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Grundsatzentscheidung des BGH: Die Abgrenzung der Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zum Suizid

By 1. Dezember 2022Oktober 23rd, 2023No Comments
Aktuelle Rechtsprechung

BGH, Beschluss vom 28.06.2022 – 6 StR 68/21

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seinem Beschluss vom 28.06.2022 nicht nur die Grundsätze zur Abgrenzung der Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zum Suizid konkretisiert, er hat außerdem die Anforderungen an die Garantenpflichten von Ehegatten in den Fällen konturiert, in denen ein Ehegatte den Wunsch zum Sterben äußert.

Ein BGH-Beschluss mit vielen neuen juristischen Ansatzpunkten oder anders gesagt: Ein BGH-Beschluss, der es juristisch echt in sich hat! Dieser Beitrag soll die wesentlichen Argumente des BGH aufgreifen und die aufgestellten Grundsätze und Neuerungen zusammenfassen.

Der Fall

Die Angeklagte war die Ehefrau des R. Der R war seit 1993 krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Er litt unter verschiedenen Krankheiten. Die Angeklagte pflegte ihn seit dem Jahr 2016 zu Hause, verabreichte ihm insbesondere auch sein Insulin, indem sie die Tabletten aus den Blistern drückte, da R wegen seiner Arthrose Schwierigkeiten hatte, die Spritzen selbst aufzuziehen und die Tabletten herauszudrücken. Seit Anfang 2019 war er bettlägerig und äußerte vermehrt den Wunsch zu sterben. Anfang August 2019 verspürte R starke Schmerzen. Er sagte zu der Angeklagten: „Heute machen wir’s“. Außerdem äußerte er gegenüber der Angeklagten, dass er die Schmerzen nicht mehr aushalte und er an diesem Tag „gehen“ wolle, er die Angeklagte nicht gern allein lasse, aber trotzdem heute „gehen“ müsse. Spätestens jetzt war sich die Angeklagte darüber bewusst, dass der Sterbewunsch des R ernst war. R bat die Angeklagte, ihm alle im Haus vorrätigen Tabletten zu geben. Daraufhin suchte die Angeklagte alle Tabletten zusammen und brach sie aus den Verpackungen. Sie gab dem R diese und reichte ihm ein Glas mit ca. 50 ml Prothazin. Der R gab alle Tabletten selbständig in seinen Mund und schluckte sie mit dem Prothazin hinunter. Anschließend bat er die Angeklagte alle noch vorhandenen Insulinspritzen zu holen. Sie wusste, dass sie diese Insulinspritzen dem R – wie sonst auch – in die Bauchdecke spritzen sollte und tat dies in dem Bewusstsein, dass die Insulingabe geeignet war, seinen Tod herbeizuführen. Der R erkundigte sich bei der Angeklagten anschließend, ob sie ihm auch alle vorrätigen Spritzen gegeben habe, denn er wolle „nicht, […] als Zombie“ zurückkehren. Einige Stunde später verstarb R aufgrund des verabreichten Insulins. Einen Arzt informierte die Angeklagte nicht, da sie dies so mit dem R vorab abgesprochen hatte. Die Tabletten, die der R eingenommen hatte, hätten zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls zu dem Tod des R geführt.

Das Landgericht Stendal verurteilte die Angeklagte wegen Tötung auf Verlangen nach § 216 Abs. 1 StGB, da sie nicht nur straflose Beihilfe zum Suizid geleistet habe, sondern dem R aktiv das Insulin gespritzt habe, so dass der R selbst nicht bis zum Eintritt seines Todes das Geschehen in Händen gehabt habe.

