Wenn Personen Opfer von Straftaten oder Unfällen werden, hat das nicht nur Auswirkungen auf sie selbst, sondern auch auf ihre Verwandten und Freund:innen – aus rechtlicher Sicht interessant sind hierbei die Schockschäden, die sich als Folge der enormen psychischen Belastung ergeben. Die Frage, ob die bzw. der Verursacher:in des Unfalls oder die bzw. der Straftäter:in auch für diese Schockschäden haftet, beschäftigt die Rechtsprechung seit langem.
Doch auch die Halterhaftung im Straßenverkehrsrecht wird immer wieder Gegenstand von BGH-Entscheidungen und ist damit auch examensrelevant für das Erste und Zweite Staatsexamen. Hier ist insbesondere die Frage entscheidend, wie weit die Halterhaftung reicht und was genau unter dem Tatbestandsmerkmal „bei Betrieb“ zu verstehen ist.
Im Folgenden habe ich dir drei Urteile zu diesen Themengebieten aufbereitet:
BGH, Urteil vom 06.12.2022 (Az. VI ZR 168/21): Schockschäden des Vaters
Im Dezember 2022 beschäftigte sich der BGH mit den Schockschäden von Verwandten. Juristisch interessant war der Fall insbesondere, weil der BGH seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben hat, um die Gleichstellung von physischen und psychischen Beeinträchtigungen sicherzustellen.
Die Entscheidung erging in einem Fall, bei dem ein Vater, dessen Tochter im Alter von fünf und sechs Jahren sexuell missbraucht wurde, Schmerzensgeld aufgrund der dadurch erlittenen psychischen Beeinträchtigungen verlangte. Der Vater gab an, aufgrund des Leids, das seine Tochter erfahren musste, eine tiefgreifende reaktive depressive Verstimmung erlitten zu haben, weshalb er psychologisch behandelt werden musste. Zudem war er während der Zeit, in der strafrechtlich ermittelt wurde und auch in den darauffolgenden Monaten, während derer das gerichtliche Verfahren stattfand, arbeitsunfähig gewesen.
Nach Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens und umfassenden Anhörungen sprach das Landgericht Lüneburg dem Vater ein Schmerzensgeld zu. Die Berufung des beklagten Missbrauchtäters vor dem Oberlandesgericht Celle blieb erfolglos. Der Beklagte erstrebte mit seiner Revision eine vollständige Abweisung der Klage, doch diese wurde abgelehnt. Der BGH urteilte, dass dem Vater im vorliegenden Fall ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld zusteht, hob das Berufungsurteil aufgrund eines Fehlers bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG Celle zurück.
Bisherige Rechtsprechung:
Der BGH gibt damit seine bisherige Senatsrechtsprechung auf. Bisher waren psychische Beeinträchtigungen im Bereich der Schockschäden nur dann als Gesundheitsverletzung anzusehen, wenn sie zwei Bedingungen erfüllten:
- Sie mussten pathologisch fassbar sein
- Sie mussten über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgingen, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind
Die Einschränkung durch die zweite Bedingung ist nun aufgegeben worden, und mittelbar entstandene psychische Beeinträchtigungen sind nun auch dann umfasst, wenn sie üblichen Maßes sind. Der BGH begründete seine Entscheidung damit, dass die bisherige Rechtsprechung zu einer Ungleichbehandlung von physischen und psychischen Schäden geführt habe – somit stärkt dieses Urteil die Rechte von Betroffenen. Eine Uferlosigkeit des Anspruchs wird dadurch vermieden, dass weiterhin ein pathologisches Krankheitsbild verlangt wird.
Aus diesem Urteil ebenfalls hervorzuheben ist die Ausarbeitung des BGH zu der Frage, ob es erheblich ist, dass der Vater nicht bereits beim Erhalt der Nachricht über den sexuellen Missbrauch seiner Tochter, sondern erst im Verlauf der Ermittlungen und des Verfahrens den Schaden erleidet. Im Ergebnis wird dies abgelehnt, da ein solches „Verarbeiten“ nicht außerhalb jeder Lebenswahrscheinlichkeit liegt. In anderen Fällen könnte zudem im Zusammenhang mit dem Schutzzweckzusammenhang die Frage aufkommen, wie es sich verhält, wenn kein unmittelbares Näheverhältnis zwischen dem/der Schock-Geschädigten und dem Erst-Geschädigten besteht. Grundsätzlich fehlt es ohne Näheverhältnis am Schutzzweckzusammenhang, Ausnahmen werden jedoch bei unmittelbarer Unfallbeteiligung anerkannt (beispielsweise für Ersthelfer:innen oder Zeug:innen).
