Problem: Notwegerecht im Sinne von § 917 BGB bei mehreren denkbaren Notwegen
Einordnung: Sachenrecht
OLG Schleswig, Urteil vom 30.09.2021 11 U 18/21
EINLEITUNG
Über die zahlreichen Probleme, die zwischen Grundstücksnachbarn wegen eines Notwegerechts gem. § 917 BGB entstehen können, stellten wir zuletzt in der RA Mai 2020 auf Seite 234 ein BGH-Urteil sowie in der RA April 2020 auf Seite 176 ein Urteil des OLG Koblenz vor.
SACHVERHALT
Die K sind Miteigentümer eines Hausgrundstücks, das über eine Straße anfahrbar ist. Dieses Straßengrundstück, nachfolgend bezeichnet als Weg X, und weitere benachbarte Stichweggrundstücke wurden herrenlos. Als die Herrenlosigkeit des Grundstücks bekannt wurde, eigneten sich weder die Gemeinde noch die K das Weggrundstück X an. Im Jahr 2017 wurde Herr S. als Eigentümer des Weggrundstücks eingetragen. Dieser veräußerte im Jahr 2018 das Grundstück an B und dessen Ehefrau. B wandte sich mit einem Schreiben „im Auftrag der neuen Eigentümer“ an die Anlieger und untersagte ihnen jegliche Nutzung ohne schriftliche Zustimmung. Später errichtete er Verbotsschilder und sperrte die Einmündungen des Wegs X in die Straße Z und des Wegs Y in die Straße H mit Betonringen ab. Die K können zu ihrer auf ihrem Grundstück belegenen, nach den Festsetzungen des Bebauungsplans zulässigerweise errichteten Garage nur über den Weg X oder über den Weg Y kommen. Die Nutzung des Weges Y hat die Ehefrau des B untersagt. Die Nutzung des Weges X stellt die Zufahrt zum Grundstück dar, welche am Schwächsten in die Eigentümerrechte Dritter eingreift. Die K verlangen von B, es zu unterlassen, auf dem Flurstück Hindernisse zu errichten, die die Zufahrt zu ihrer Garage erschweren. B verweist auf die Möglichkeit, außerhalb des Grundstücks zu parken und zu Fuß zu gehen und steht ferner auf dem Standpunkt, die K hätten es aus Geiz und Bequemlichkeit unterlassen, sich den Weg X anzueignen, um nunmehr von den Leistungen des B zu profitieren. Zu Recht?
LEITSÄTZE
- Bei einer Mehrheit von Störern besteht ein Unterlassungsanspruch gegen jeden denkbaren Störer unabhängig vom Tatbeitrag.
- Bei einer Mehrheit von denkbaren Notwegen i.S.v. § 917 BGB wird den Berechtigten nicht
das Recht eingeräumt, einen für sie bequemen Wegverlauf zu wählen. Das Notwegerecht entsteht in seiner konkreten gesetzlichen Ausgestaltung mit dem Vorliegen von dessen Voraussetzungen. - Im Rahmen der Ausübung eines Notwegerechts ist der Verlauf zu wählen, der für den Duldungspflichtigen die geringstmögliche Belastung darstellt. Die Nutzung eines Weges als Weg durch Dritte ist dabei für die Grundstückseigentümer grundsätzlich nur mit geringen Belastungen verbunden.
LÖSUNG
A. Anspruch der K gegen B auf Unterlassung der Errichtung der Hindernisse auf dem Weg X gem. § 1004 I BGB
Die K könnten gegen B einen Anspruch auf Unterlassung der Errichtung von Hindernissen auf dem Weg X gem. § 1004 I 2 BGB haben. Dann muss B als Störer in das Eigentum der K in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung eingegriffen haben, es muss eine Wiederholungsgefahr bestehen und es dürfen die K nicht zur Duldung verpflichtet sein.
Voraussetzungen des § 1004 I 2 BGB
I. Eigentum der K
Die K müssten in ihrem Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder durch Vorenthaltung verletzt sein.
[20] Die Kläger haben ein Notwegerecht an dem Grundstück des Beklagten, und zwar über den Weg X bis zur Straße Z.
