
BGH, Beschl. v. 15.01.2025 – 5 StR 694/24 (BeckRS 2025, 1793)
Schwerpunkte: §§ 244, 337 StPO
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Fall
A und B werden durch die zuständige Staatsanwaltschaft u.a. wegen Geiselnahme angeklagt. A soll die Nebenklägerin, die sich von ihm getrennt hatte, mit Gewalt in sein Fahrzeug verbracht, dabei verletzt und später vergewaltigt haben. Bei der Geiselnahme soll B mitgewirkt haben.
In der Hauptverhandlung vor dem LG lässt sich B zu dem Tatvorwurf ein, wo-raufhin das Verfahren gegen ihn abgetrennt wird. Wenige Tage nach der Verfahrensabtrennung beantragt A über seinen Verteidiger, den früheren Mitangeklagten B als Zeugen zum Beweis der Tatsache zu vernehmen, dass die Nebenklägerin freiwillig und ohne Zwang in einen VW Polo gestiegen sei. Dabei gibt der Verteidiger einen Vermerk als Anlage zum Hauptverhandlungsprotokoll, aus dem sich ergibt, dass B grundsätzlich bereit sei, in dem abgetrennten Verfahren als Zeuge auszusagen; er würde „aber nichts Anderes sagen, als ich bereits gesagt habe, weil das die Wahrheit“ sei.
Die Strafkammer lehnt den Beweisantrag u.a. mit der Begründung ab, es handele sich um einen bloßen Beweisermittlungsantrag und die Aufklärungspflicht gebiete die beantragte Beweiserhebung nicht. Es sei nicht ersichtlich, weshalb der Zeuge etwas dazu sagen könne, ob die Nebenklägerin „freiwillig“ in den Pkw gestiegen sei, da dies eine innere Tatsache der Nebenklägerin darstelle.
Der Verteidiger beantragt daraufhin erneut die Vernehmung des früheren Mitangeklagten B, dieses Mal zum Beweis der Tatsache, dass er wahrgenommen habe, dass die Nebenklägerin in einer näher bezeichneten Tiefgarage einen näher bezeichneten Pkw selbstständig und aus eigener Kraft bestiegen habe, ohne dass körperlicher Zwang durch A oder den Zeugen ausgeübt wurde. Zur Begründung wird u.a. ausgeführt, der Zeuge werde die Beweisbehauptung bestätigen. Sie entspreche seiner bisherigen Einlassung als Angeklagter. Der Aussage unter Wahrheitspflicht komme besondere Bedeutung zu. Damit werde die Aussage der Nebenklägerin widerlegt. Auch diesen Antrag lehnt die Kammer mit der Begründung ab, dass kein Beweisantrag vorliege, weil der Antrag lediglich darauf gerichtet sei, dass der frühere Mitangeklagte nunmehr in einer anderen Verfahrensrolle dieselbe Aussage mache. Damit sei der Antrag lediglich auf die Wiederholung einer bereits durchgeführten Beweisaufnahme gerichtet. Auf die unterschiedliche Verfahrensrolle als Angeklagter oder Zeuge komme es dabei nicht an. Die Aufklärungspflicht gebiete die Vernehmung des Zeugen nicht, zumal dieser bereits angegeben habe, so auszusagen wie in seiner bisherigen Einlassung.
Eine Verletzung des § 244 Abs. 3–6 StPO ist nur möglich, wenn ein Beweisantrag vorliegt (Voraussetzungen sind Beweistatsache, Beweismittel, Konnexität [vgl. dazu Schmitt/Köhler, StPO, 68. Aufl. 2025, § 244 Rn. 17 ff.]).
Für sog. Beweisermittlungsanträge (vgl. Schmitt/Köhler § 244 Rn. 25) oder Beweisanregungen (vgl. Schmitt/Köhler § 244 Rn. 26) gelten die strengen Anforderungen gerade nicht. Ihre Ablehnung kann die Revision nur begründen, wenn das Gericht seine Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) verletzt hat (sog. Aufklärungsrüge, vgl. Schmitt/Köhler § 244 Rn. 27, 101).
Bei einem Hilfsbeweisantrag handelt es sich um den Sonderfall eines bedingten Beweisantrages. Die Bedingung für das Beweisbegehren besteht darin, dass das Gericht einem Hauptantrag des Antragstellers im Schlussvortrag nicht folgt (vgl. AS-Skript Strafurteil und Revisionsrecht in der Assessorklausur [2025], Rn. 490).
Mit der zulässig eingelegten Revision beanstandet A nach seiner Verurteilung mit einer zulässigen Verfahrensrüge, das LG habe durch die Ablehnung der beiden Beweisanträge gegen § 244 Abs. 3 StPO verstoßen.
Hat die eingelegte Revision des A Aussicht auf Erfolg?
Leitsätze
- Die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) wird regelmäßig nicht verletzt, wenn ein früherer Mitangeklagter nach Verfahrensabtrennung nicht nochmals als Zeuge zum Thema seiner ehemaligen Aussage gehört wird. Jedoch kann ein Beweisantrag nach einem solchen Wechsel der Verfahrensrolle grundsätzlich nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass der Zeuge bereits früher als Mitangeklagter ausgesagt habe und der Antrag deshalb auf die bloße Wiederholung der Beweisaufnahme gerichtet sei.