Ebenfalls kurz behandelt wurde, dass die Tochter weder getötet noch schwer verletzt wurde: zwar soll ein gewisses Niveau des Leidens der Erst-Geschädigten vorliegen, um daraus kausal den Schockschaden ableiten zu können, dass dies aber bei einem sexuellen Missbrauch der Fall ist, bejahte der BGH ohne weitere Erörterung.
Da dieses Urteil vielen bisherigen Entscheidungen des BGH widerspricht, ist es wichtig, alte Fälle oder Lehr-Materialien zu diesem Themenkomplex genau zu überprüfen und gegebenenfalls auszusortieren.
BGH, Urteil vom 24.01.2023 (Az. VI ZR 1234/20): Haftung des Roller-Halters
In diesem Verfahren urteilte der BGH im Januar 2023 über einen Fall, in dem die Batterie eines Rollers in der Werkstatt explodiert war.
Der Beklagte hatte seinen Roller zur Inspektion gebracht. Dort hatte ein Werkstattmitarbeiter die Batterie ausgebaut und an ein Ladegerät angeschlossen. Er bemerkte zwar, dass die Batterie heiß wurde, und trennte sie auch direkt von dem Ladegerät – dennoch explodierte sie und setzte die Werkstatt in Brand. Fraglich war nun, wer den entstandenen Schaden begleichen musste: Die Gebäudeversicherung oder die Haftpflichtversicherung des Halters?
Gemäß § 7 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) muss der Halter für den Schaden aufkommen, der „bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges“ entsteht. Bereits in vorhergehenden Entscheidungen hatten die Richterinnen und Richter dieses Merkmal weit ausgelegt – der Betrieb eines Kraftfahrzeugs wurde auch in Fällen angenommen, bei denen der Schaden vor oder nach einer Fahrt entstanden war.
JurCase informiert:
Prüfungsschema zu § 7 Abs. 1 StVG
- Rechtsgutverletzung
- Ausnahmen nach § 8 StVG
III. „bei dem Betrieb“ des KFZ (spezifische Betriebsgefahr)
- Haltereigenschaft
- Kein Ausschluss nach § 7 Abs. 2 StVG
- Ersatzfähiger Schaden
VII. Art und Umfang des Schadensersatzes, Modifikationen nach StVG beachten
Allein die Tatsache, dass der Roller in der Werkstatt stand, befreit den Halter noch nicht von der Haftung. Auch wenn sich das Fahrzeug nicht in unmittelbarer Nähe des Halters befindet, kann es noch „in Betrieb“ sein, wenn sich die typische Gefahr verwirklicht, weil der Schaden dann vom Schutzzweck der Regelung umfasst wäre.
Laut BGH setzt die Zurechnung der Betriebsgefahr jedoch voraus, dass die Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang zu einem bestimmten Betriebsvorgang steht. Hieran mangelt es aber vorliegend, denn die Batterie war zum Unfallzeitpunkt aus dem Roller ausgebaut. Somit wurde der Zusammenhang zum vorherigen Betrieb durch den Fahrzeughalter in dem Moment unterbrochen, in dem der Werkstattmitarbeiter die Batterie aus dem Roller nahm, um sie an das Ladegerät anzuschließen. Als „ausgebaute“ Batterie war sie kein Bestandteil der Betriebseinrichtung des Rollers und somit auch nicht mehr von der Halterhaftung umfasst.
Im Ergebnis wurde die Schadensersatzpflicht des Halters hier abgelehnt und die Gebäudeversicherung der Werkstatt musste für den Schaden aufkommen.
