Skip to main content
Gewusst

Wer mir in die Patrone springt, der wird nicht von mir ermordet – Tötungsvorsatz bei zu schnellen Autofahrten (Vorsatzzeitpunkt)

By 19. Juli 2023Oktober 10th, 2023No Comments
HierZucktDeinPrüfungsamt

#HierZucktDeinPrüfungsamt im Strafrecht in Kooperation mit VRiLG Dr. Nils Godendorff

Moin zusammen, heute empfehle ich dir das Urteil des 4. Strafsenats vom 13. April 2023. Es geht um versuchten Mord mit dem Auto. Ich möchte gar nicht die Diskussion eröffnen, ob diese Fälle zunehmen oder ob vielleicht nur mehr dieser Fälle als versuchte Tötungsdelikte kategorisiert werden. Jedenfalls wird die Frage nach Tötung (und Tötungsvorsatz) bei zu schnellen Autofahrten zunehmend erörtert, damit musst du dich beschäftigen.

JurCase informiert:

Das Urteil des 4. Strafsenats vom 14.04.2023 (4 StR 429/22) findest du kostenfrei hier auf der Seite des Bundesgerichtshofs.

Was ist passiert?

Der Angeklagte fuhr Auto – leider ohne Fahrerlaubnis. Polizeibeamte bemerkten ihn aus ihrem Fahrzeug heraus und wollten ihn kontrollieren. Anhaltesignale hatten nicht die gewünschte Wirkung. Sie motivierten den Angeklagten zur Flucht im hohen Tempo. Dabei fuhr er seinen Wagen so schnell, dass die Polizeibeamten die Verfolgung abbrachen, was der Angeklagte aber nicht bemerkte.

Er fuhr sodann – bewusst – in eine Straße ein, die für den Fahrzeugverkehr gesperrt war. Die Zeuginnen und Zeugen K., A. und H. waren allesamt mit ihren Kleinkindern dort unterwegs, der Angeklagte überfuhr sie alle fast. Sie mussten zur Seite springen, und sich in Sicherheit bringen.

Dies wissend durchfuhr der Angeklagte – weiter mit überhöhter Geschwindigkeit –  eine S‑Kurve. Neben anderen Zeugen befand sich hinter dem Kurvenausgang insbesondere der vierjährige B. Z., ungefähr in der Mitte der Fahrbahn auf seinem Laufrad; Vater Z. stand unmittelbar neben seinem Sohn. Der Angeklagte nahm B. Z. beim Ausfahren aus der S-Kurve wahr; er verringerte jedoch weder seine Geschwindigkeit noch versuchte er dem in seiner Fahrbahn stehenden Kind auszuweichen. Der Zeuge Z. ergriff sein Kind samt Laufrad und zog es von dem herannahenden Fahrzeug des Angeklagten fort, welches beide sodann mit einem Abstand von ca. 80 cm passierte. Der Angeklagte war sich dabei bewusst, dass er im Falle einer Kollision dem B. Z. tödliche Verletzungen zufügen könnte, und nahm dies billigend in Kauf.

Das Landgericht hat das Zufahren auf das Kind B. Z. als versuchten Mord mit einem gemeingefährlichen Mittel gewürdigt. Hinsichtlich des Vaters des Kindes, des Zeugen Z., vermochte die Strafkammer sich nicht von einem Tötungsvorsatz zu überzeugen, da sie nicht feststellen konnte, ob der Zeuge in der Fahrspur des Angeklagten stand oder außerhalb derselben.

Worum geht es?

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „versuchten Mordes in Tateinheit mit vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und mit vorsätzlichen verbotenen Kraftfahrzeugrennens und mit vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrer- laubnis in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in weiteren drei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln“, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt und Nebenentscheidungen getroffen.

Es liegt der recht selten vorkommende Fall einer StA-Revision vor, eingelegt zuungunsten des Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft rügt die unterbliebene Annahme eines weiteren Mordmerkmals, erstrebt die Verurteilung des Angeklagten wegen weiterer tateinheitlich verwirklichter Straftatbestände und wendet sich gegen den Strafausspruch. Diese Revision hat sowohl zulasten des Angeklagten teilweise Erfolg – aber auch zu seinen Gunsten. Wer nicht weiß, wieso das so ist, liest erstmal § 301 StPO.

