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Fall des Monats Mai 2023: Sittenwidrigkeit einer Schenkung

By 15. Mai 2023Oktober 10th, 2023No Comments
Fall des Monats

Problem: Sittenwidrigkeit einer Schenkung

Einordnung: BGB AT

BGH, Urteil vom 15.11.2022 X ZR 40/20

EINLEITUNG

Der vorliegende Fall trainiert den Umgang mit § 138 I BGB.

SACHVERHALT

Der im Jahr 1922 geborene K schenkte den beiden B., seinen Enkeln, mit notariell beurkundetem Vertrag vom 13.06.2017 Wertpapiere im Wert von jeweils 219.000 €. Zu einer Übertragung der Wertpapiere kam es nicht. Vielmehr sträubte sich K, als er kurz nach der Schenkung gegenüber der Bank seine Zustimmung zur Übertragung geben sollte. Ebenfalls am 13.06.2017 übertrug K seinem Sohn, dem Vater der B., das Eigentum an einem Mehrfamilienhaus. K trägt wahrheitsgemäß vor, er sei vom Vater der B. zwei Jahre lang überwacht und unter Druck gesetzt worden, die Wertpapiere zu übertragen. K begehrt die Feststellung, dass der Schenkungsvertrag nichtig ist. Zu Recht?

LEITSATZ

Ist der Schenker aufgrund einer objektiven oder subjektiven Zwangslage zur Schenkung veranlasst worden, kann der Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht nur solche Personen treffen, die diese Zwangslage herbeigeführt haben. Vielmehr kann es ausreichen, wenn der Zuwendungsempfänger sich eine bestehende Zwangslage bewusst zu Nutze macht.

K hatte zudem die Anfechtung erklärt. Weil ein Anfechtungsgrund nicht ersichtlich ist, haben wir aus Platzgründen die Anfechtungserklärung nicht aufgenommen und die Anfechtungsgründe nicht erläutert.

A. Nichtigkeit des Schenkungsvertrages

Der Abschluss des Schenkungsvertrages erfolgte gem. §§ 311, 241 I BGB i. V. m. §§ 518 I BGB am 13.06.2017 in notariell beurkundeter Form. Fraglich ist allein, ob der Schenkungsvertrag nichtig ist. Dies könnte gem. § 138 I BGB wegen Sittenwidrigkeit der Fall sein. Ein Rechtsgeschäft ist sittenwidrig im Sinne von § 138 I BGB, wenn es nach seinem Inhalt oder Gesamtcharakter gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt.

Definition Sittenwidrigkeit i.S.d. § 138 I BGB

[18] Verstößt das Rechtsgeschäft nicht bereits seinem Inhalt nach gegen die grundlegenden Wertungen der Rechts- oder Sittenordnung, muss ein persönliches Verhalten des Handelnden hinzukommen, das diesem zum Vorwurf gemacht werden kann (…). Hierbei ist der aus der Zusammenfassung von Inhalt, Zweck und Beweggrund zu entnehmende Gesamtcharakter des Verhaltens maßgeblich (…). Je nach Einzelfall kann sich die Sittenwidrigkeit bereits aus einem dieser Elemente oder aus einer Kombination mehrerer Elemente und deren Summenwirkung ergeben (…).

Persönliches Verhalten als Anknüpfungspunkt für die Sittenwidrigkeit

[19] Die Sittenwidrigkeit eines unentgeltlichen Geschäfts gemäß § 138 Abs. 1 BGB kann sich nicht nur aus Motiven des Zuwendenden ergeben, sondern auch und sogar in erster Linie aus den Motiven des Zuwendungsempfängers. So kann es sich um einen Fall handeln, in dem aus fremder Bedrängnis in sittenwidriger Weise Vorteile gezogen werden. Hierfür kann von Bedeutung sein, ob der Schenker sich den Wünschen des Beschenkten aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur nicht oder kaum hätte entziehen können, ob der Beschenkte dies wusste oder sich einer derartigen Erkenntnis leichtfertig verschloss und ob er die fehlende oder geschwächte Widerstandskraft des Schenkers eigensüchtig ausgenutzt oder es sogar darauf angelegt hat (…). In diesem Zusammenhang können die in § 138 Abs. 2 BGB besonders hervorgehobenen Gesichtspunkte insbesondere im Hinblick auf das Verhalten des Zuwendungsempfängers auch im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB von Bedeutung sein (…). Es handelt sich um einen Nichtigkeitsgrund, der gegebenenfalls auch die (bloße) Anfechtbarkeit nach § 123 Abs. 1 BGB überlagert, weil nicht die Drohung mit einem künftigen Übel, sondern die Ausnutzung der vorhandenen Zwangslage im Vordergrund steht oder hinzutritt (…).