BGH, Urteil vom 15.03.2023 (Az. VI ZR 87/22): Haftung des Anhänger-Halters
Kurze Zeit darauf, im März 2023, beschäftigte sich der BGH mit einem rechtlich ähnlichen Fall, bei dem der Halter eines Anhängers von einer Gebäudeversicherung auf Schadenersatz verklagt wurde: Wiederum war das Merkmal „bei Betrieb“ strittig.
Ein anderer Autofahrer war in der Kurve von der Fahrbahn abgekommen und prallte in ein Gebäude sowie den davor ordnungsgemäß geparkten Anhänger. Dieser rollte daraufhin in Richtung des Nachbargrundstückes und beschädigte sowohl das Eingangstor zum Grundstück als auch die Fassade des Nachbarhauses.
Die Vorinstanz, das Landgericht Gießen, hatte den Schadensersatzanspruch abgelehnt, weil der Schaden nicht beim Betrieb des Anhängers entstanden war. Der BGH sah dies anders: Das Merkmal „bei Betrieb“ sei weit auszulegen, auch ordnungsgemäß geparkt sei der Anhänger noch in Betrieb.
JurCase informiert:
Bei der Halterhaftung für Anhänger ist § 19 StVG anwendbar. Da dieser in § 19 Abs. 1 S. 2 StVG auf die Regelungen zur Haftung des Halters eines Kraftfahrzeuges verweist, solltest du die beiden Paragrafen als ein Themengebiet behandeln und – soweit erlaubt – gegenseitig im Gesetz kommentieren bzw. den Verweis markieren.
Gemäß § 19 Abs. 1 S. 1 StVG muss der Halter des Anhängers nur dann Schadensersatz leisten, wenn der Schaden „bei dem Betrieb eines Anhängers“ entsteht. Das Landgericht hatte hier geurteilt, dass prinzipiell zwar ein Schadensersatz möglich ist, wenn der Anhänger geparkt ist, weil auch hier die Gefahr von unkontrollierter Bewegung besteht. Im vorliegenden Fall sei aber der vorausgehende Unfall dem Halter nicht mehr zuzurechnen und steht daher einem Schadensersatzanspruch im Weg.
Rechtsprechung des BGH:
Der BGH blieb jedoch seiner bisherigen Linie, das Merkmal „bei dem Betrieb“ im Rahmen der Halterhaftung sehr weit auszulegen, treu:
„Erforderlich ist dabei stets, dass es sich bei dem Schaden, für den Ersatz verlangt wird, um eine Auswirkung derjenigen Gefahren handelt, hinsichtlich derer der Verkehr nach dem Sinn der Haftungsvorschrift schadlos gehalten werden soll; die Schadensfolge muss in den Bereich der Gefahren fallen, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen worden ist. (…) Der Betrieb dauert dabei fort, solange der Fahrer das Fahrzeug im Verkehr belässt und die dadurch geschaffene Gefahrenlage fortbesteht.“
Es kommt hier darauf an, dass die Schadensursache in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Betriebsvorgang des Anhängers steht. Das bedeutet: Der Anhänger wurde dort geparkt, weil er vorher im klassischen Sinne „in Betrieb“ war und auch bald wieder „in Betrieb“ genommen werden sollte.
In der Klausur kannst du hier mit einer guten Auslegung des Gesetzestextes und vor allem des Gesetzeszweckes punkten. Die Regelungen zur Halterhaftung sind darauf ausgelegt, die speziellen Gefahren, die von Kraftfahrzeugen ausgehen, zu entschädigen. Die Halterhaftung entsteht eben gerade nicht dadurch, dass das Kraftfahrzeug aktiv geführt wird, sondern – wie der Name es bereits sagt – alleine durch die Eigenschaft als Fahrzeughalter.
Wenn du dir in der Prüfung nicht sicher bist, auf welches Urteil die bzw. der Korrektor:in sich bezieht bzw. in welche Richtung die Musterlösung geht, argumentiere nah am Sachverhalt. Die Rechtsprechung hat sich in den letzten Jahren zwar dahin entwickelt, die Halterhaftung sehr weit auszulegen, aber wie man am Roller-Urteil oben sehen kann, darf sie auch nicht blind bejaht werden.