Die Entscheidung des BGH: Freispruch

Der BGH hob das Urteil des Landgerichts Stendal auf und sprach die Angeklagte mit folgender Begründung frei: „Die Angeklagte hat sich unter keinem Gesichtspunkt strafbar gemacht. Die Verurteilung der Angeklagten wegen Tötung auf Verlangen (§ 216 Abs. 1 StGB) wird von den Feststellungen nicht getragen. Das Verhalten der Angeklagten stellt sich nicht als Tötung ihres Ehemanns durch aktives Tun, sondern als straflose Beihilfe zu dessen Suizid dar.“

JurCase informiert:

Eine Beihilfe zur Selbsttötung ist nicht strafbar. Begeht eine Person Suizid und leistet eine andere Person dabei derart Hilfe, dass die Handlung als bloße Teilnahmehandlung im Sinne des § 27 StGB eingeordnet wird, kann sich der Gehilfe nicht strafbar machen. Der Grund: Es gibt schon keine vorsätzliche rechtswidrige Haupttat für eine Teilnahmehandlung, denn der Suizid steht in Deutschland nicht unter Strafe.

Dabei gelten nach dem BGH für die Abgrenzung der Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB von strafloser Beihilfe zum Suizid die folgenden Grundsätze:

„Täter einer Tötung auf Verlangen ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn er sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterordnet. Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt. Gibt sich der Suizident nach dem Gesamtplan in die Hand des anderen, um duldend von ihm den Tod entgegenzunehmen, dann hat dieser die Tatherrschaft. Behält der Sterbewillige dagegen bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe.“

und

„Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor.“

Bezüglich dieser Grundsätze verweist der BGH in seinem Beschluss vom 28.06.2022 auf die ständige Rechtsprechung des BGH.

JurCase informiert:

Bei der strikten Anwendung dieser Abgrenzungsmerkmale würde vorliegend – contra BGH – durchaus einiges für eine Herrschaft der Angeklagten über das Geschehen und damit für eine Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB sprechen, denn die Angeklagte gab dem R die Insulinspritzen und führte damit den lebensbeendenden Akt eigenhändig aus.

Die erste Besonderheit des Beschlusses:

Der BGH führte in seinem Beschluss weiter aus, dass die straflose Beihilfe zum Suizid nicht nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln vorgenommen werden könne. Geboten sei vielmehr eine normative Betrachtung.

Daher gelangte der BGH zu der folgenden Subsumtion:

„Bei wertender Betrachtung bildeten die Einnahme der Tabletten und die Injektion des Insulins nach dem Gesamtplan einen einheitlichen lebensbeendenden Akt, über dessen Ausführung allein R. […] bestimmte. Die Medikamente nahm er eigenständig ein, während die Angeklagte ihm der jahrelangen Übung entsprechend die Insulinspritzen setzte, weil ihm dies aufgrund seiner krankheitsbedingten Beeinträchtigungen schwerfiel. Nach dem Gesamtplan war es letztlich dem Zufall geschuldet, dass das Insulin seinen Tod verursachte, während die Medikamente ihre tödliche Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt entfaltet hätten. In Anbetracht dessen wird die Annahme des Landgerichts, dass R. […] sich in die Hand der Angeklagten begeben und den Tod duldend von ihr entgegengenommen habe, den Besonderheiten des Falles nicht gerecht. Dies gilt umso mehr, als R. […] das zu seinem Tod führende Geschehen auch noch beherrschte, nachdem die Angeklagte ihm das Insulin injiziert und ihren aktiven Beitrag damit abgeschlossen hatte. Er blieb anschließend noch eine gewisse Zeit lang bei Bewusstsein und sah eigenverantwortlich davon ab, Gegenmaßnahmen einzuleiten, etwa die Angeklagte aufzufordern, den Rettungsdienst zu alarmieren. Er ließ sich im Gegenteil von ihr versichern, dass sie ihm ‚alle vorrätigen Spritzen‘ gesetzt hatte.“

Kein Widerspruch zu der Entscheidung im „Gisela-Fall“

Der BGH nahm außerdem Bezug zu der Entscheidung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs im „Gisela-Fall“ (Urteil vom 14. August 1963 – 2 StR 181/63). Diese stehe seiner Bewertung im vorliegenden Fall nicht entgegen, da sich die Sachverhalte in rechtlich bedeutsamer Weise unterscheiden würden, denn vorliegend habe die Angeklagte nach dem Gesamtplan ihren aktiven Beitrag damit erbracht, dem R das Insulin zu spritzen, sie habe also nicht „bis zuletzt“ das Gesamtgeschehen in Händen halten sollen.