Besonderheiten bei unentgeltlichen Geschäften

Motive des Empfängers

Wie soll sich ein beinahe Hundertjähriger wehren?

Anknüpfungspunkte für das persönliche Verhalten des Handelnden bietet § 138 II BGB. Gem. § 138 I BGB kann ein wucherähnliches Geschäft sittenwidrig sein.

Anders als bei § 123 I 2. Fall BGB genügt hier schon das Ausnutzen einer vorhandenen Zwangslage.

[20] Ist der Schenker aufgrund einer objektiven oder subjektiven Zwangslage zur Schenkung veranlasst worden, kann der Vorwurf der Sittenwidrigkeit nicht nur solche Personen treffen, die diese Zwangslage herbeigeführt haben. Vielmehr kann es ausreichen, wenn der Zuwendungsempfänger sich eine bestehende Zwangslage bewusst zu Nutze macht. Diese Voraussetzungen können auch dann gegeben sein, wenn der Zuwendungsempfänger den Schenkungsvertrag abschließt, obwohl er weiß, dass der Schenker aufgrund einer solchen Zwangslage handelt.

Sollten die beschenkten Enkel noch minderjährig gewesen sein, würde ihnen das Wissen des gesetzlichen Vertreters, hier des Vaters, der den Opa „überwacht“ und gedrängt hat, gem. § 166 I BGB zugerechnet.

[22] Im Ansatz zutreffend hat das Berufungsgericht den Vortrag, die Beklagte zu 1 und deren Vater hätten den Kläger vor der Beurkundung des Schenkungsvertrags mehrere Monate lang intensiv überwacht und weitgehend isoliert, für sich gesehen als nicht ausreichend angesehen.

[23] Das Berufungsgericht hätte in diesem Zusammenhang jedoch zusätzlich den Vortrag berücksichtigen müssen, der Vater der Beklagten habe den Kläger am Abend vor der Beurkundung des Schenkungsvertrags über längere Zeit hinweg „bearbeitet“ und am nächsten Morgen in Begleitung der Beklagten zum Notar gefahren, wo ihm erstmals der Inhalt der abzuschließenden Verträge mitgeteilt worden sei.

Sehr plastische Darstellung der Ereignisse

[24] Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist dieser Vortrag nicht ohne weiteres als inhaltsleer zu bewerten. Er lässt es vielmehr als möglich erscheinen, dass der Kläger den Schenkungsvertrag zugunsten der Beklagten abgeschlossen hat, um der zuvor bestehenden, von ihm als Überwachung und Isolation empfundenen Situation, die aufgrund vermeintlichen Entscheidungszwangs in dem zuvor nicht angekündigten Notartermin eine akute Zuspitzung gefunden hatte, zu entkommen.

Die „Überwachung“ allein genügt nicht, um den Vorwurf der Sittenwidrigkeit zu stützen.

Wie kann sich ein beinahe Hundertjähriger auch wehren, wenn er unangekündigt zum Notar gefahren wird?

[25] In diesem Zusammenhang kann ferner das vom Kläger behauptete Geschehen unmittelbar nach der notariellen Beurkundung als Indiz von Bedeutung sein.

[27] Dem Vortrag des Klägers, er habe sich unmittelbar nach dem Notartermin gegenüber dem Mitarbeiter der die Wertpapiere verwahrenden Bank in einer Weise verhalten, dass dieser den seitens der Beklagten angestrebten Vollzug der Übertragung verhindert habe, kann eine solche Indizwirkung zukommen. Das vorgetragene Verhalten könnte darauf hindeuten, dass der Kläger den Schenkungsvertrag nur deshalb abgeschlossen hat, weil er die Situation im Notartermin als besonders bedrängend empfunden und anders als im nachfolgenden Banktermin keinen Ausweg mehr gesehen hat, um sich dieser subjektiven Zwangslage entziehen zu können.

Das Berufungsgericht hatte diesen Aspekt nicht gewürdigt. Der BGH lässt durchblicken, hier die Sittenwidrigkeit zu bejahen, wenn die Darstellung des K zutrifft.

B. Ergebnis

Aufgrund dieser im Zeitablauf nachfolgenden Umstände liegen ausreichende Indizien vor, um hier festzustellen, dass der Schenkungsvertrag gem. § 138 I BGB als nichtig zu beurteilen ist.

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Beitragsautor:

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