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Fall des Monats November 2021: Grenzen des Selbsthilferechts gem. § 910 BGB

By 15. November 2021Oktober 10th, 2023No Comments
Fall des Monats

Problem: Grenzen des Selbsthilferechts gem. § 910 BGB

Einordnung: Sachenrecht, Nachbarrecht

BGH, Urteil vom 11.06.2021 V ZR 234/19

EINLEITUNG

Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Nicht selten sind Bäume die Ursache für Nachbarstreitigkeiten. Was Nachbarn zu dulden haben, regeln die §§ 906 ff. BGB sowie die Nachbarrechtsgesetze der Bundesländer.

SACHVERHALT

Das Ehepaar K und der B sind Eigentümer benachbarter Grundstücke in Berlin. Auf dem im Miteigentum der K stehenden Grundstück steht unmittelbar an der gemeinsamen Grenze zum Grundstück des B seit rund 40 Jahren eine etwa 15 Meter hohe Schwarzkiefer. Ihre Äste ragen auf das Grundstück des B. Von ihnen fallen Nadeln und Zapfen herab. Nachdem B die K unter Setzung einer angemessenen Frist erfolglos aufgefordert hatte, die Äste der Kiefer zurückzuschneiden, schnitt er überhängende Zweige selbst ab. Mit der Klage verlangen die K von B, es zu unterlassen, von der Kiefer oberhalb von fünf Meter überhängende Zweige abzuschneiden. Zu Recht?

Anmerkung: Folgende landesrechtliche Rechtsnorm benötigen Sie zur Falllösung:

§ 31 NachbG Bln – Beseitigungsanspruch

Wird der vorgeschriebene Mindestabstand nicht eingehalten, so kann der Nachbar die Beseitigung der Anpflanzung verlangen. Der Eigentümer und der Nutzungsberechtigte des Grundstücks sind befugt, stattdessen die Anpflanzung auf ihrem Grundstück zurückzuschneiden, sofern auch auf diese Weise ein den Vorschriften dieses Gesetzes entsprechender Zustand hergestellt werden kann.  

§ 32 NachbG Bln – Ausschluß des Beseitigungsanspruchs

Der Anspruch nach diesem Gesetz auf Beseitigung von Anpflanzungen, die die vorgeschriebenen Mindestabstände nicht einhalten, ist ausgeschlossen, wenn der Nachbar nicht bis zum Ablauf des fünften auf das Anpflanzen folgenden Kalenderjahres Klage auf Beseitigung erhoben hat. Für Hecken, die beim Anpflanzen den vorgeschriebenen Abstand einhalten, beginnt die Frist, wenn sie über die nach diesem Gesetz zulässige Höhe hinausgewachsen sind.

LEITSÄTZE

Das Selbsthilferecht nach § 910 Abs. 1 BGB ist – vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen eines Rückschnitts – nicht deshalb ausgeschlossen, weil durch die Beseitigung des Überhangs das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.

LÖSUNG

A. Anspruch der K gegen B aus § 1004 I 2 BGB auf Unterlassung des Abschneidens der Zweige
Die K könnten gegen B einen Anspruch auf Unterlassung des Abschneidens der Zweige aus § 1004 I 2 BGB haben.

I. Eigentum der K

Ein Anspruch aus § 1004 I 2 BGB erfordert, dass der Anspruchssteller Eigentümer der Sache ist. Hier sind die K Eigentümer des Grundstücks. Gem. § 94 I 2 BGB wird eine Pflanze bereits mit dem Einpflanzen wesentlicher Bestandteil des Grundstücks und gehört damit gem. § 946 BGB dem Grundstückseigentümer. Folglich sind die K Eigentümer der Schwarzkiefer.

II. Beeinträchtigung des Eigentums

Ferner muss das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung beeinträchtigt sein. Vorliegend schneidet B Äste der Schwarzkiefer ab. Diese Einwirkung auf die Sachsubstanz ist weder Vorenthaltung noch Besitzentziehung, verletzt aber das Eigentum.

