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Fall des Monats Juni 2023: Angriff auf die Entschlussfreiheit bei § 316a StGB

By 15. Juni 2023Oktober 10th, 2023No Comments
Fall des Monats

Problem: Angriff auf die Entschlussfreiheit bei § 316a StGB

Einordnung: Strafrecht BT III / Straßenverkehrsdelikte

BGH, Beschluss vom 07.07.2022 4 StR 508/21

EINLEITUNG

Der BGH befasst sich in der vorliegenden Entscheidung mit der Frage, ob ein Angriff auf die Entschlussfreiheit des Opfers i.S.v. § 316a I StGB auch durch ein listiges Verhalten (hier: das Auffahren auf das Auto des Opfers, um den Anschein eines zufälligen Unfalls zu erzeugen) bewirkt werden kann.

SACHVERHALT

Die Angeklagten A und B fuhren – A als Fahrer und B als Beifahrerin eines Pkw – auf den von der Nebenklägerin S gesteuerten Pkw auf, um sie gemäß ihrem gemeinsamen Tatplan zum Anhalten ihres Fahrzeugs zu veranlassen und anschließend zu berauben. S erkannte die deliktische Absicht nicht, sondern hielt die Kollision für einen zufällig geschehenen Unfall und sich infolgedessen für verpflichtet anzuhalten. Nachdem sie deshalb aus ihrem Fahrzeug ausgestiegen war, schüchterten A und B sie durch Zeigen einer mitgeführten Waffe ein und nahmen ihr unter anderem ihr Mobiltelefon und ihr Fahrzeug ab.

Haben A und B sich wegen mittäterschaftlichen räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer, §§ 316a I, 25 II StGB, strafbar gemacht?

[Anm.: Es ist davon auszugehen, dass das Verhalten von A und B nach dem Anhalten der S einen Raub gem. § 249 I StGB darstellt.]

LEITSÄTZE DER REDAKTION

  1. Voraussetzung für einen Angriff auf die Entschlussfreiheit i.S.v. § 316a I StGB ist, dass der Täter in feindseliger Absicht auf dieses Rechtsgut einwirkt, wobei eine gegen die Entschlussfreiheit gerichtete Handlung ausreichend, aber auch erforderlich ist, sofern das Opfer jedenfalls deren objektiven Nötigungscharakter wahrnimmt; die feindliche Willensrichtung des Täters braucht das Opfer dagegen nicht erkannt zu haben.
  2. 316a I StGB setzt nicht voraus, dass der verübte Angriff sich bereits unmittelbar gegen das Eigentum bzw. Vermögen des Opfers richtet.
  3. Maßgeblich für den Angriff auf die Entschlussfreiheit ist nicht der Einsatz von Nötigungsmitteln durch den Täter, sondern allein die bei dem Tatopfer erzielte Nötigungswirkung.

PRÜFUNGSSCHEMA:
RÄUBERISCHER ANGRIFF AUF KRAFTFAHRER, § 316A I StGB

A. Tatbestand

I. Verüben eines Angriffs auf Leib, Leben oder Entschlussfreiheit des Opfers

II. Opfer ist Führer eines Kraftfahrzeugs oder Mitfahrer

III. Ausnutzen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs

IV. Vorsatz bzgl. I. – III.

V. Absicht zur Begehung einer Tat gem. §§ 249; 252; 255 StGB

B. Rechtswidrigkeit und Schuld

LÖSUNG

Dadurch, dass A und B auf den Pkw der S auffuhren, könnten sie sich wegen mittäterschaftlichen räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer gem. §§ 316a I, 25 II StGB strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand

1. Verüben eines Angriffs auf Leib, Leben oder Entschlussfreiheit des Opfers Durch das Auffahren auf den Pkw der S könnten A und B einen Angriff auf die Entschlussfreiheit der S verübt haben.

Angriff i.S.v. § 316a I StGB ist jede feindselige Handlung, die auf Verletzung eines der genannten Rechtsgüter, also körperliche Unversehrtheit, Leben oder Entschlussfreiheit, gerichtet ist.

Verübt wird ein Angriff, wenn er tatsächlich ausgeführt wird, d.h. wenn der Täter tatsächlich auf eines der genannten Rechtsgüter einwirkt.

