Versammlungsfreiheit als krisenfestes Instrument
Laut dem Bundesverfassungsgericht ist die Versammlungsfreiheit für die Demokratie eine „unerlässliche Einflussnahmemöglichkeit auf den politischen Prozess“ (BVerfGE 69, 315, 346). In Zeiten von Krisen kann dieses Grundrecht aus Art. 8 des Grundgesetzes daher nicht einfach ausgehebelt werden. Dies gilt auch in Zeiten der COVID-19 Krise, auch wenn die zuständigen Behörden und Gerichte erst einmal ihren Weg im Umgang mit angemeldeten Demonstrationen finden mussten. Nicht zuletzt deshalb eignet sich diese Problematik hervorragend als Examensthema. Worauf es im Falle dessen zu achten gilt, erfährst Du hier.
Die Bedeutung der Versammlungsfreiheit
Obwohl Art. 8 GG doch einen recht kurzen Wortlaut hat, ist dies eines der historisch bedeutsamsten Grundrechte des Grundgesetzes. Es handelt sich hierbei dem Wortlaut nach zunächst um ein „Deutschengrundrecht“, es steht also allen Deutschen im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG zu. Über Art. 19 Abs. 3 GG können auch inländische juristische Personen des Privatrechts vom Schutzbereich erfasst werden. Nach herrschender Meinung können sich ausländische Personen für ihre Versammlung auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen.
JurCase informiert:
Zum sachlichen Schutzbereich gehört es, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
Dazu muss zunächst der Begriff der Versammlung definiert werden. Nach herrschender Meinung ist eine Versammlung eine Zusammenkunft mehreren Personen zu einem gemeinsamen Zweck mit innerer Verbundenheit. Vorerst sind die Anforderungen an diesen gemeinsamen Zweck umstritten.
Dem engen Versammlungsbegriff des Bundesverfassungsgerichtes zu Folge müssen die Personen zur Erörterung öffentlicher Angelegenheiten zusammenkommen. Dies wird historisch begründet, denn Art. 8 Abs. 1 GG ist eine Reaktion auf die Weimarer Zeit und das Dritte Reich und dient primär dem Schutz politischer Versammlungen. Es ist auch eng verbunden mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 GG), da es einen Ausgleich für die geringen Einflussmöglichkeiten der Bürger auf die tägliche Regierungsarbeit bietet. Diese Möglichkeit soll auch vor Verdruss in der Bevölkerung schützen.
Nach anderer Ansicht und dem weiten Versammlungsbegriff reicht jeder Zweck ohne Meinungskundgabe, außer die Versammlung dient nur dem reinen Konsum, wie ein Musikkonzert, die Loveparade oder eine Weihnachtsparade. Das wird begründet mit dem Wortlaut, der eine Eingrenzung eben nicht vorsieht. Dagegen spricht, dass zwischen innerer Verbundenheit und reinem Konsum manchmal schlecht unterschieden werden kann.
Auch die Mindestanzahl der sich versammelnden Personen bewirkt hin und wieder Diskussionen. Die herrschende Meinung fordert insoweit mindestens zwei Personen, da ab dann gemeinsam ein Zweck verfolgt werden kann. Nach anderer Meinung werden drei gefordert, da man typischerweise bei zwei Personen nicht an eine Versammlung denke.
Ohne Waffen bedeutet, dass keine Waffe im Sinne des §1 WaffG mitgeführt werden darf. Friedlich ist eine Versammlung, wenn sie keinen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt und keine Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen unmittelbar bevorstehen oder bereits stattfinden. Eine körperliche Einwirkung ist nicht gegeben beim Sitzen auf Straßen oder Bahngleisen (BVerfGE 92, 1,16;87, 399, 406).
JurCase informiert:
Besteht Schutz für die Versammlung, ist die Organisation, Vorbereitung, die Wahl des Orts- und Zeitpunktes sowie An- und Abreise geschützt und natürlich am wichtigsten: die Teilnahme an der Versammlung. Eine öffentliche Kundgabe der eigenen Meinung mit anderen zusammen soll genau so wenig pönalisiert werden wie die individuelle Meinungskundgabe aus Art. 5 Abs. 1 GG.
Warum man „Corona-Demos“ nicht einfach verbieten darf
Ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit besteht bei Verboten, Auflösungen, Anmeldungs- und Erlaubnispflichten, Überwachungen, Behinderungen der Versammlung oder Sanktionierung einer Teilnahme. Diese Eingriffe können aber gerechtfertigt sein.
