Skip to main content
Gewusst

Irrtum, Rücktritt, Fehlverhalten (1 StR 403/23)

HierZucktDeinPrüfungsamt

#HierZucktDeinPrüfungsamt im Strafrecht in Kooperation mit VRiLG Dr. Nils Godendorff

 

Moin zusammen,
heute empfehle ich Dir einen Beschluss des BGH vom 17.04.2024 (1 StR 403/23). Der Angeklagte ist Chirurg. Das Landgericht hat ihn wegen Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter schwerer Körperverletzung in Tatmehrheit mit schwerer Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat.

 

Kurze Zwischenfrage:

Kommt Dir das komisch vor? Der Instanzenzug war: Landgericht Große Strafkammer – Revision zum BGH. Und das setzt doch an sich eine Straferwartung von vier Jahren voraus (§ 74 Abs. 1, 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GVG), oder? Sonst könnte das doch gern der Strafrichter oder das Schöffengericht machen. Nun, die Gründe für diesen Instanzenzug ergeben sich nicht aus der Entscheidung. Manchmal liegt die Staatsanwaltschaft mit der Einschätzung der Strafe daneben und manchmal bejaht sie die besondere Bedeutung des Falles (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG). Diese Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist grundsätzlich nicht überprüfbar (kritisch, wenn auch völlig erfolglos mit seinem Anliegen, vgl. Godendorff, StV 2017, 626).

Was hat das Landgericht festgestellt?

Der Angeklagte hatte zwei Patienten (P und G) zu operieren, die beide an einer geistigen Behinderung litten und beide einwilligungsunfähig waren.

  • P und G hatten einen Leistenbruch. Ohne Zweifel waren diese Leisten-Operationen notwendig und auch von den Einwilligungen der Einwilligungsberechtigten gedeckt.
  • Bezüglich G hatte der Angeklagte mit den Eltern vereinbart, dass er G im Rahmen der Operation sterilisieren würde, ohne dass G hiervon erfährt.
  • Bei P sollte einfach nur der Leistenbruch behoben werden.

Der Angeklagte operierte zuerst den P (vereinbart: nur Leistenbruch); er behob zum einen den Leistenbruch und sterilisierte ihn, weil er die Patienten verwechselte. Unmittelbar nach Erkennen der Personenverwechselung teilte er seinen Irrtum den Eltern mit und vermittelte P an einen Spezialisten für Refertilisation. Zwei Wochen später kann die Zeugungsfähigkeit des P durch eine mehrstündige Operation – nicht ausschließbar – wiederhergestellt werden. Mit anderen Worten: Kann sein, dass er wieder zeugungsfähig ist.

Bei G führte der Angeklagte den Eingriff Leistenbruch-OP und Sterilisation kurze Zeit später durch, ohne dass die hierfür erforderliche Genehmigung des Betreuungsgerichts vorliegt: Ein Sterilisationsbetreuer (§ 1899 Abs. 2 BGB a.F.) war nicht bestellt worden; die erforderliche Genehmigung des Betreuungsgerichts für die Sterilisation (§ 1905 BGB a.F.) lag ebenfalls nicht vor.

Was entschied das Landgericht?

Bei der Verurteilung zum Nachteil des P (also: nur Leistenbruch, Sterilisation aus Versehen) hat das Landgericht zu Gunsten des Angeklagten eine vollendete Körperverletzung aber nur den Versuch der schweren Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB angenommen. Denn die schwere Folge – hier der Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit sei – bei dem Geschädigten P. möglicherweise nicht eingetreten.

Bei G (vollständig und willentlich durchgeführte Sterilisation ohne Einwilligung) ist es von einer schweren Körperverletzung ausgegangen.

Und was sagt der BGH dazu?

Die Revision des Chirurgen hat Erfolg bezüglich P, soweit das Landgericht wegen versuchter schwerer Körperverletzung verurteilt hat. Denn insoweit sei das Landgericht bei der Beurteilung der Freiwilligkeit des Rücktritts vom Versuch von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen.

Zutreffend seien zwar im Ausgangspunkt die Annahme einer schweren Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 1, 4. Var., Abs. 2, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB. Auch das Ausbleiben des Erfolgs habe das Landgericht zutreffend beurteilt. Denn die in § 226 Abs. 1 StGB bezeichneten schweren Folgen müssen von längerer Dauer sein. Diese „Langwierigkeit“ der schweren Folge ist Teil des tatbestandlichen Erfolgs; fehlt es hieran, ist der Tatbestand nicht vollendet (MüKo-StGB/Hardtung, 4. Aufl. 2021, § 226 Rn. 13; LK-StGB/Grünewald, 13. Aufl. 2023, § 226 Rn. 3). „Längere Dauer“ ist dabei nicht mit Unheilbarkeit gleichzusetzen. Es genügt, wenn die Behebung bzw. nachhaltige Verbesserung des – länger währenden – krankhaften Zustands nicht abgesehen werden kann. Andererseits kommt es dem Täter zugute, wenn die zumindest teilweise Wiederherstellung konkret wahrscheinlich ist (BGH, Urteile vom 11.05.2023 – 4 StR 421/22 Rn. 14 und vom 23.10.2019 – 5 StR 677/18 Rn. 22). Für die Beurteilung ist im Grundsatz der Zeitpunkt des Urteils maßgebend (BGH, Urteil vom 07.02.2017 – 5 StR 483/16, BGHSt 62, 36 Rn. 16).