„[8] b) [Bei § 316a I StGB] handelt tatbestandsmäßig, wer zur Begehung eines Raubes (oder der weiteren genannten Vermögensdelikte) einen Angriff auf Leib oder Leben oder die Entschlussfreiheit des Führers eines Kraftfahrzeugs oder eines Mitfahrers verübt und dabei die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs ausnutzt.

[9] Voraussetzung der hier allein in Betracht kommenden Tatbestandsvariante eines Angriffs auf die Entschlussfreiheit ist, dass der Täter in feindseliger Absicht auf dieses Rechtsgut einwirkt. Ausreichend, aber auch erforderlich ist eine gegen die Entschlussfreiheit gerichtete Handlung, sofern das Opfer jedenfalls deren objektiven Nötigungscharakter wahrnimmt; die feindliche Willensrichtung des Täters braucht das Opfer dagegen nicht erkannt zu haben. Ebenfalls nicht vorausgesetzt ist, dass der verübte Angriff sich bereits unmittelbar gegen das Eigentum bzw. Vermögen des Opfers richtet.

BGH, Urteil vom 23.04.2015, 4 StR 607/14, NStZ 2015, 653

[10] Hiernach hat das Landgericht zutreffend angenommen, dass die Angeklagten einen Angriff auf die Entschlussfreiheit der Nebenklägerin verübt haben. Nach den Feststellungen hielt diese nach der Kollision ein Anhalten für‚erforderlich‘ und stieg aus ihrem Fahrzeug aus, was die Angeklagten sodann, wie von vornherein beabsichtigt, für ihre Raubtat ausnutzten. Die Tathandlung erschöpfte sich damit – obschon ihr auch ein täuschendes Element innewohnte – nicht in einer List, welche für sich genommen für einen Angriff auf die Entschlussfreiheit nicht genügen würde, sondern entfaltete eine nötigungsgleiche Wirkung. Aus der maßgeblichen Sicht der Nebenklägerin stellte der durch die Angeklagten bewirkte Verkehrsunfall nicht bloß ein ihre – weiterhin als frei empfundene – Willensbildung beeinflussendes Motiv dar. Vielmehr sah sie sich infolge des Unfalls einem Zwang, nämlich der sanktionsbewehrten Rechtspflicht unterworfen, am Unfallort zu bleiben und Feststellungen zu ihrer Person zu ermöglichen (§ 34 Abs. 1 Nr. 1 StVO, § 142 StGB). Die deliktische Absicht der Angeklagten, aus der sich objektiv ein Rechtfertigungsgrund für die Nichtbefolgung der entstandenen Haltepflicht (§ 34 StGB) ergeben konnte, war ihr nicht bekannt. Es entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Senats, eine solche nötigungsgleiche Wirkung, auch wenn sie – wie hier – durch eine Unkenntnis von Sachverhaltselementen mitbedingt ist, als für einen Angriff auf die Entschlussfreiheit des geschädigten Kraftfahrers ausreichend anzusehen.

BGH, Urteil vom 23.04.2015, 4 StR 607/14, NStZ 2015, 653

[11] Dem steht im vorliegenden Fall auch nicht entgegen, dass die empfundene Zwangswirkung nicht unmittelbar von einem durch die Angeklagten eingesetzten Nötigungsmittel, nämlich der in dem Auffahren liegenden Gewalt, ausging, sondern auf der hierdurch (vermeintlich) entstandenen Rechtspflicht beruhte, die Nebenklägerin sich also nicht dem Willen der Angeklagten, sondern einer gesetzlichen Verpflichtung unterworfen sah. Dieser Unterschied ist rechtlich ohne Bedeutung. Nach der Rechtsprechung des Senats, von der abzuweichen kein Anlass besteht, ist – wie durch den Begriff ‚nötigungsgleiche Wirkung‘ zum Ausdruck gebracht worden ist – für die Tatbestandsvariante des Angriffs auf die Entschlussfreiheit maßgeblich nicht der Einsatz von Nötigungsmitteln durch den Täter, sondern allein die bei dem Tatopfer erzielte Nötigungswirkung. Dementsprechend hat der Senat bereits in seiner eine vorgetäuschte Polizeikontrolle betreffenden Entscheidung nicht darauf abgestellt, dass dort mit dem Herauswinken des Tatopfers eine konkludente Drohung der Angeklagten verbunden gewesen sei, bei Nichtbefolgung Zwangsmittel anzuwenden, sondern vielmehr den Nötigungscharakter der Rechtspflicht, Weisungen von Polizeibeamten Folge zu leisten, als solchen für maßgeblich erachtet. Weder der Wortlaut noch der Schutzzweck des § 316a StGB legen eine Restriktion des Tatbestandes auf solche Fallkonstellationen nahe, in denen sich das Opfer den Nötigungsmitteln des Täters beugt, die Zwangswirkung also nach seiner Vorstellung gerade von dem Täter ausgeht. Insbesondere wird die erforderliche Beschränkung auf Fälle einer verkehrsspezifischen Gefahrenlage nicht allein durch die Auslegung des tatbestandsmäßigen Angriffs auf die Entschlussfreiheit, sondern daneben auch durch die weiteren Tatbestandsmerkmale des § 316a StGB gewährleistet.“

