des Monats Juli 2021: Amtshaftung bei unwirksamer Rechtsverordnung

By 15. Juli 2021Oktober 10th, 2023No Comments
Fall des Monats

Problem: Amtshaftung bei unwirksamer Rechtsverordnung
Einordnung: Staatshaftungsrecht

BGH, Urteil vom 28.01.2021 III ZR 25/20

EINLEITUNG

Bei dem Urteil des BGH handelt es sich um eine der eher seltenen examenstauglichen Entscheidungen aus dem Bereich des Staatshaftungsrechts. Allein das begründet schon ihre Prüfungsrelevanz. Konkret hatte der BGH zu klären, ob ein rechtswidriges materielles Gesetz einen Amtshaftungsanspruch begründen kann.

SACHVERHALT

Die Klägerin nimmt das Land Hessen aus abgetretenem Recht auf Schadensersatz wegen der Unwirksamkeit der von der Landesregierung 2015 erlassenen Mietenbegrenzungsverordnung in Anspruch. Die ursprünglichen Rechtsinhaber mieteten im Jahr 2017 eine Wohnung in Frankfurt am Main an. Der betreffende Stadtteil war in der Mietenbegrenzungsverordnung als Gebiet mit angespanntem Wohnungsmarkt im Sinne von § 556d II BGB festgelegt. Die Klägerin nahm aus abgetretenem Recht der Mieter deren Vermieterin in einem Vorprozess auf Rückzahlung überhöhter Miete in Anspruch, wobei sie sich auf die Mietenbegrenzungsverordnung stützte. Diese Verordnung ist indes wegen Verstoßes gegen die in § 556d II 5-7 BGB bestimmte Begründungsverpflichtung unwirksam. Deshalb wurde die Klage der Klägerin abgewiesen.

Mit der vorliegenden Teilklage macht die Klägerin nunmehr gegen das beklagte Land als Schaden der Mieter geltend, dass diesen bei Wirksamkeit der Mietenbegrenzungsverordnung ein Rückzahlungsanspruch gegen die Vermieterin für die im August 2017 gezahlte Miete zugestanden hätte. Sie hält die Voraussetzungen eines Amtshaftungsanspruchs für gegeben. Mit dem Erlass der fehlerhaften Verordnung habe das beklagte Land eine ihm gegenüber den Mietern obliegende Amtspflicht verletzt. Ist diese Rechtsansicht zutreffend?

LEITSÄTZE (DER REDAKTION)

  1. Der für eine Amtshaftung erforderliche Drittbezug der verletzten Amtspflicht fehlt grundsätzlich bei rechtsfehlerhaft erlassenen formellen und materiellen Gesetzen. Etwas anderes kommt nur in Ausnahmefällen, insbesondere bei sog. Maßnahme- oder Einzelfallgesetzen in Betracht. Das setzt voraus, dass Belange einer Einzelperson oder eines individuell bestimmten Personenkreises berührt werden.
  2. Eine Grundrechtsverletzung vermag für sich betrachtet bei rechtsfehlerhaften Gesetzen nicht den erforderlichen Drittbezug zu begründen, weil anderenfalls das einschränkende Tatbestandserfordernis des „Dritten“ in Art. 34 S. 1 GG und § 839 I 1 BGB weitgehend leerlaufen und der Parlamentsvorbehalt nicht gewahrt würde.

LÖSUNG

Die Rechtsansicht der Klägerin ist zutreffend, wenn das beklagte Land tatsächlich i.S.v. Art. 34 S. 1 GG i.V.m. § 839 I 1 BGB eine ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt hat und die Mieter zum geschützten Personenkreis gehören.