JurCase informiert:

Im sogenannten „Gisela-Fall“ ging es um einen einseitig fehlgeschlagenen ‚Doppelselbstmord‘. Der damalige Angeklagte und Gisela D. planten zusammen Suizid zu begehen. Sie saßen in einem Fahrzeug und leiteten dessen Auspuffgase in das Wageninnere. Der damalige Angeklagte schloss hierfür einen Schlauch an das Auspuffrohr an und führte ihn in den Wagen. Er verriegelte die linke Wagentür von außen, stieg auf der rechten Seite in das Fahrzeug und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Gisela saß auf dem Beifahrersitz und verriegelte ihre rechte Tür von innen. Der Angeklagte startete den Motor. Er trat das Gaspedal durch, bis das einströmende Kohlenoxyd ihm die Besinnung raubte. Nur der Angeklagte überlebte. Gisela starb. Der 2. Strafsenat des BGH kam zu einer Strafbarkeit nach § 216 StGB und entschied sich gegen die straflose Beihilfe zum Suizid:

„Der Angeklagte sollte das gesamte Geschehen bis zuletzt in der Hand haben und die auf den beiderseitigen Tod abzielende Ausführungshandlung bis zum Eintritt eigener Bewußtlosigkeit fortsetzen. Gisela mag zunächst noch in der Lage gewesen sein, die rechte Wagentür wieder zu öffnen oder den Fuß des Angeklagten vom Gashebel zu stoßen. Sie hatte sich aber entschlossen, die fortdauernde auf den Tod zielende Handlung des Angeklagten duldend hinzunehmen und tat dies auch, nicht wissend, wann es ihr nicht mehr möglich sein werde, sich der tödlichen Wirkung zu entziehen. Alles das wußte der Angeklagte; seine Rolle bei Ausführung des Gesamtplanes war unter solchen Umständen die eines Täters nach § 216 StGB.“

Die zweite Besonderheit des Beschlusses:

Der BGH lehnte auch eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Tötung auf Verlangen durch Unterlassen ab. Die Angeklagte habe sich nicht dadurch strafbar gemacht, dass sie davon absah, Rettungsmaßnahmen zu veranlassen, nachdem R. eingeschlafen sei. Dies folge daraus, dass sie weder einer Einstandspflicht aus der bestehenden Ehe noch aus Ingerenz unterlegen hätte.

JurCase informiert:

Grundsätzlich sind Ehegatten – wie es in § 1353 BGB zum Ausdruck kommt – bei einer bestehenden Lebensgemeinschaft einander als Garanten zum Schutz verpflichtet (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juli 2003 – 3 StR 153/03; BGH, Urteil vom 24.11.2016 – 4 StR 289/16):

„Ein Garant aus Ingerenz ist aufgrund seines pflichtwidrigen Vorverhaltens, das die nahe Gefahr des tatbestandsmäßigen Erfolgs verursacht hat, zur Erfolgsabwendung verpflichtet (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 25. September 1991 – 3 StR 95/91 […]).“ (BGH 4 StR 416/20 – Beschluss vom 24. März 2021).

Die Angeklagte sei zwar grundsätzlich Garant gegenüber R aufgrund der Ehe mit ihm gewesen. In dem konkreten Geschehen habe sie dennoch keine Pflicht zur Abwendung seines Todes gehabt, „[d]enn der ohne Wissens- und Verantwortungsdefizit frei gefasste und erklärte Sterbewille ihres Mannes, der sich darin manifestierte, dass er ihr verbot, ärztliche Hilfe zu holen, führte zur situationsbezogenen Suspendierung ihrer Einstandspflicht für sein Leben.“

Der BGH zog hier einen Vergleich zu den Grundsätzen, die für das Arzt-Patienten- Verhältnis oder in einer Wohn- und Lebensgemeinschaft gelten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei es anerkannt, dass eine Schutzposition des Arztes für Leib und Leben seines Patienten ende, wenn dieser von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch mache und lebenswichtige Heilbehandlungen ablehne, also einen Sterbewunsch äußere und nur noch um Begleitung im Sterben bitte. Ähnliches gelte auch bei einer Wohn- und Lebensgemeinschaft. Diese könne zwar Obhuts- und Schutzpflichten erzeugen, führe aber nicht zu einer Rechtspflicht die andere Person am selbstgewollten Ableben zu hindern, wenn diese ihren Willen hierzu frei und entschlossen gebildet habe.