Rücktritt!

Aber, wir alle wissen: Wer Versuch prüft, prüft danach den Rücktritt! Zur Verdeutlichung nochmal gebrüllt:

Wer Versuch prüft, prüft danach den Rücktritt1!!!!11!!!!!1!!1!!!!!1!111!!!!

Und beim Rücktritt ist der BGH anderer Auffassung als das Landgericht:

„Tat“ im Sinne von § 24 Abs. 1 StGB sei die Tat im sachlich-rechtlichen Sinne, also die in den gesetzlichen Straftatbeständen umschriebene tatbestandsmäßige Handlung und der tatbestandsmäßige Erfolg. Ein Rücktritt gemäß § 24 Abs. 1 StGB setze daher nur ein Abstandnehmen von bzw. eine Verhinderung der Vollendung dieses gesetzlichen Tatbestands voraus. Mit anderen Worten: Eine innere Distanzierung davon, Einwilligungsunfähige ohne Genehmigung operieren zu wollen, ist nicht notwendig. Die vorherige Erreichung außertatbestandlicher Ziele sei unschädlich. Und dies gelte auch in den Fällen eines „sinnlos gewordenen Tatplans“ (dazu BGH, Beschluss vom 14.11.2007 – 2 StR 458/07 Rn. 7 f.).

Die „Tat“ im Sinne von § 24 Abs. 1 StGB, deren Rücktritt hier in Rede steht, ist nicht die beabsichtigte Sterilisierung des konkreten identifizierbaren Patienten, sondern allgemeiner die vom Tatbestand des § 226 Abs. 1 Nr. 1 Alternative 4, Abs. 2 StGB umschriebene Verursachung der Zeugungsunfähigkeit einer Person. Diese „Tat“ war nicht fehlgeschlagen, sondern wäre – hätte der Angeklagte den Dingen seinen Lauf gelassen – zum Nachteil des P. zur Vollendung gelangt. Die Identität des Patienten betraf lediglich außertatbestandliche Motive des Angeklagten. Ob der Angeklagte von seinem Entschluss, den Patienten G. zu sterilisieren, (endgültig) abgerückt ist, ist somit unerheblich.

Dies wahre auch den Opferschutz, weil für den Täter ein Anreiz geschaffen werde, die Tatvollendung nach Bemerken eines „error in persona“ noch aktiv zu verhindern. Mit anderen Worten: Wenn wir anders entscheiden würde, würde der nächste Chirurg die Eltern nicht aufklären, weil es für ihn strafbar bliebe. Und auch die Literatur halte einen Rücktritt beim „error in persona“ jedenfalls bei einem beendeten Versuch im Ergebnis für möglich, wenn der Täter seine Verwechslung erst nach Vornahme der Tathandlung bemerkt und sich nunmehr erfolgreich um die Rettung seines verletzten Opfers bemüht.

Warum solltest du die Entscheidung noch lesen?

  1. Die Entscheidung bietet dem Prüfungsamt die Möglichkeit, die Verschränkung einer zivilrechtlichen Einwilligung und strafrechtlichen Verfolgung abzuprüfen.
  2. Sie bietet darüber hinaus den ungewöhnlichen „error in persona im Rücktritt“.
  3. Die Entscheidung lässt sich vielfältig umbauen, zum Beispiel zum Irrtum des Profikillers, der sein Opfer fasst erschießt, den Irrtum bemerkt, es wiederbelebt, um kurz danach das „richtige“ Opfer zu erschießen und seinen Tötungswillen zu manifestieren.

JurCase informiert:

Den Beschluss des BGH vom 17.04.2024 (1 StR 403/23) findest du kostenfrei hier auf der Seite des Bundesgerichtshofs.

Und nicht vergessen: Schreib regelmäßig Übungsklausuren!

Mit den besten Grüßen aus Hamburg
Nils Godendorff

Hat dir der Beitrag gefallen?

Beitragsautor:

Dr. Nils Godendorff

Dr. Nils Godendorff

Dr. Nils Godendorff ist vorsitzender Richter am Landgericht in Hamburg. Auf LinkedIn gibt Dr. Godendorff unter dem Hashtag #HierZucktDeinPrüfungsamt Hinweise zu examensrelevanten strafrechtlichen Entscheidungen. Die Reihe #HierZucktDeinPrüfungsamt in Kooperation mit Herrn Dr. Godendorff findest du auch bei JurCase!

Alle Beiträge von Dr. Nils Godendorff ansehen