III. Störereigenschaft

Der Anspruchsgegner muss Störer sein. Störer ist, wer die Möglichkeit hat, die Störung zu beenden. Der Fortbestand der Störung muss auf seinem Willen beruhen. Handlungsstörer ist, wer die Störung adäquat kausal veranlasst hat. Hier hat B die Äste des Baumes der K abgeschnitten und damit unmittelbar auf das Eigentum der K eingewirkt. Folglich ist B Störer.

Liegt der Fall so klar wie hier – B trennt Zweige ab – erübrigt sich ein Eingehen auf jeden Streit zum Störerbegriff.

IV. Wiederholungsgefahr

Macht der Anspruchssteller einen Anspruch aus § 1004 I 2 BGB auf Unterlassen einer Störung geltend, muss Wiederholungsgefahr bestehen. Nach vorangegangener Beeinträchtigung wird die Wiederholungsgefahr vermutet, wenn nicht der Störer die Wiederholungsgefahr widerlegt. Indem B diese nicht widerlegt hat, besteht Wiederholungsgefahr.

V. Keine Duldungspflicht gem. § 1004 II BGB

Der Anspruch aus § 1004 I 2 BGB ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer gem. § 1004 II BGB zur Duldung verpflichtet ist.
Die K könnten gem. §§ 1004 II, 910 I BGB zur Duldung verpflichtet sein, wenn B das in § 910 I BGB normierte Selbsthilferecht zusteht. Hierfür spricht zum einen, dass Schwarzkiefernzweige vom Grundstück der K auf das Grundstück des B herüberragten und zum anderen, dass B den K erfolglos eine angemessene Frist zur Beseitigung gesetzt hatte. Folglich könnten die K wegen des Selbsthilferechts des B aus § 910 I BGB zur Duldung des Beschneidens des Baumes verpflichtet sein, was ihren Anspruch aus § 1004 I 2 BGB ausschlösse.

Allein fraglich ist, ob das Selbsthilferecht des B als Eigentümer des von den Zweigen gestörten Grundstücks ausgeschlossen ist.

Die Voraussetzungen des Selbsthilferechts aus § 910 I BGB liegen vor.

Fraglich ist allein der Ausschluss des Rechts

  1. Ausschluss gem. § 910 II BGB

Das Selbsthilferecht des B könnte gem. § 910 II BGB ausgeschlossen sein.

e.A.: Das Selbsthilferecht aus § 910 I BGB hat Grenzen, wenn der Baum stirbt.

[18] Nach verbreiteter Ansicht soll das Selbsthilferecht ausgeschlossen sein, wenn durch dessen Ausübung der Baum derart geschädigt wird, dass er seine Standfestigkeit verliert oder abzusterben droht. Dies wird unterschiedlich begründet.

[19] Teilweise wird davon ausgegangen, dass es an einer Beeinträchtigung i.S.v. § 910 Abs. 2 BGB fehlt, wenn die Folgen, die die Beseitigung des Überhangs für den Baum hat, außer Verhältnis stehen zu den von dem Überhang ausgehenden Störungen, so dass die Beseitigung des Überhangs für den Nachbarn, auf dessen Grundstück der Baum steht, unzumutbar sei. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn die Beseitigung des Überhangs zu einem Absterben des Baumes oder zu einer erhöhten Risikolage führte, weil die Maßnahme dann auf eine verbotene Beseitigung des Baumes hinauslaufe (…).

OLG Saarbrücken, OLGR 2007, 927, 929; OLG Köln, SchAZtg 2011, 246, 250; LG Hamburg, ZMR 2016, 324, 326

Staudinger/Roth, BGB [2020], § 910 Rn 35

[20] Vereinzelt wird angenommen, dass landesrechtliche Vorschriften das zum Absterben des Baumes führende Abschneiden von Überhang ausschließen, wenn die dort – wie etwa in § 32 NachbG Bln – vorgesehene Ausschlussfrist für den Anspruch des Nachbarn auf die Beseitigung des Baumes abgelaufen ist (..).

a.A.: BeckOGK/Vollkommer, BGB [15.2.2021], § 910 Rn 17; RGRK/ Augustin, BGB, 12. Aufl., § 910 Rn 11; Dehner, Nachbarrecht [September 2013], B § 21 I 2, S. 6 f