Warum kein versuchter Mord an A, K und H?

Der Prüfungsmaßstab des Revisionsgerichts ist zwar manchmal beschränkt, aber nicht in Bezug auf die Kognitionspflicht des Tatrichters. „Kognitionspflicht“ ist der vornehme Ausdruck für „shit, das hätte man prüfen müssen???“, wenn du auf dem Flur über die Klausur sprichst. Leider ist der BGH die Kommilitonin bzw. der Kommilitone, die bzw. der es immer am besten wusste (oder das glaubte). Jedenfalls durfte die Strafkammer nicht darauf abstellen, dass der Angeklagte jedenfalls ab dem Moment, in dem er die drei Zeugen beinahe überfahren hatte, erkennen musste, dass da Menschen auf der Straße herumlaufen. Das waren dem BGH drei (mögliche) versuchte Tötungen zu wenig. Das ist nachvollziehbar: Dass in verkehrsberuhigten Bereichen Menschen herumlaufen, liegt auf der Hand und auch, dass es Kinder gibt, ist Allgemeinwissen. Was der Angeklagte eigentlich so dachte/wollte/tat als er sie sah – das war ein bisschen zu offen für den BGH. Der Einwand „ja, wie soll man das denn auch feststellen“ trägt hier mal so gar nicht. Entweder stellt man es als Tatrichter fest, indem man aufgrund äußerer Umstände in den Kopf des Angeklagten guckt. Oder man stellt fest, dass man es nicht feststellen kann. Mit beidem kann der BGH leben, aber nicht mit fehlender Prüfung und Feststellung.

B.Z. und sein Vater?

Was ich eben beschrieb, zeigt sich in Bezug auf Vater Z. Da hat der BGH nichts zu erinnern. Wenn sich der Tatrichter die Überzeugung bildet, dass der Vorsatz nicht feststellbar ist, geht das in Ordnung. Das ist ein wichtiger Unterschied zum Verstoß gegen die Kognitionspflicht, die eben erörtert wurde – an die Beweiswürdigung wird die Revisionsinstanz nicht ran gehen!

Und in Bezug auf B.Z. (Du erinnerst dich: Das vierjährige Kind, das von Vater Z. zur Seite gezerrt wird) ist der Tötungsvorsatz nicht zutreffend festgestellt. Denn die Kammer hat den Tatentschluss, einen bedingten Tötungsvorsatz, erst für den Zeitpunkt festgestellt, zu dem der Angeklagte nach der S-Kurve auf den Geschädigten B. Z. zufuhr und wohl keine Einflussmöglichkeiten mehr auf seine Fahrt hatte.

Das ist entscheidend und prägt die Rechtsprechung des 4. Senates seit einiger Zeit: „When the bullet leaves the gun“ ist der Zeitpunkt, in dem Tötungsvorsatz gegeben sein muss. Danach ist der Vorsatzentschluss egal.

Will sagen: Wenn ihr Schießübungen mit einer 9mm-Pistole macht (nicht empfehlenswert) oder Steine den Abhang herunterwerft, dann ist es egal, wenn ihr in letzter Sekunde seht, dass euer Erzfeind ins Bild springt. Wenn ihr euch dann denkt: „Super, dass der in die Flugbahn meiner Patrone springt / in der Wurfbahn meines Steines auftaucht, hurra! – dann ist das nicht nett von euch, aber kein Totschlagsvorsatz.

Gemeingefährlich und die anderen Mordmerkmale?