Andere mögliche Zitierung: § 839 I 1 BGB i.V.m. Art. 34 S. 1 GG

Problem: Drittbezug der verletzten Amtspflicht

„[11] […] Ob der Geschädigte im Sinne dieser Vorschrift „Dritter” ist, richtet sich […] danach, ob die Amtspflicht – wenn auch nicht notwendig allein, so doch auch – den Zweck hat, gerade sein Interesse wahrzunehmen. Nur wenn sich aus den die Amtspflicht begründenden und sie umreißenden Bestimmungen sowie aus der besonderen Natur des Amtsgeschäfts ergibt, dass der Geschädigte zu dem Personenkreis zählt, dessen Belange nach dem Zweck und der rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäfts geschützt und gefördert werden sollen, besteht ihm gegenüber bei schuldhafter Pflichtverletzung eine Schadensersatzpflicht. Hingegen ist anderen Personen gegenüber, selbst wenn die Amtspflichtverletzung sich für sie mehr oder weniger nachteilig ausgewirkt hat, eine Ersatzpflicht nicht begründet. Es muss mithin eine besondere Beziehung zwischen der verletzten Amtspflicht und dem geschädigten „Dritten” bestehen.

Erläuterung, wann ein Drittbezug vorliegt

[12] Amtspflichten der öffentlichen Amtsträger dienen in erster Linie dem Interesse der Allgemeinheit an einem geordneten Gemeinwesen. Soweit sich die Pflichten darin erschöpfen, diesem Allgemeininteresse zu dienen, und noch keine besonderen Beziehungen zwischen diesen Amtspflichten und bestimmten Personen oder Personengruppen in dem zuvor aufgezeigten Sinne bestehen, kommen sonach bei Verletzung dieser Pflichten Schadensersatzansprüche für Außenstehende nicht in Betracht. Um derartige Amtspflichten handelt es sich im Allgemeinen bei den Pflichten, die für die dafür Verantwortlichen im Rahmen der Gesetzgebungsaufgaben bestehen. Gesetze und Verordnungen enthalten durchweg generelle und abstrakte Regeln, und dementsprechend nimmt der Gesetzgeber – bei Tätigwerden und Untätigbleiben – in der Regel ausschließlich Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit wahr, denen die Richtung auf bestimmte Personen oder Personenkreise fehlt. Nur ausnahmsweise – etwa bei sogenannten Maßnahme- oder Einzelfallgesetzen kann etwas Anderes in Betracht kommen und können Belange bestimmter Einzelner unmittelbar berührt werden, so dass sie als „Dritte” im Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 1 angesehen werden können.“

Amtspflichten dienen primär dem Allgemeininteresse

Drittbezug im Rahmen der Gesetzgebung grds. (-)

Ausnahme: Maßnahme- oder Einzelfallgesetze

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Mietenbegrenzungsverordnung 2015 ein Maßnahme- oder Einzelfallgesetz in diesem Sinne ist.

  1. Maßnahme- oder Einzelfallgesetz

„[14] Ein solches Gesetz setzt – wie ausgeführt – voraus, dass Belange bestimmter Einzelner, das heißt einer Einzelperson oder eines individuell bestimmten Personenkreises, berührt werden. Das ist zu verneinen, wenn sich das Gesetz an einen unüberschaubar großen und nicht individuell begrenzten Personenkreis richtet. Ohne Bedeutung ist dabei die begrenzte Geltungsdauer eines Gesetzes. So können auch abstrakt-generelle Gesetzesbestimmungen – wie hier (§ 2 Satz 2 Mieten- begrenzungsverordnung 2015; siehe auch § 556d Abs. 2 Satz 1) – zeitlich befristet sein, ohne hierdurch zu einem Maßnahme- oder Einzelfallgesetz in vorstehendem Sinne zu werden. Dagegen kann ein räumlich oder sachlich beschränkter Geltungsbereich eines Gesetzes dieses als Maßnahme- oder gar Einzelfallnorm qualifizieren, wenn er derart eng ist, dass sich aus ihm die Betroffenheit eines überschaubaren und individuell bestimmten Personenkreises ergibt.

