BGH, Beschl. v. 17.01.2024 – 2 StR 100/23, BeckRS 2024, 7989
Schwerpunkte: §§ 337, 344 StPO; Art. 6 EMRK; Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG
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Fall
A wurde durch das Landgericht im ersten Rechtszug durch Urteil vom 19.06. 2014 wegen Urkundenfälschung in 24 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt, von der drei Monate wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt wurden. Die Bildung einer nachträglichen Gesamtfreiheitsstrafe wurde zurückgestellt.
Die Urteilsfeststellungen betrafen einen Verfahrenskomplex aus den Jahren 2004 und 2005, die Ermittlungen ab dem Jahr 2007 nach sich zogen. Über einen Zeitraum von vier Monaten fand im Jahr 2008 keine Verfahrensförderung statt. Nach Anklageerhebung am 20.10.2009 hatte das Landgericht die Anklage mit Beschluss vom 07.04.2011 zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Die Hauptverhandlung begann im November 2011. Gegen dieses Urteil legte A Revision ein, woraufhin der Senat das Urteil mit Beschluss aus Juli 2015 in einigen Fällen mit den Feststellungen, im Gesamtstrafenausspruch sowie im Ausspruch über die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den zugehörigen Feststellungen aufhob und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwies.
In der Folge gingen die Akten am 23.10.2015 bei der Staatsanwaltschaft und am 29.10.2015 erneut beim Landgericht ein. Die neue Hauptverhandlung begann im Oktober 2017. Mit Urteil vom 06.12.2017 sprach das Landgericht A nunmehr wegen Urkundenfälschung in lediglich 18 Fällen schuldig und verurteilte ihn unter Einbeziehung diverser Vorverurteilungen, jeweils unter Auflösung der in diesen Verfahren gebildeten Gesamtstrafen, zu einer neuen Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten sowie einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Wochen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Daneben ordnete das Landgericht an, dass von der erstgenannten Gesamtfreiheitsstrafe wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung sechs Monate, eine Woche und drei Tage als vollstreckt gelten. A legte gegen diese Entscheidung Revision ein.
Die bei der Staatsanwaltschaft vollständig im Juli 2018 eingegangenen Verfahrensakten wurden erst am 08.03.2023 weitergeleitet, weil sie in der Zwischenzeit „außer Kontrolle“ geraten waren. Sie erreichten am 16.03.2023 den Generalbundesanwalt und gingen am 24.04.2023 beim Senat des Bundesgerichtshofs ein.
Hat eine zulässige Revision mit der ordnungsgemäß erhobenen Rüge der Verletzung formellen Rechts Erfolg?
Leitsätze
- Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots führt grundsätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis, sondern ist durch die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung und ggf. durch eine Kompensation in Anwendung der sog. Vollstreckungslösung ausreichend berücksichtigt.
- Lediglich in außergewöhnlichen Sonderfällen, wenn eine angemessene Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen der Sachentscheidung bei umfassender Gesamtwürdigung nicht mehr in Betracht kommt, kann eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ein Verfahrenshindernis begründen, das den Abbruch des Verfahrens rechtfertigen kann.
- Dabei ist eine sich nicht aus den Urteilsgründen ergebende Verletzung des Beschleunigungsgebots im Revisionsverfahren grundsätzlich nur auf eine Verfahrensrüge hin zu prüfen. Allerdings ist für Verzögerungen nach Urteilserlass ein Eingreifen des Revisionsgerichts von Amts wegen geboten, wenn der Angeklagte diese Gesetzesverletzung nicht form- und fristgerecht rügen konnte.
Gutachten
Die Rüge hat Erfolg, wenn A geltend machen kann, dass das Urteil auf einer Gesetzesverletzung beruht, § 337 Abs. 1 und 2 StPO.
In Betracht käme die Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses aufgrund einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung.
„[5] Nach der Rspr. des BGH wird ein Verfahrenshindernis begründet durch Umstände, die es ausschließen, dass über einen Prozessgegenstand mit dem Ziel einer Sachentscheidung verhandelt werden darf. Diese müssen so schwer wiegen, dass von ihnen die Zulässigkeit des gesamten Verfahrens abhängig gemacht werden muss.“
Das Vorliegen von Verfahrenshindernissen begründet regelmäßig einen Verfahrensfehler, der zur Aufhebung des Urteils und vorläufigen oder endgültigen Einstellung des Verfahrens führt, soweit die Verfahrensbedingung reicht und das Urteil davon betroffen ist (vgl.AS-Skript Strafurteil und Revisionsrecht in der Assessorklausur [2023], Rn. 366).
„[6] Ein Anwendungsfall wird innerhalb dieser Rspr. in der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung gesehen. So verletzt eine erhebliche Verzögerung eines Strafverfahrens den Betroffenen in seinem aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) herrührenden Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren und zugleich die in Art. 6 Abs. 1 MRK niedergelegte Gewährleistung, die eine Sachentscheidung innerhalb angemessener Dauer sichern soll.
