Das Mordmerkmal der Heimtücke bietet eine große Bandbreite an prüfbarem Wissen und ist daher immer wieder in den Examensklausuren zu finden. In diesem Artikel werden drei Urteile besprochen, die sich alle mit Heimtücke-Morden befassen, deren Schwerpunkt aber in immer anderen Details dieser Tatkonstellationen liegt und die in ihrer Gesamtheit aufzeigen, wie restriktiv die Rechtsprechung bei der Bejahung dieses Mordmerkmals ist.
Sachverhaltsanalyse, Erkennbarkeit der Arg- und Wehrlosigkeit und Rechtsfolgenlösung bei der Heimtücke
Das erste hier besprochene Urteil zeigt auf, dass eine sehr genaue Analyse der Tatumstände nötig ist: nicht nur muss das Opfer arg- und wehrlos sein, der Täter muss diese Arg- und Wehrlosigkeit zudem kennen und gezielt nutzen. Das zweite Urteil befasst sich mit der Frage, ob ein Opfer, welches den bevorstehenden Angriff an sich zwar erkennt, ihn aber in seiner Tragweite unterschätzt, arglos ist. Zuletzt geht es um die Rechtsfolgenlösung – eine vom BGH im Jahre 1981 entwickelte Möglichkeit, das Strafmaß zu kürzen, obwohl das Gesetz hierzu eigentlich keine Möglichkeit vorsieht.
JurCase informiert:
Def. 1: Heimtücke
Heimtückisch handelt, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt.
Def. 2: Arg- und Wehrlosigkeit
Arglos ist, wer mit einem schweren Angriff nicht rechnet und sich daher in Sicherheit wiegt. Wehrlos ist, wer aufgrund seiner Arglosigkeit, in seiner natürlichen Abwehrfähigkeit gegenüber dem konkreten Angriff zumindest stark eingeschränkt ist. (BGH, Beschluss vom 05.04.2022 – 1 StR 81/22, Rn. 5)
BGH, Beschluss vom 05.04.2022 – 1 StR 81/22
Im April dieses Jahres beschäftigte sich das Gericht mit folgendem Fall: Ein Ehemann liest die Chat-Nachrichten seiner Frau an ihren Liebhaber. Wütend geht er zu ihr in das anliegende Zimmer. Die Ehefrau fordert ihn auf zu verschwinden und äußert sinngemäß, dass für sie endlich alles in Ordnung wäre, wenn sie ihn jetzt umbringen würde. Sie steht vom Sofa auf, der Ehemann greift nach einem Küchenmesser, hält den linken Arm vor sich, um eventuelle Verteidigungsmaßnahmen seiner Frau direkt zu unterbinden und sticht mit dem Messer in der rechten Hand zu.
Das Landgericht war in erster Instanz von einem heimtückischen Mord ausgegangen: Die Ehefrau sei arg- und wehrlos auf dem Sofa gesessen und habe mit keinem Angriff gerechnet.
Eine genaue Sachverhaltsanalyse des BGH zeigt jedoch folgendes: Das Landgericht konnte ohne weitere Nachforschung nicht davon ausgehen, dass die Ehefrau tatsächlich arglos war. Ihre Äußerung lässt sich so deuten, dass ihr durchaus bewusst war, dass es zu einer schweren Auseinandersetzung kommen könnte. Zudem könnte sie auch aufgestanden sein, um selbst anzugreifen oder um sich besser verteidigen zu können. Diese Möglichkeiten hatte das Landgericht nicht in Betracht gezogen.
Jedoch wäre auch dann nicht von einem heimtückischen Mord auszugehen, wenn die Äußerung der Frau und das Aufstehen vom Sofa ohne weitere Bedeutung gewesen wären. Dass der Mann seinen linken Arm vor sich hielt, lässt sich nur so interpretieren, dass er mit Abwehrbewegungen oder sogar einem Gegenangriff gerechnet hat. Wenn er aber nicht von einer Wehrlosigkeit seiner Frau ausging, konnte er auch keinen Vorsatz darauf haben, eben diese Wehrlosigkeit auszunutzen. Diesen Widerspruch hatte das Landgericht nicht erkannt, das erstinstanzliche Urteil war daher rechtsfehlerhaft.