- Die Aussage eines zu wahrheitsgemäßen Angaben verpflichteten und hierüber belehrten Zeugen kann einen anderen Inhalt und auch einen anderen Beweiswert haben als die Einlassung eines Angeklagten.
Gutachten
Materiell-rechtlich führt der BGH zur Frage der Geiselnahme nach § 239b StGB aus:
„[5] … Eine Geiselnahme nach § 239b Abs. 1 StGB begeht, wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen bemächtigt, um ihn oder einen Dritten durch die Drohung mit dem Tod oder einer schweren Körperverletzung (§ 226 StGB) des Opfers oder mit dessen Freiheitsentziehung von über einer Woche Dauer zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen, oder wer die von ihm durch eine solche Handlung geschaffene Lage eines Menschen zu einer solchen Nötigung ausnutzt. Dabei muss zwischen der Entführung oder Bemächtigung und der qualifizierten Nötigung ein funktionaler und zeitlicher Zusammenhang in der Weise bestehen, dass der Täter das Opfer während der Dauer der Zwangslage nötigen will und die abgenötigte Handlung während der Dauer der Zwangslage vorgenommen wird. Ein solcher funktionaler Zusammenhang kann auch dann noch angenommen werden, wenn der Täter während der Bemächtigungslage einen Teilerfolg erreichen wollte, der aus seiner Sicht eine bedeutende eigenständige Vorstufe auf dem Weg zur Erreichung des Endzieles darstellt.“
Die Revision ist begründet, wenn das angefochtene Urteil auf einer Gesetzesverletzung beruht (§ 337 Abs. 1 StPO). Dies ist dann der Fall, wenn das Verfahren prozessordnungswidrig war. Prozesshindernisse oder sachlich-rechtliche Fehler liegen ersichtlich nicht vor.
Verfahrensrüge: Verstoß gegen § 244 Abs. 3 StPO
Die zulässige Verfahrensrüge ist unbegründet.
1. „[14] Allerdings erscheint die Annahme des LG nicht unbedenklich, dass der [zweite] Antrag … lediglich auf eine unzulässige Wiederholung der Beweisaufnahme gerichtet und deshalb kein Beweisantrag sei, woran auch der Wechsel in der Verfahrensrolle nichts ändere. Nach der Rspr. des BGH wird zwar die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) regelmäßig nicht verletzt, wenn ein früherer Mitangeklagter nach Verfahrensabtrennung nicht nochmals als Zeuge zum Thema seiner ehemaligen Aussage gehört wird. Aber ein Beweisantrag kann nach einem solchen Wechsel der Verfahrensrolle grundsätzlich nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass der Zeuge bereits früher als Mitangeklagter ausgesagt habe und der Antrag deshalb auf die bloße Wiederholung der Beweisaufnahme gerichtet sei.“
Hintergrund ist der Folgende:
„[15] Zwar hängt der Beweiswert einer Aussage nicht maßgeblich davon ab, ob sich die Auskunftsperson als Zeuge oder als Mitangeklagter geäußert hat. Aus der unterschiedlichen Verfahrensrolle können sich aber gerade im Hinblick auf unterschiedliche Anforderungen an die Wahrheitspflicht Anhaltspunkte für eine unterschiedliche Bewertung ergeben. Die Aussage eines zu wahrheitsgemäßen Angaben verpflichteten und hierüber belehrten Zeugen kann einen anderen Inhalt und auch einen anderen Beweiswert haben als die Einlassung eines Angeklagten; deshalb handelt es sich nicht um eine bloße Wiederholung eines schon erhobenen Beweises.
[16] Ob ausnahmsweise etwas Anderes gilt, wenn das Beweisthema – wie hier laut Beweisantrag – mit den früheren Aussagen der als Zeugen benannten Personen übereinstimmt, hat der BGH bislang offengelassen. Hierfür könnte sprechen, dass es für die Prüfung des Beweiswertes nicht erforderlich ist, die Aussage zu wiederholen, sofern sich das Gericht der möglichen Änderung der Bewertungskriterien bewusst ist. Es soll nach der Rspr. des BGH an einem Beruhen (§ 337 Abs. 1 StPO) des Urteils auf einer möglicherweise fehlerhaften Begründung des Zurückweisungsbeschlusses fehlen können, wenn das Gericht eine Änderung des Aussageinhalts ausdrücklich ausgeschlossen hat.“
„[17] Im vorliegenden Fall kann der Senat ein Beruhen schon deshalb ausschließen, weil die Beweislage zur Entführung der Nebenklägerin … besonders dicht ist, da ihre detaillierten Angaben hierzu durch objektive Beweismittel (u.a. zerbrochene Brille, Taser und Feuerlöscher am Entführungsort, ausgerissene Haare im Fahrzeug), einen neutralen Zeugen (zum laut ausgetragenen Streit) und die Angaben des … Sohnes des [A] (zum gewaltsamen Zerren in den Pkw) gestützt werden.“
Ergebnis: Die Revision des A wird kostenpflichtig verworfen.
Diese Rechtsprechung wurde für dich von OStA Dr. Jost Schützeberg aufbereitet.
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