[21] Voraussetzung für das Notwegerecht nach § 917 Abs. 1 BGB ist, dass dem Grundstück die zur ordnungsgemäßen Benutzung notwendige Verbindung mit einem öffentlichen Wege fehlt. Das klägerische Grundstück hat keine Verbindung zu einem öffentlichen Grundstück. Die ordnungsgemäße Benutzung des Wohngrundstücks erfordert auch die Zufahrt für Kraftfahrzeuge. Diese ist nur unter Nutzung des Weges X möglich, nicht dagegen über den Weg W. Wenn auf einem Grundstück Garagen nicht genehmigt und nicht genehmigungsfähig sind, kann zwar der Fall eintreten, dass das Notwegerecht nicht zum Befahren berechtigt, weil das Grundstück nicht ordnungsgemäß genutzt wird (…). Der örtliche Bebauungsplan ist indessen bestandskräftig und gilt; die Garagen sind genehmigt; ihre Nutzung ist ordnungsgemäß.
Voraussetzungen des § 917 BGB
Das OLG nimmt Bezug auf das Urteil des BGH vom 24.01.2020, V ZR 155/18, Rn 27 = RA 05/2020, 234, in dem es u.a. auch um die Voraussetzungen der Entstehung von Gewohnheitsrecht ging.
[22] Dem Verlauf des Notwegs über den Weg X steht nicht entgegen, dass die Kläger auch über die Wege D und Y zu ihrem Grundstück gelangen können. Im Rahmen der Ausübung eines Notwegerechts ist der Verlauf zu wählen, der für den Duldungspflichtigen die geringstmögliche Belastung darstellt. Die inhaltliche Beschränkung des Eigentumsrechts des Nachbarn kann nur so weit reichen, wie sie zur Behebung der Notlage des gefangenen Grundstücks erforderlich ist. Im Rahmen der Abwägung ist dabei auf objektive Gesichtspunkte, wie etwa Nutzungsart und Zuschnitt der Grundstücke abzustellen (…).
Wichtiger Aspekt des vorliegenden Falles: Die geringstmögliche Belastung ist zu suchen.
[23] Da insgesamt 4 Wohngrundstücke durch den Weg X erschlossen werden, muss dieser zwangsläufig befahren werden. Würde der Notweg über den Weg Y verlaufen, der selbst kein Wohngrundstück erschließt, wäre auch dieses Grundstück für den Beklagten und seine Ehefrau nicht uneingeschränkt nutzbar, es wären zwei Grundstücke statt eines Grundstücks belastet. Die Belastung wäre damit objektiv größer. Der Beklagte trägt auch nicht vor, aus welchem Grund die Nutzung des Weges X in Richtung der Straße Z die Eigentümergemeinschaft stärker belastet als die Nutzung des Weges Y. Ebenso trägt er nicht vor, zu welchem anderen – abgesehen vom Fahren und Gehen – Zweck das Wegegrundstück X dienen soll. Die Nutzung eines Weges als Weg ist indessen für die Grundstückseigentümer nur mit geringen Belastungen verbunden.
Den anderen Weg zu nutzen, würde eine Mehrbelastung darstellen.
[24] Ob die Behauptung des Beklagten zutrifft, auch der Weg Z sei nicht öffentlich gewidmet, kann offen bleiben. Denn dass der Eigentümer des Wegegrundstücks Z dessen Nutzung beschränkt, ist nicht ersichtlich. Über ihn ist deshalb derzeit die Anbindung an eine öffentliche Straße gegeben. Im Gegensatz dazu steht der Weg Y derzeit für die Kläger nicht zur Verfügung, da die Ehefrau des Beklagten als Miteigentümerin die Nutzung dieses Weges zuletzt mit Schreiben vom 14.01.2019 untersagt hat.
Weg Y kann wegen des Verbots der Ehefrau des B nicht benutzt werden
[25] Anders als der Beklagte meint, wird damit den Klägern nicht das Recht eingeräumt, einen für sie bequemen Wegverlauf zu wählen. Das Notwegerecht entsteht in seiner konkreten gesetzlichen Ausgestaltung mit dem Vorliegen von dessen Voraussetzungen (…). Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich des Verlaufs vom Weg X zum Weg Z vor.
Auf die objektiven Gegebenheiten kommt es an.
II. Störereigenschaft des B
B muss Störer sein.