Vor diesem Hintergrund könne für eine durch Eheschließung begründete Garantenpflicht nichts anderes gelten. Eine strafbewehrte Pflicht, den Ehepartner zu retten, wenn dieser infolge einer freiverantwortlichen Selbsttötungsentscheidung eingeschlafen sei, könne fortan keinen Bestand haben.

Der BGH argumentiert weiter, dass die Angeklagte auch keine Pflicht zur Rettung aufgrund des vorangegangenen gefährdenden Tuns gehabt habe.

JurCase informiert:

Nach dem BGH scheidet hier also auch die Garantenpflicht aus Ingerenz aufgrund der Verabreichung der Insulinspritzen und des Überreichens der Tabletten aus.

Auch hier führt der BGH die „[…] freiverantwortlichen Entscheidungen des Sterbewilligen, die Medikamente einzunehmen und die durch das Spritzen des Insulins in Gang gesetzte Ursachenreihe nicht zu unterbrechen […]“ als Grund für den Entfall der Garantenpflicht an. Das Risiko, dass sich die durch das Vorverhalten der Angeklagten erhöhte Gefahr verwirkliche, habe allein im Verantwortungsbereich von R. gelegen.

Eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen versuchter Tötung auf Verlangen (§ 216 Abs. 1, § 22 StGB) lehnte der BGH ebenfalls ab: Hierfür hätte sich die Angeklagte vorstellen müssen, der Ehemann habe nach der Verabreichung der Insulinspritzen keine Entscheidung mehr über Rettungsmaßnahmen treffen können. Dies habe das Landgericht jedoch nicht festgestellt.

Zuletzt scheide auch eine Strafbarkeit der Angeklagte wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB) aus, da ihr eine dem Willen des R zuwiderlaufende Hilfeleistung nicht zumutbar gewesen sei.

Fazit

Der BGH konkretisierte seine bisherige Rechtsprechung in diesem Beschluss gleich in zweierlei Hinsicht:

  1. Die Abgrenzung der straflosen Beihilfe zum Suizid von der strafbaren Tötung auf Verlangen soll nicht nur anhand einer äußerlichen Betrachtung des Geschehens – also des aktiven und passiven Handelns – erfolgen. Vielmehr ist eine normative Betrachtung des Geschehens erforderlich.
  2. Fasst ein Ehegatte freiverantwortlich einen Sterbewillen und äußert diesen, so unterliegt der andere Ehegatte keiner strafbewehrten Pflicht, diesen zu

Ein überraschender Beschluss BGH – Menschlich betrachtet vielleicht nachvollziehbar, juristisch betrachtet allerdings etwas ungewöhnlich. Stehen doch normative Betrachtungen gerade im Strafrecht – immer in der direkten Wechselwirkung mit dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs.2 GG. Andererseits gibt das Wort des § 216 StGB keine Kriterien dafür vor, wie die Abgrenzung einer Tötung auf Verlangen von einer straflosen Beihilfe zur Selbsttötung zu erfolgen hat und lässt damit einen Auslegungsspielraum. Diesen Auslegungsspielraum hat der BGH in seinem Beschluss vom Beschluss vom 28.06.2022 (6 StR 68/21) offenbar genutzt. Es bleibt abzuwarten, ob sich die neue normative Betrachtung in zukünftigen gleichgelagerten Fällen durchsetzen wird.

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Beitragsautor:

Laureen

Laureen

Laureen war zu ihrer Zeit bei uns Diplom-Juristin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich des Strafrechts bei Nagel Schlösser Rechtsanwälte. Sie hat bei uns über verschiedene Themen berichtet, etwa zu ihrem Referendariat und vor allem zu #Gewusst: Aktuelle Rechtsprechung.

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