#HierZucktDeinPrüfungsamt im Strafrecht in Kooperation mit VRiLG Dr. Nils Godendorff
Moin zusammen,
heute empfehle ich dir den Beschluss des 4. Strafsenates (4 StR 15/24) 20. Juni 2024. Die Entscheidung ist ein Geschenk für jedes Prüfungsamt.
Was ist passiert?
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in zwei tateinheitlich begangenen Fällen in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr zur Herbeiführung eines Unglücksfalls, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlich begangenen Fällen sowie in Tateinheit mit Sachbeschädigung in fünf tateinheitlich begangenen Fällen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren verurteilt.
Worum geht es?
Mutti ging fremd. Das brachte das Familienleben aus dem Gleichgewicht und den Sohnemann und Angeklagten auf. Und zwar so sehr, dass er etwa einen Monat vor der Tat den neuen Freund konfrontierte, es werde für diesen „schlimm“ werden, wenn er weitermache. Schlimm wurde es auch, und zwar am 2. Januar 2023: Da fuhr der Angeklagte mit Papas Fiat Stilo herum.
Sein Beifahrer wies ihn auf den Nebenbuhler und späteren Geschädigten hin. Dieser lief auf dem linksseitigen Gehweg in Begleitung der späteren Geschädigten H. Der Angeklagte bremste ab und setzte seinen Wagen zurück, um über einen abgesenkten Bordstein auf den Gehweg zu kommen. Der Geschädigte nahm das Zurücksetzen wahr, ging aber davon aus, dass jemand einen Parkplatz sucht. Auf dem Gehweg trat der Angeklagte das Gaspedal durch und der Motor heulte auf (wenn die E-Auto-Quote irgendwann bei 90% liegt, braucht es eine Erläuterung dazu 😉 ). Nun fuhr der Angeklagte mit weiterhin vollständig durchgedrücktem Gaspedal von hinten auf die beiden Geschädigten zu. Auch hierbei heulte der Motor deutlich wahrnehmbar auf. Schließlich kollidierte der vom Angeklagten gesteuerte Pkw bei einer Geschwindigkeit von 38 km/h nach circa 21 Metern auf dem Bürgersteig ungebremst mit beiden Geschädigten. Dabei beabsichtigte er, den Liebhaber seiner Mutter mit dem Pkw zu treffen und ihn hierdurch erheblich zu verletzen. Dessen Tod sowie den Tod oder erhebliche Verletzungen dessen Begleiterin nahm der Angeklagte billigend in Kauf.
Er verletzte die beiden Geschädigten und einen am Fahrbahnrand geparkten Pkw. Während die Geschädigte sich nach einem kollisionsbedingten Sturz in Richtung Hauswand rasch wieder aufrichten und schreiend dem Fahrzeug hinterherlaufen konnte, wurde der Geschädigte infolge des Anpralls rücklings auf die Motorhaube aufgeladen und seine Füße wurden bis auf das Fahrzeugdach geschleudert. Dabei prallte er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe, so dass diese zerbarst. Nach einer Fahrstrecke von mindestens 13 Metern auf dem Fahrzeug des Angeklagten stürzte der Geschädigte auf die Motorhaube eines am Fahrbahnrand abgestellten Pkw und von dort auf den Gehweg.
Der Angeklagte fuhr danach flüchtend weiter und insgesamt circa 50 Meter auf dem Bürgersteig. Hierbei verursachte er Sachschäden an fünf Fahrzeugen in Höhe von insgesamt circa 12.000 €. Als er sein Fahrzeug wieder auf die Fahrbahn zurücksetzte, nahm er im Rückspiegel noch den auf dem Gehweg liegenden Geschädigten wahr. Obwohl er um die potentiell tödlichen Verletzungen der beiden Geschädigten und die Fahrzeugschäden wusste, entfernte er sich von der Kollisionsstelle, ohne sich Gewissheit über deren Zustand und die Folgen seines Handelns zu verschaffen.
Trotz des dramatischen Ablaufs verheilten die Wunden glücklicherweise alle gut, der Geschädigte ist wieder wohlauf.
Was gefiel dem BGH nicht?
(1)
Zum einen war aus seiner Sicht ein Mord (gegeben / zu prüfen). Denn „heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Ohne Bedeutung ist dabei, ob das Opfer die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite überblickt (vgl. BGH, Urteil vom 1. Februar 2024 – 4 StR 287/23 Rn. 12 mwN; Beschluss vom 10. Januar 1989 – 1 StR 732/88, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 7).
Das ist altbekannt. Für den vorliegenden Fall ist die folgende Ergänzung entscheidend:
„Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 2023 – 1 StR 104/23; Urteil vom 16. August 2005 – 4 StR 168/05, NStZ 2006, 167, 169; Urteil vom 4. Juni 1991 – 5 StR 122/91, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 15 mwN).“
Auch das Ausnutzungsbewusstsein liegt vor, denn
„Das Ausnutzungsbewusstsein kann bereits aus dem objektiven Bild des Geschehens entnommen werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter auf der Hand liegt. Das gilt in objektiv klaren Fällen bei einem psychisch normal disponierten Täter selbst dann, wenn er die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat. Denn bei erhaltener Einsichtsfähigkeit ist die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt (…)“.
(2)
Zum anderen kann man am BGH künftig nur noch dann ruhig schlafen, wenn im vorliegenden Fall auch noch eine Unfallflucht tenoriert wird. „Wie bitte?“, sagt da die/der erfahrene Examenskandidat:in. Es ist doch kein Verkehrsunfall, wenn sich das Verhalten nach dem äußeren Erscheinungsbild „als Auswirkung der deliktischen Planung, wie sie an beliebigen anderen Orten mit beliebigen anderen Mitteln auch durchführbar wäre“, darstellt. Und deshalb ist das versuchte Töten des Nebenbuhlers und seiner Begleiterin auch kein Unfall. Aber, so der BGH: Ein Unfall ist die Fluchtfahrt, bei der fünf PKW beschädigt werden. Die Fluchtfahrt ist deshalb ein Unfall i.S.v. § 142 StGB. Das muss man sich mal praktisch vorstellen: Der Angeklagte wäre verpflichtet auszusteigen und die Halter der fünf beschädigten Fahrzeuge zu ermitteln und sich bei diesen zu melden, aber bezüglich der beiden Verletzten hätte er keine Meldepflicht. Nun gut, jedenfalls ist es in diesem Abschnitt auch eine Fahrerflucht.
Was macht die Entscheidung so examensrelevant?
Alles. Alles. Alles. Da ist wirklich alles dabei:
- Abgrenzung Mord und Totschlag
- Heimtücke
- Fahrerflucht bei zweiaktigem Geschehen
- Straßenverkehrsdelikte
- Vertiefungsfragen betreffend Haftbefehl und vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis
Mit den besten Grüßen aus Hamburg
Nils Godendorff