[18] Der Beklagte kann als Störer im Sinne des § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB in Anspruch genommen werden. Handlungsstörer ist, wer die Beeinträchtigung durch seine Handlung oder pflichtwidrige Unterlassung verursacht hat. Der Beklagte hat persönlich Schilder aufgestellt,
Definition des Handlungsstörers
Flatterband gespannt und Betonringe in den Weg X gestellt. Er ist damit unmittelbarer Handlungsstörer. Auf die vom Beklagten aufgeworfene Frage, ob die Miteigentümerin des Weggrundstücks, seine Ehefrau, ebenfalls Störerin ist, kommt es nicht an. Denn bei einer Mehrheit von Störern besteht der Anspruch gegen jeden unabhängig vom Tatbeitrag (…).
Siehe hierzu auch die Entscheidung des BGH, RA 06/2021, 293
Folglich ist B Störer.
III. Wiederholungsgefahr
Es muss eine Wiederholungsgefahr bestehen.
[19] Wiederholungsgefahr ist mit dem Landgericht zu bejahen. Der Beklagte hat den Weg X schon einmal an dessen Einmündung abgesperrt. In der Regel begründet die vorangegangene rechtswidrige Beeinträchtigung eine tatsächliche Vermutung für die Wiederholungsgefahr, an deren Widerlegung durch den Störer hohe Anforderungen zu stellen sind. Infrage käme zum Ausschluss der Wiederholungsgefahr eine strafbewehrte Unterlassungserklärung (…). Eine solche hat der Beklagte aber nicht abgegeben. Zudem bestreitet er das Recht der Kläger, den Weg zu nutzen. Auch dies spricht für Wiederholungsgefahr.
Vermutung der Wiederholungsgefahr
Folglich besteht Wiederholungsgefahr.
IV. Keine Duldungspflicht der K
Die K dürfen gem. § 1004 II BGB nicht zur Duldung verpflichtet sein. Fraglich ist, ob ihr Verhalten einen Verstoß gegen Treu und Glauben gem. § 242 BGB in der Fallgruppe des Selbstwiderspruchs darstellt (venire contra factum proprium). Hierfür könnte zunächst sprechen, dass die K zunächst die Aneignung unterließen und anschließend vom neuen Eigentümer die Duldung verlangen.
[26] Der Umstand, dass die Kläger sich selbst das Grundstück hätten aneignen können, macht die Ausübung ihrer Unterlassungsansprüche nicht rechtsmissbräuchlich. Ihr Standpunkt, dass es Sache der Gemeinde gewesen sei, das Eigentum an den Grundstücken zu erwerben, ist nicht sachfremd, so dass es kein widersprüchliches Verhalten ist, sich auf die jetzige Notlage zu berufen.
Voraussetzungen des Einwandes des venire contra factum propriums gem. § 242 BGB gegen einen Kläger:
- Der Anspruchssteller muss durch sein Verhalten einen Vertrauenstatbestand gesetzt haben.
- Auf diesen muss der Anspruchsgegner schutzwürdig vertraut haben.
- Der Anspruchssteller setzt sich in Widerspruch zum eigenen Vorverhalten.
Hier fehlt es nach Ansicht des OLG bereits an der ersten Voraussetzung.
Folglich liegt keine Duldungspflicht vor.
V. Zwischenergebnis
Die K können aus § 1004 I 2 BGB verlangen, es zu unterlassen, auf dem Flurstück Hindernisse zu errichten, die die Zufahrt zu ihrer Garage erschweren.
Lehrreicher Fall zum Unterschied zwischen § 1004 I BGB und §§ 823 II, 1004 I BGB: BGH, RA 02/2021, 69 ff.
B. Anspruch der K gegen B aus §§ 823 II, 1004 I 2 BGB
Außerdem steht den K gegen B der quasinegatorische Unterlassungsanspruch aus §§ 823 II, 1004 I 2 BGB zu.
C. Ergebnis
Die K können aus § 1004 I 2 BGB und §§ 823 II, 1004 I 2 BGB das Unterlassen der Störung verlangen.
Aus Platzgründen gehen wir auf den Anspruch aus §§ 823 II, 1004 BGB nicht näher ein.
FAZIT
Das Notwegerecht aus § 917 BGB ist Teil des Eigentums. Beeinträchtigungen können gem. § 1004 I 2 BGB abgewehrt werden.
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