[22] Nach anderer Ansicht kann der beeinträchtigte Nachbar das Selbsthilferecht – vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Verbote – auch dann ausüben, wenn die Beseitigung des Überhangs mit dem Risiko verbunden ist, dass der Baum abstirbt oder seine Standfestigkeit verliert (…)

[23] Der Senat hält die letztgenannte Ansicht für richtig. Das Selbsthilferecht nach § 910 Abs. 1 BGB ist – vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen eines Rückschnitts – nicht deshalb ausgeschlossen, weil durch die Beseitigung des Überhangs das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.

Ansicht des V. Zivilsenats des BGH:

Der Senat verwies die Entscheidung zurück zum OLG. Dies möge naturschutzrechtliche Beschränkungen prüfen. Gleichwohl legt der Senat seine Meinung dar, damit Instanzgerichte künftig eine Leitlinie haben.

[24] Das Selbsthilferecht aus § 910 Abs. 1 BGB besteht im Ausgangspunkt ohne Einschränkungen, wenn seine tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen. Beschränkt ist es allein dadurch, dass dem Eigentümer das Recht nach Abs. 2 nicht zusteht, wenn die Wurzeln oder Zweige die Benutzung seines Grundstücks nicht beeinträchtigen. Eine Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung, mit der der Ausschluss des Selbsthilferechts teilweise begründet wird (oben Rn. 19), ist gesetzlich nicht vorgesehen und widerspräche den Vorstellungen des Gesetzgebers. Dieser hat sich bewusst für eine einfache und allgemein verständliche Ausgestaltung des Selbsthilferechts entschieden, die eine rasche Erledigung etwaiger Zwistigkeiten zwischen den Nachbarn ermöglicht (…). Diesem Ziel liefe es zuwider, wenn der durch den Überhang beeinträchtigte Nachbar von dem Selbsthilferecht nur unter der Voraussetzung Gebrauch machen dürfte, dass das Abschneiden der Wurzeln oder Zweige die Standfestigkeit des Baumes nicht gefährdet noch aus sonstigen Gründen zum Absterben des Baumes führen kann, was sich in vielen Fällen nicht ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen oder zumindest sachkundigen Dritten beurteilen lassen wird. Denn das Selbsthilferecht soll einfach handhabbar und seine Ausübung nicht mit Haftungsrisiken belastet sein.

Wörtliche Auslegung des § 910 BGB: Das Gesetz sieht keine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor.

Auslegung nach Sinn und Zweck: Ohne Sachverständigen ließe sich die Entscheidung mangels eigener Sachkunde des Grundstückseigentümers nicht treffen. Das Selbsthilferecht soll einfach handhabbar sein.

[25] Zudem weist § 910 BGB die Verantwortung dafür, dass Baumwurzeln oder Zweige nicht über die Grenzen des Grundstücks hinauswachsen, dem Eigentümer des Grundstücks zu, auf dem der Baum steht; er ist hierzu im Rahmen der ordnungsgemäßen Bewirtschaftung seines Grundstücks gehalten (…). Kommt er dieser Verpflichtung nicht nach und lässt er die Zweige des Baumes über die Grundstücksgrenze wachsen, dann kann er später nicht unter Verweis darauf, dass der Baum (nunmehr) droht, durch das Abschneiden der Zweige an der Grundstücksgrenze seine Standfestigkeit zu verlieren oder abzusterben, von seinem Nachbarn verlangen, das Abschneiden zu unterlassen und die Beeinträchtigung des Grundstücks hinzunehmen.

[26] Eine Einschränkung des Selbsthilferechts in diesen Fällen lässt sich auch nicht damit begründen, dass anderenfalls eine bereits abgelaufene Ausschlussfrist für einen etwaigen landesrechtlichen Anspruch auf Beseitigung des Baumes umgangen werden könnte. Derartige Vorschriften in den Nachbargesetzen der Länder regeln nicht ein Selbsthilferecht des beeinträchtigten Nachbarn in Bezug auf überhängende Zweige oder eingedrungene Wurzeln, und sie könnten das im Bürgerlichen Gesetzbuch in § 910 gewährte Selbsthilferecht zudem mangels Gesetzgebungskompetenz des Landes nicht einschränken (…).

