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Gewusst

Recht gebeugt oder nur ein bisschen angebogen? (BGH6, StR 386/23)

By 19. August 2024No Comments
HierZucktDeinPrüfungsamt

#HierZucktDeinPrüfungsamt im Strafrecht in Kooperation mit VRiLG Dr. Nils Godendorff

Moin zusammen,
heute empfehle ich Dir einen Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 18.04.2024 – 6 StR 386/23, NStZ-RR 2024, 243.

Was ist geschehen?

Das Landgericht hat die Angeklagte Richterin wegen Rechtsbeugung in 15 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hatte mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

Was ist die Sachrüge?

Erfahrene Leser:innen sollten das wissen, aber ich freue mich immer über neue Follower:innen. Deshalb: Mit der Verfahrensrüge zweifele ich an, dass das Tatgericht die Verfahrensregeln eingehalten hat, mit der Sachrüge bezweifele ich, dass das Gericht die Sachnormen richtig angewandt hat. Aktuell laufen die Olympischen Spiele: Wenn der 100m-Läufer glaubt, der Starter habe das Startkommando falsch gegeben, erhebt er eine Verfahrensrüge. Glaubt er hingegen, das Zielfoto sei falsch gewertet, also die eigentliche Kernregel „Wer zuerst durchs Ziel kommt, gewinnt“, sei falsch angewendet worden, erhebt er die Sachrüge.

Und was genau ist nun geschehen?

Die Angeklagte war Richterin in mehreren Dezernaten, unter anderem in einem betreuungsrechtlichen. Wegen zahlreicher privater Probleme stand sie unter Stress. Und wohl auch unter Zeitnot:

  • In sechs Fällen ordnete die Angeklagte an bzw. genehmigte dauerhaft geschlossene Unterbringungen von bis zu drei Monaten (fünf Fälle) und in einem Fall bis zu einem Jahr. Dies tat sie jeweils ohne vorherige persönliche Anhörung der Betroffenen. In vier Fällen holte sie die Anhörung nach, in einem Fall an dem auf die Entscheidung folgenden Tag.
  • In weiteren neun Fällen ordnete sie im Wege der einstweiligen Anordnung „vorläufige Unterbringungen“ an bzw. genehmigte solche, ohne die Betroffenen zuvor persönlich anzuhören. Dies begründete sie – mit Ausnahme zweier Fälle damit, dass Gefahr im Verzug bestanden habe, und verfügte zugleich die Wiedervorlage der Verfahrensakte zum Zwecke der Anhörung.
  • Die persönliche Anhörung der Betroffenen holte sie trotz Wiedervorlage nur in vier Fällen nach Dabei verstrichen zwischen neun und 44 Tage.

Das ist verfahrensfehlerhaft, § 319 Abs. 1 Satz FamFG kennt da keinen Diskussionsraum:

Das Gericht hat den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen.

Was ist die Begründung der Strafkammer für die Verurteilung?

Die Strafkammer hat ihre Überzeugung insoweit unter anderem auf von ihr ausgewertete 41 weitere Entscheidungen der Angeklagten in Verfahren zur Anordnung und Genehmigung von Unterbringungsmaßnahmen gestützt. Einschließlich der abgeurteilten 15 Fälle habe die Angeklagte bei 56 im Tatzeitraum getroffenen Entscheidungen in 39 Fällen die Anhörungspflicht verletzt. Teilweise habe sie die Anhörungen nachgeholt. Eine Überlastung sei als Ursache auszuschließen, weil sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass die Angeklagte im Tatzeitraum Zivilsachen fehlerhaft bearbeitet hätte; vielmehr seien die jeweiligen Entscheidungsgründe überdurchschnittlich lang und sorgsam begründet worden.