[7] Allerdings führt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots grundsätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis, sondern ist durch die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung und ggf. durch eine Kompensation in Anwendung der sog. Vollstreckungslösung ausreichend berücksichtigt. Lediglich in außergewöhnlichen Sonderfällen, wenn eine angemessene Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen der Sachentscheidung bei umfassender Gesamtwürdigung nicht mehr in Betracht kommt, kann eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ein Verfahrenshindernis begründen, das den Abbruch des Verfahrens rechtfertigen kann.“
1. Zunächst ist die tatsächliche Verzögerung des Verfahrens festzustellen.
Bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung liegen nach den Feststellungen und Wertungen des Landgerichts Verfahrensverzögerungen von zwei Jahren, vier Monaten und zwei Wochen vor. Fraglich ist, ob auch die erst nach Erlass der angefochtenen Entscheidung eingetretenen Verzögerungen Berücksichtigung finden, da diese nicht Teil der Verfahrensrüge des A sind.
„[15] Zwar ist eine sich nicht aus den Urteilsgründen ergebende Verletzung des Beschleunigungsgebots im Revisionsverfahren grundsätzlich nur auf eine Verfahrensrüge hin zu prüfen. Allerdings ist für Verzögerungen nach Urteilserlass ein Eingreifen des Revisionsgerichts von Amts wegen geboten, wenn der Angeklagte diese Gesetzesverletzung nicht form- und fristgerecht rügen konnte.
[16] Davon ausgehend ist nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eine weitere Verzögerung von vier Jahren und sieben Monaten festzustellen, die auf die erheblich verzögerte Versendung der Verfahrensakten durch die Staatsanwaltschaft an das Revisionsgericht zurückzuführen ist.“
Nach Auswertung des Akteninhalts von Amts wegen ist mithin eine Verfahrensverzögerung von sechs Jahren, elf Monaten und zwei Wochen festzustellen.
2. Angesichts der erheblich langen Verfahrensdauer ist fraglich, ob zum Ausgleich eine Kompensationsentscheidung ausreichend ist oder ob ein Verfahrenshindernis mit der Folge einer Verfahrenseinstellung anzunehmen ist.
„[19] Zwar darf bei dieser Betrachtung nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Gesamtverfahrensdauer auch maßgeblich durch die über zweieinhalb Jahre andauernde Hauptverhandlung bis zum Verfahrensabschluss im ersten Rechtsgang bedingt ist und die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens ein weiteres Jahr und vier Monate erforderte.
[20] Gleichwohl übertrifft die Verfahrensdauer die gesetzliche Verfolgungsverjährung von fünf Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) mittlerweile um das Doppelte, was auch angesichts rechtlicher und tatsächlicher Schwierigkeiten des gesamten Tatkomplexes … unangemessen ist … Hinzu treten die dargelegten nicht zu rechtfertigenden Verfahrensverzögerungen durch Justizorgane von nunmehr insgesamt sechs Jahren, elf Monaten und zwei Wochen.
[25] Insoweit gewinnt … Bedeutung, dass die getroffenen Feststellungen den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch der angefochtenen Entscheidung tragen und das Verfahren … durch die Senatsentscheidung seinen Abschluss findet, die Akten dem Revisionsgericht auch nicht willkürlich vorenthalten wurden, sondern ,außer Kontrolle‘ geraten waren.
[26] Zudem ist weder ersichtlich noch von der Revision konkret vorgetragen, dass [A] durch das Verfahren besonderen Belastungen ausgesetzt war, die über die allgemeine Dauer des Verfahrens hinausgegangen wären und allein durch eine Einstellung ausgeglichen werden könnten.
[27] … Für [A] war … ersichtlich, dass er trotz der Aufhebung nicht mit einem Teilfreispruch, sondern vielmehr mit einem weiteren Schuldspruch und der Verhängung weiterer Einzelstrafen zu rechnen hatte. Dabei hatte er als alleiniger Revisionsführer stets Gewissheit darüber, dass eine Strafverschärfung ausgeschlossen war (§ 358 Abs. 2 StPO).
[28] In einer Gesamtschau der überlangen Verfahrensdauer einschließlich der durch die Justiz verschuldeten Verzögerungen sowie des Umstands, dass sich die Taten nur im Bereich mittlerer Kriminalität bewegten, andererseits aber der geringen und allgemein bleibenden Belastungssituation des [A], genügt eine weitere Kompensationsentscheidung.“
3. Zu prüfen bleibt, ob die vom Landgericht festgesetzte Kompensation für die dort bereits festgestellte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung rechtlicher Nachprüfung standhält.
„[33] … Das Landgericht hat nach dem sog. Vollstreckungsmodell zur Entschädigung für die bis Urteilserlass eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von zwei Jahren, vier Monaten und zwei Wochen angeordnet, dass fünf Monate … der verhängten ersten Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Dies hält sich im Rahmen des dem Tatrichter eingeräumten Bewertungsspielraums und ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.“
4. Schließlich bedarf es einer zusätzlichen Kompensation für den nach Urteilserlass eingetretenen Konventionsverstoß.
„[35] Diese ist aufgrund des erheblichen Umfangs der Verzögerung so zu bemessen, dass der nach Abzug der bereits durch das Landgericht ausgesprochenen Kompensation und nach Anrechnung (§ 51 Abs. 2 StGB) der bereits vollstreckten und in die Gesamtfreiheitsstrafen einbezogenen Vorstrafen … verbleibende vollstreckungsfähige Strafrest der beiden Gesamtfreiheitsstrafen als vollstreckt gilt, sodass dem Angeklagten keine weiteren Freiheitsentziehungen drohen.“
Ergebnis: Die Revision des A hat mit der Verfahrensrüge insoweit Erfolg, als dass sie zu einer weiteren Kompensation für die nach Urteilsverkündung eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung führt.
Diese Rechtsprechung wurde für dich von StAin Dr. Christina Lang aufbereitet.
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