Argument: Die Verantwortung, die Störung abzuwenden, hat der Eigentümer des Grundstücks, auf dem der Baum steht.

Siehe hierzu die ausführliche Begründung am Beispiel des Berliner Nachbargesetzes weiter unten.

Folglich ist das Selbsthilferecht des B nicht gem. § 910 II BGB ausgeschlossen.

  1. Ausschluss des Selbsthilferechts gem. §§ 31, 32 NachbG Bln

Fraglich ist, ob das Selbsthilferecht des B aus § 910 I BGB wegen Fristablauf gem. §§ 31, 32 NachbG Bln ausgeschlossen ist.

[9] Das Selbsthilferecht ist, anders als die Revisionserwiderung meint, nicht wegen des Ablaufs der in § 32 NachbG Bln bestimmten Ausschlussfrist ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch gemäß § 31 NachbG Bln auf Beseitigung von Anpflanzungen, die – wie hier – die vorgeschriebenen Mindestabstände zum Nachbargrundstück (vgl. § 27 NachbG BIn) nicht einhalten, ausgeschlossen, wenn der Nachbar nicht bis zum Ablauf des fünften auf das Anpflanzen folgenden Kalenderjahres Klage auf Beseitigung erhoben hat. Eine solche landesgesetzliche Ausschlussfrist kann, wie Art. 124 EGBGB zeigt, zwar das Grundstückseigentum (hier der Kläger) zu Gunsten des Nachbarn weitergehenden Beschränkungen unterwerfen, nicht aber umgekehrt dem Nachbarn (hier dem Beklagten) Rechte nehmen, die sich für ihn aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch ergeben (…). Schon deshalb kann das Recht des Beklagten aus § 910 BGB nicht durch das Landesnachbarrecht eingeschränkt sein. Hinzu kommt, dass sich das Selbsthilferecht des § 910 BGB in seinen Voraussetzungen und Rechtsfolgen grundlegend von dem in § 31 NachbG Bln geregelten Anspruch auf Beseitigung einer Anpflanzung unterscheidet. Zum einen setzt es einen Überhang, also ein Herüberwachsen der Zweige bzw. Äste des Baumes, und eine daraus folgende Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks voraus, während der Beseitigungsanspruch aus § 31 NachbG Bln nur voraussetzt, dass der vorgeschriebene Mindestabstand zur Grundstücksgrenze nicht eingehalten ist. Zum anderen erschöpft sich die Rechtsfolge des § 910 BGB darin, dem Nachbarn zu gestatten, die überhängenden Zweige abzuschneiden. Die Beseitigung des Baumes ist nicht Inhalt des Selbsthilferechts, auch wenn das Abschneiden der Zweige im Einzelfall mittelbar zum Absterben des Baumes führen kann.

Das Bundesland Berlin kann die Rechte des B, welche ihm das BGB gewährt, durch § 32 NachbarG Bln gar nicht einschränken.

Grundsätzlich: Urteil vom 12.12.2003, V ZR 98/03

Damit steht fest, dass die K wegen des Selbsthilferechts aus § 910 BGB zur Duldung verpflichtet sind. Folglich haben die K gegen B keinen Anspruch auf Unterlassung aus § 1004 I 2 BGB.

Aus demselben Grund würde auch der Anspruch aus §§ 823 II, 1004 BGB scheitern, auf dessen Darstellung hier aus Platzgründen verzichtet wird.

B. Ergebnis

Die K können von B nicht das Unterlassen des Abschneidens der auf sein Grundstück herüberhängenden Schwarzkiefernzweige verlangen.

FAZIT

Das Selbsthilferecht des § 910 I BGB schließt den Anspruch aus § 1004 I 2 BGB auf Unterlassung des Beschneidens von Bäumen aus. Es ist nach § 910 II BGB nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil das Absterben des Baumes droht.

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