Entscheidend: Betroffenheit eines individuell begrenzten Personenkreises

[17] […] Die Vorinstanzen haben zutreffend ausgeführt, dass die Regelung angesichts ihres räumlichen und persönlichen Geltungsbereichs nicht einzeln identifizierbare Mieter (und Vermieter) betrifft, sondern eine nicht überschaubare Vielzahl von Personen. Sie umfasst räumlich – vollständig oder in großen Teilen – 16 hessische Gemeinden, darunter die fünf einwohnerstärksten des Landes. Persönlich betrifft sie Mieter und Vermieter, bei deren in den fraglichen Gebieten belegenen Wohnungen es zu einer Nachvermietung kommt. Damit handelt es sich um einen unüberschaubar großen und nicht individuell begrenzten Personenkreis. Dementsprechend ist die Mietenbegrenzungsverordnung 2015 kein Maßnahme- oder Einzelfallgesetz im vorstehenden Sinne, sondern eine ihrem Zweck nach allein auf die Wahrung des Interesses der Allgemeinheit und nicht bestimmter Einzelner oder eines bestimmten Personenkreises gerichtete Regelung.“

Hier: Kein individuell begrenzter Personenkreis

  1. Drittbezug wegen einer Grundrechtsverletzung

Möglicherweise ergibt sich der für die Amtshaftung notwendige Drittbezug der verletzten Amtspflicht aber daraus, dass ein rechtswidriger Grundrechtseingriff vorliegt.

Anderes Ergebnis wegen Grundrechtsverletzung?

„[21] […] Soweit […] im Schrifttum eine Drittbezogenheit bereits dann angenommen wird, wenn der Gesetzgeber durch grundrechtswidrige Gesetzgebung subjektive Rechte der betreffenden Grundrechtsinhaber verletzt, kann dem – in dieser Einschränkungslosigkeit – nicht gefolgt werden. Durch ein solches Verständnis würde der Begriff des „Dritten“ im Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB seine Konturen und damit seine haftungsbegrenzende Funktion verlieren. § 839 BGB ist in ein deliktsrechtliches System eingebettet, das grundsätzlich nur Schadensersatzansprüche des unmittelbar Verletzten kennt. Mit dieser Beschränkung des Kreises der Ersatzberechtigten auf die unmittelbar Verletzten steht die Regelung des § 839 BGB in Einklang, wonach dem unmittelbar Verletzten der „Dritte“ entspricht, demgegenüber die verletzte Amtspflicht bestand. Verflüchtigte man diesen Drittbezug zu einem bloßen „Drittschutz“, gäbe man also die individualisierbare Beziehung als Abgrenzungskriterium auf, hätte dies eine qualitative Veränderung des Amtshaftungstatbestandes zur Folge, der in seiner Konzeption allein den Zweck hat, individuelle Schadensfälle zu regulieren.

Maunz/Dürig, GG, Art. 34 Rn 195, 197; vgl. auch Münchener Kommentar, BGB, 839 Rn 318

Nein, weil der Drittbezug dann grenzenlos wird

Systematisches Argument

[24] Gerade bei einem Verstoß der öffentlichen Hand gegen Art. 2 Abs. 1 GG, der die allgemeine Handlungsfreiheit umfassend schützt, würde sehr häufig auch ein zum Schadensersatz verpflichtendes Verhalten im Sinne des § 839 BGB vorliegen, wenn man die von der Revision vertretene Auffassung teilen wollte. Denn Art. 2 Abs. 1 GG verbietet hoheitliche Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers, die nicht durch eine der verfassungsmäßigen Ordnung entsprechende Rechtsgrundlage gedeckt sind. Wollte man in diesen Fällen stets wegen des Grundrechtsverstoßes auch die Drittgerichtetheit der verletzten Amtspflicht bejahen, so würde das einschränkende Tatbestandserfordernis des „Dritten“ weitgehend leerlaufen. Das wäre umso weniger tragbar, als der Verstoß gegen die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG sich gerade aus der Verletzung von Vorschriften ergeben kann, die ausschließlich im Allgemeininteresse erlassen worden sind, wie das auch vorliegend der Fall war.

Teleologisches Argument: Wegen Art. 2 I GG würde eine komplette Aushebelung des Merkmals des Drittbezugs drohen.

[25] Die erhebliche Ausdehnung der Staatshaftung für legislatives Unrecht, die mit der Annahme einer Drittbezogenheit bei jeder Verletzung subjektiver Rechte von Grundrechtsträgern durch grundrechtswidrige Gesetzgebung zwangsläufig verbunden wäre, kommt jedenfalls nicht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung in Betracht. An den Gesetzgeber als Schadensverursacher hat bei der Normierung der Amtshaftung niemand gedacht. Ihn kurzerhand kraft richterrechtlicher Rechtsschöpfung in den Kreis der potentiellen Schädiger einzubeziehen, würde die methodisch zulässigen Grenzen der Gesetzesanwendung und -interpretation überschreiten.

Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung

[26] Die Zubilligung von Schadensersatz- und Entschädigungsansprüchen für legislatives Unrecht in Gestalt eines mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbarenden Gesetzes hätte zudem für die Staatsfinanzen weitreichende Folgen. Schon das spricht dafür, die Haushaltsprärogative des Parlaments in möglichst weitgehendem Umfang zu wahren und die Gewährung von Entschädigung für legislatives Unrecht der Entscheidung des Parlamentsgesetzgebers zu überantworten. […] Besteht im Einzelfall ein Bedürfnis, die für den Bürger nachteiligen Folgen legislativen Unrechts auszugleichen, mag daher der Gesetzgeber tätig werden.

Parlamentsvorbehalt/Wesentlichkeitstheorie: Wegen der finanziellen Haftungsfolgen bei einem rechtsfehlerhaften Gesetz muss der Parlamentsgesetzgeber selbst eine spezielle Entschädigungsregelung schaffen.

  1. Drittbezug wegen enttäuschten Vertrauens

Möglicherweise könnte sich der Drittbezug aber aus dem enttäuschten Vertrauen der Mieter in die Wirksamkeit der Mietenbegrenzungsverordnung 2015 ergeben.

„[28] In der Rechtsprechung des Senats wird ein allgemeiner Anspruch auf angemessene Entschädigung für Aufwendungen, die im enttäuschten Vertrauen auf die Wirksamkeit einer Rechtsnorm gemacht worden sind, nicht anerkannt. Soweit Gegenstand dieser Rechtsprechung ein formelles Parlamentsgesetz war, ergibt sich hieraus keine entsprechende Beschränkung. Für Rechtsverordnungen gilt nichts Anderes. Denn auch sie enthalten zumeist generelle und abstrakte Regeln, durch die der Verordnungsgeber in der Regel ausschließlich Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit wahrnimmt mit der Folge, dass auch ihnen die für die Amtshaftung erforderliche Drittbezogenheit fehlt.“

BGHZ 84, 292, 297

Gleichbehandlung von formellen und materiellen Gesetzen¢Drittbezug (-)

Durch die rechtswidrige Mietenbegrenzungsverordnung 2015 hat das Land Hessen keine ihm den Mietern gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt.

FAZIT

Das Urteil sollte zunächst zum Anlass genommen werden, sich den Amtshaftungsanspruch noch einmal zu vergegenwärtigen. Das vom BGH intensiv erörterte Merkmal des Drittbezugs der verletzten Amtspflicht stellt auch in Klausuren typischerweise einen Prüfungsschwerpunkt dar. Im konkret entschiedenen Fall steht der Annahme des Drittbezugs letztlich die Wesentlichkeitstheorie entgegen: würde die Amtshaftung bei rechtsfehlerhaften Gesetzen zur Anwendung kommen, drohten die finanziellen Folgen den Staat zu überfordern. Mit seinen Ausführungen hat der BGH den wiederholten Versuchen in der Literatur, im Falle einer Grundrechtsverletzung automatisch einen Drittbezug anzunehmen, erneut eine Abfuhr erteilt. Ein solches Rechtsverständnis würde – wegen des umfassenden Grundrechtsschutzes durch Art. 2 I GG – das Merkmal des Drittbezugs letztlich aushebeln.

Die examensrelevante Ausnahmekonstellation, in der ein Drittbezug bei rechtsfehlerhaften Gesetzen doch einmal in Betracht kommt, ist der fehlerhafte Bebauungsplan (B-Plan). Denn die vom B-Plan betroffenen Grundstückseigentümer sind ein räumlich und individuell begrenzter Personenkreis, deren Interessen bei der Planaufstellung im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen sind.

Guter Übersichtsaufsatz zur Amtshaftung: Wittreck/Wagner, JURA 2013, 1213

BGH, Urteil vom 30.1.1975, III ZR 18/72, juris Rn 39

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