BGH, Beschluss vom 23.07.2014, 2 StR 105/14

A.A.: Dutge/Nolden, JuS 2005, 193

BGH, Urteil vom 20.11.2003, 4 StR 150/03, NJW 2004, 786

A und B haben also einen Angriff auf die Entschlussfreiheit der S verübt.

2. Opfer ist Führer eines Kraftfahrzeugs oder Mitfahrer

„[12] […] war die Nebenklägerin im maßgeblichen Zeitpunkt des Angriffs Führerin ihres Pkw und somit taugliches Angriffsziel im Sinne des § 316a StGB.“

Führer eines Kraftfahrzeugs ist, wer im Augenblick des Angriffs mit dem Inbewegungsetzen oder –halten des Kraftfahrzeugs oder allgemein mit dem Betrieb des Fahrzeugs oder mit der Bewältigung von Verkehrsvorgängen beschäftigt ist.

3. Ausnutzen der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs

„[12] […] Die Angeklagten nutzten auch die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs aus, indem sie sich – bewusst – zunutze machten, dass der Nebenklägerin, die nach den Feststellungen ihr Fahrzeug unmittelbar vor der Kollision zum Abbiegen verlangsamt hatte, die Gegenwehr gegen den Angriff infolge der Beanspruchung durch das Lenken des Fahrzeugs wegen der damit verbundenen Konzentration auf die Verkehrslage und die Fahrzeugbedienung erschwert war.“

Der Täter nutzt die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs aus, wenn er sich eine Gefahrenlage zunutze macht, die dem fließenden Straßenverkehr eigentümlich ist. Dies ist der Fall, wenn das Opfer im Zeitpunkt des Angriffs mit Betriebs- oder Verkehrsvorgängen beschäftigt ist, die seine Aufmerksamkeit beanspruchen, sodass es deshalb leichter zum Opfer eines Überfalls werden kann.

Der BGH führt hier seine Rechtsprechung aus einer früheren Entscheidung fort, in der er § 316a I StGB in einem Sachverhalt bejaht hatte, in dem die Angeklagten eine Polizeikontrolle vorgetäuscht hatten, um einen Lkw zum Halten zu bringen und diesen zu rauben (BGH, Urteil vom 23. April 2015, 4 StR 607/14, RA 2015, 393). Dort hatte der BGH einen Angriff auf die Entschlussfreiheit des Lkw-Fahrers bejaht, obwohl die Angeklagten mit einer Haltekelle gewunken und zunächst kein qualifiziertes Nötigungsmittel eingesetzt hatten. Auch dort hatte der BGH den für einen solchen Angriff erforderlichen psychischen Druck damit begründet, dass der Fahrer geglaubt hatte, er müsse jetzt anhalten, weil er ansonsten zumindest eine Ordnungswidrigkeit begehen würde, hatte also auf die Nötigungswirkung und nicht den Einsatz von Nötigungsmitteln abgestellt.

4. Mittäterschaft, § 25 II StGB

A und B handelten arbeitsteilig auf der Grundlage eines gemeinsamen Tatplans jeweils mit Tatherrschaft und Täterwillen und somit als Mittäter i.S.v. § 25 II StGB.

5. Vorsatz bzgl. 1. bis 4.
A und B handelten mit Vorsatz bzgl. der objektiven Tatumstände.

6. Absicht zur Begehung einer Tat gem. § 249 I; 252; 255 StGB
A und B hatten die Absicht, einen Raub gem. § 249 I StGB zu begehen, was sie ja auch getan haben.

II. Rechtswidrigkeit und Schuld
A und B handelten rechtswidrig und schuldhaft.

III. Ergebnis

A und B sind strafbar gem. §§ 316a I, 25 II StGB.

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