Autofahren wie ein Irrer ist nicht gemeingefährlich. So oder ähnlich könnte man wohl zusammenfassen, was der BGH als Segelanleitung mitgibt. Denn das Mordmerkmal der Gemeingefährlichkeit ist nur dann gegeben, wenn der Täter ein Mittel zur Tötung einsetzt, das in der konkreten Tatsituation eine Mehrzahl von Menschen an Leib und Leben gefährden kann, weil er die Ausdehnung der Gefahr nicht in seiner Gewalt hat (BGH, Beschluss vom 10. November 2022 – 4 StR 192/22 Rn. 8; Urteil vom 18. Juni 2020 – 4 StR 482/19, NJW 2020, 2900 Rn. 49, jew. mwN). In subjektiver Hinsicht erfordert es, dass der Täter die mangelnde Beherrschbarkeit der Wirkung des Tötungsmittels und die daraus resultierende Möglichkeit der Gefährdung einer unbestimmten Zahl von Personen an Leib oder Leben kennt oder jedenfalls ernsthaft für möglich hält und einen solchen Gefahreneintritt wünscht oder wenigstens billigend in Kauf nimmt (BGH, Beschluss vom 10. Februar 2021 – 1 StR 500/20, NStZ 2021, 361 Rn. 8).

Außerdem möge die neue Strafkammer, die das alles neu machen soll, bitte Heimtücke und Verdeckungsabsicht prüfen, so der BGH. Dabei hatte die Kammer wohl übersehen, dass auch der mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnde Täter mit Verdeckungsabsicht handeln kann, wenn die Aufdeckung der vorangegangenen Straftat durch die mit bedingtem Tötungsvorsatz ausgeführte Tathandlung als solche unabhängig vom Eintritt eines Todeserfolgs verhindert werden könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 30. März 2022 – 4 StR 356/21, NStZ 2022, 476 Rn. 9 mwN). Die Strafkammer meinte, eine Aufdeckung der Tat durch das Kind B.Z. sei nicht möglich, denn es könnte den Angeklagten nicht identifizieren. Wenn der Angeklagte aber seine Entdeckung als Täter einer vorangegangenen Straftat durch die ihn vermeintlich verfolgende Polizei verhindern wollte, würde dies für die Verdeckungsabsicht ausreichen.

Und dass Heimtücke bei jemandem, der arglose Spaziergänger überwalzt, naheliegt, muss nicht ausführlich erörtert werden.

Warum solltest du die Entscheidung noch lesen?

Wenn dir eine Kfz-Raserei in Form der Revisionsklausur begegnet, wirst du diese Ausführungen zum Zeitpunkt für die Feststellungen zum Vorsatzzeitpunkt brauchen!

Du kannst die Entscheidung als Ausgangspunkt nutzen, um dich noch einmal vertieft mit den Fragen der verbotenen Kraftfahrzeugrennen (und der „Rennen gegen sich selbst“) auseinanderzusetzen.

Du kannst dir Gedanken machen, ob aus StA-Sicht im Falle der Anklage­er­he­bung die Einziehung des Kfz nötig sein könnte, § 74 Abs. 1, 2. Var. StGB. In der Realität wird das recht offen am fehlenden Eigentum scheitern (§ 74 Abs. 3 Satz 1 StGB) – die rollenden Potenzmittel sind idR geleast. Das lässt sich in der Klausur natürlich anders gestalten.

Und sonst?

Für die mündliche Prüfung bietet sich die Zusatzfrage an, in welchen OLG-Bezirken dieser Fall eigentlich vorgefallen sein könnte (Tipp: In allen, beschäftige dich zur mündlichen Prüfung mal mit dem Geschäftsverteilungsplan des BGH)

Und nicht vergessen: Schreib regelmäßig Übungsklausuren!

Hat dir der Beitrag gefallen?

Beitragsautor:

Dr. Nils Godendorff

Dr. Nils Godendorff

Dr. Nils Godendorff ist vorsitzender Richter am Landgericht in Hamburg. Auf LinkedIn gibt Dr. Godendorff unter dem Hashtag #HierZucktDeinPrüfungsamt Hinweise zu examensrelevanten strafrechtlichen Entscheidungen. Die Reihe #HierZucktDeinPrüfungsamt in Kooperation mit Herrn Dr. Godendorff findest du auch bei JurCase!

Alle Beiträge von Dr. Nils Godendorff ansehen