Nach Art. 8 Abs. 2 GG gibt es bei Versammlungen unter freiem Himmel ausdrücklich einen Gesetzesvorbehalt. Findet eine Versammlung nicht unter freiem Himmel statt, können nur verfassungsimmanente Schranken, also kollidierendes Verfassungsrecht greifen.
JurCase informiert:
Die Schranken für Art. 8 Abs. 2 GG finden sich unter anderem im Versammlungsgesetz. Klassiker sind hier die Anmeldepflicht nach §14 VersG, sodass eigentlich alle Versammlungen im Vorhinein angemeldet werden müssen. Durch den wichtigen Gehalt des Grundrechtes müssen aber auch im Wege der verfassungskonformen Auslegung der Norm Spontanversammlungen zugelassen werden. Das einschränkende Gesetz muss insbesondere verhältnismäßig sein und das Zitiergebot beachten. Auflösungen und Verbote von Versammlungen dürfen nur das letzte Mittel sein, wenn alle milderen Möglichkeiten wie Auflagen ausgeschöpft wurden. Die Versammlungsfreiheit hat wie oben gesehen einen hohen Bedeutungsgehalt für die Demokratie. Daher wurde aber auch bei rechtextremistisch motivierten Versammlungen ein Verbot vereinzelt als zulässig erachtet, es kommt hierbei auch auf den Ort und das Datum der Demonstration an (z.B. OVG NRW DVBI. 2001, 1624). Das Grundgesetz ist historisch gesehen gerade ein Gegenentwurf zum Nationalsozialismus und soll gegen dieses Gedankengut arbeiten.
Die Gerichte sind mit Demonstrationen in Zeiten von COVID-19 sehr unterschiedlich umgegangen. Das VG Hannover hatte beschlossen, dass die niedersächsische Allgemeinverfügung ein faktisches Versammlungsverbot durch die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen enthielt. Zugunsten des „überragenden Schutzguts der menschlichen Gesundheit und des menschlichen Lebens“ sei dies aber gerechtfertigt, solange es eine temporäre Maßnahme sei (VG Hannover, Beschluss vom 27.03.2020 – 15 B 1968/20).
Auch Demonstrationen zu Zeiten von Corona, aber zu anderen Themen (Seebrückenaktionstag), haben Gerichte verboten (VG Berlin, Beschluss vom 04.04.2020 – VG – SR 1/20; VG Hamburg, Beschluss vom 04.04.2020 – 3 E 1568/20).
Das BVerfG schritt jedoch gegen das VG Gießen ein und erlegte dem Gericht auf, dass Auflagen genau zu prüfen seien, bevor ein Verbot ausgesprochen werden könnte (BVerfG, Beschluss vom 15.04.2020 – 1 BvR 828/20) und auch in einer Pandemie die praktische Konkordanz der Grundrechte zu gewährleisten sei.
Gerade in der zweiten Jahreshälfte haben sich „Corona Querdenkerdemonstrationen“ gebildet. Während das OVG Sachsen eine solche mit Auflagen zur Beschränkung der Teilnehmerzahl erlaubte (Sächsisches OVG, Beschl. v. 07.11.2020 – 6 B 368/20) wurde eine spätere Demo verboten (Sächsisches Oberverwaltungsgericht Bautzen Beschl. 6 B 432/20).
Auch das VG Bremen hat eine solche Demonstration aufgrund des „unkalkulierbaren Risikos für den Gesundheitsschutz“ verboten (Beschl. v. 02.12.2020, Az. 5 V 2748/20). Dies wurde auch vom Bundesverfassungsgericht bestätigt (BVerfG 1 BvQ 145/20).
Es ist zu beachten, dass dies alles Eilentscheidungen sind, bei denen nur eine Folgenabwägung beider Seiten stattfindet.
Fazit
Wenn es um die Versammlungsfreiheit geht, darf nur wenig dem Recht der öffentliche Meinungskundgabe entgegenstehen. Gerade in Zeiten von COVID-19 sind bei Demonstrationen zunächst an Auflagen zu denken, bevor sie ganz verboten werden. Dies muss natürlich im Lichte der Erfahrungen gesehen werden, wie sich bestimmte Gruppen auf vergangenen Versammlungen verhalten haben. Wichtig ist noch die „Polizeifestigkeit der Versammlung“, das heißt, dass Maßnahmen aus dem Polizeirecht nur nach Beendigung der Versammlung angewendet werden dürfen. All dies trägt der historisch bedeutsamen Geschichte der Versammlungsfreiheit Rechnung.