Was das Landgericht uns (und dem BGH) wohl zu sagen versucht hat: Im Betreuungsrecht hatte sie nicht so ihren Schwerpunkt. Das genügte dem BGH aber nicht. Er führte aus, und das sind hier auch die

Key Takeaways

  • Nicht jede unrichtige Rechtsanwendung beugt das Recht.
  • Erforderlich ist ein elementarer Rechtsverstoß!
  • Was ist ein „elementarer Rechtsverstoß“? Das ist auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände zu entscheiden. (Hilft das weiter? Nun ja)
  • Bei einem Verstoß gegen Verfahrensrecht kann
  • neben dessen Ausmaß und Schwere insbesondere auch Bedeutung erlangen,
  1. welche Folgen dieser für die Partei hatte,
  2. inwieweit die Entscheidung materiell rechtskonform blieb und
  3. von welchen Motiven sich der Richter leiten ließ.

Dies gelte auch bei einem Verstoß gegen die Anhörungspflicht vor einer Unterbringungsmaßnahme.

Unter diesen Gesichtspunkten habe eine andere Kammer des Landgerichts zu entscheiden. Insbesondere kommt aus der Entscheidung durch, dass dem BGH zwei Gesichtspunkte an der Entscheidung des Landgerichts nicht gefallen haben:

1) Das Landgericht habe in objektiver Hinsicht nicht in den Blick genommen, ob die Entscheidungen der Angeklagten materiell rechtskonform blieben Dies liege angesichts der in den Urteilsgründen teilweise mitgeteilten erheblichen psychotischen Erkrankungen der Betroffenen und der jeweiligen ärztlichen Stellungnahmen nicht fern.

Offen gestanden ist der Leser da doch erstaunt. Dient die persönliche Anhörung und der persönliche Eindruck nicht gerade dieser Entscheidung? Kann der überlastete Strafrichter straffrei Urteile ohne Hauptverhandlungen in die Akte heften, wenn die Verurteilung sich nach Aktenlage aufdrängte?! Ich stelle klar, dass ich für diese Versuchsanordnung nicht zur Verfügung stehe.

2) Im Übrigen habe die Strafkammer die Folgen der Rechtsverletzung, etwa ob und über welchen Zeitraum jeweils eine Freiheitsentziehung erfolgte, nicht in die Bewertung eingestellt.

Dazu muss man wissen: Das Betreuungsgericht genehmigt die Unterbringung nur, die/der Betreuer:in kann sie jederzeit aufheben, auch ohne Wollen oder Kenntnis des Betreuungsgerichts. Der Unterbringungsbeschluss ist kein Haftbefehl!

Auch hier ist man allerdings erstaunt: Ich war schon oft genug in Psychiatrien. Meine persönliche Toleranzschwelle für „nicht so schlimm“ liegt bei exakt null Tagen.

3) Und ebenfalls nicht festgestellt sei schließlich der Umstand, dass die Angeklagte in Einzelfällen die Anhörung kurz nach ihrer Entscheidung nachgeholt oder die Betroffenen kurz zuvor angehört habe.

Warum solltest Du die Entscheidung noch lesen?

  1. Die Entscheidung bietet Klausurersteller:innen eine sehr schöne Möglichkeit, Querschnittsbereiche, hier das FamFG mit abzuprüfen.
  2. Die Entscheidung berührt die eher „exotische“ Rechtsbeugung.
  3. Die Entscheidung bietet einiges an Diskussionspotential in die eine wie in die andere Richtung. „Hier war Argumentation gefragt!“ wird an zahlreichen Klausuren am Rand stehen. An Deiner steht hoffentlich „Starke Argumentation!“.

Und nicht vergessen: Schreibt Klausuren!

Mit den besten Grüßen aus Hamburg
Nils Godendorff

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Beitragsautor:

Dr. Nils Godendorff

Dr. Nils Godendorff

Dr. Nils Godendorff ist vorsitzender Richter am Landgericht in Hamburg. Auf LinkedIn gibt Dr. Godendorff unter dem Hashtag #HierZucktDeinPrüfungsamt Hinweise zu examensrelevanten strafrechtlichen Entscheidungen. Die Reihe #HierZucktDeinPrüfungsamt in Kooperation mit Herrn Dr. Godendorff findest du auch bei JurCase!

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