Für die Klausur bedeutet das: ohne den Sachverhalt allzu sehr zu „quetschen“, muss er lebensnah ausgelegt werden. Unnötige Details gibt es in Sachverhalten sehr selten, meistens wollen die Klausurersteller:innen einen in eine bestimmte Richtung lenken. Manchmal kann es auch helfen, sich den Tathergang bildlich vorzustellen oder kurz zu skizzieren, besonders wenn es mehr als zwei Tatbeteiligte gibt.
BGH, Beschluss vom 15.02.2022 – 4 StR 491/21: Zum Mordmerkmal der Heimtücke
Der an Wahnvorstellungen leidende A verschafft sich unbefugt Zutritt zur Wohnung seines Bruders, in der sich seine von ihm getrenntlebende Ehefrau mit dem gemeinsamen Sohn und sein Bruder mit dessen Ehefrau befinden. Er fordert seinen Bruder auf, mit ihm nach draußen zu gehen. Die Ehefrau des Bruders geht davon aus, dass der A sich prügeln wolle, und stellt sich zwischen die beiden Männer. Dies versetzt A so in Rage, dass er die im Hosenbund steckende Pistole zieht und seine Schwägerin erschießt.
Das Landgericht hatte hier das Mordmerkmal der Heimtücke bejaht, weil das Tatopfer arg- und folglich wehrlos im Bezug auf einen „Angriff mit einer Schusswaffe“ war. Bei der Subsumtion unter das Mordmerkmal der Heimtücke geht es jedoch nicht darum, ob das Opfer den realen bevorstehenden Angriff erkennt, sondern ob es überhaupt von einem irgendwie gearteten Angriff ausgeht:
„Ohne Bedeutung für die Frage der Arglosigkeit ist dabei, ob das Opfer gerade einen Angriff gegen das Leben erwartet oder es die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite überblickt. Besorgt das Opfer einen gewichtigen Angriff auf seine körperliche Integrität, ist es vielmehr selbst dann nicht arglos, wenn es etwa wegen fehlender Kenntnis von der Bewaffnung des Täters die Gefährlichkeit des erwarteten Angriffs unterschätzt.“
(BGH, Beschluss vom 15.02.2022 – 4 StR 491/21, Rn. 9)
Für das Vorliegen von Arglosigkeit ist es folglich nicht ausreichend, dass das Opfer nicht mit einem so schwerenAngriff gerechnet hat. Maßgeblich ist nur, ob es überhaupt mit irgendeinem tätlichen Angriff gegen sich gerechnet hat. Ein bloßer Wortwechsel oder eine feindselige Atmosphäre schließen das Tatbestandsmerkmal der Heimtücke nicht aus, wenn das Opfer davon ausgeht, dass der Streit verbal bleibt. Rechnet das Opfer jedoch mit einem tätlichen Angriff, wird die Handlung des Täters nicht dadurch heimtückisch, dass das Opfer zwar den Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit, nicht jedoch auf sein Leben erkennt. (Professor Dr. Wilfried Küper: JuS 2000, 740, I.2a)
Der Grund dafür, dass die Heimtücke als Mordmerkmal gewertet wird, liegt in ihrer Gefährlichkeit für das Opfer. Bereits 1957 führte der BGH hierzu aus:
„Er überrascht das Opfer in einer hilflosen Lage und hindert es dadurch, sich zu verteidigen, zu fliehen, Hilfe herbeizurufen, den Angreifer umzustimmen, in sonstiger Weise dem Anschlage auf sein Leben zu begegnen oder die Durchführung wenigstens durch solche Bemühungen zu erschweren. (…) Wer solche Möglichkeiten ausschaltet, kann fremdes Leben leichter und sicherer als sonst vernichten. Diese besonders gefährliche und erfahrungsgemäß häufige Art der Tötung will das Gesetz möglichst nachdrücklich bekämpfen. Deshalb ahndet es sie als Mord. Es denkt dabei weniger an den Täter als an das hinterrücks überfallene Opfer. Die Auslegung des Merkmals „heimtückisch” hat daher an das anzuknüpfen, was diese Form des Tötens besonders gefährlich macht. Das ist die Arg- und Wehrlosigkeit des Angegriffenen.“
(BGH (Gr. Sen.), Beschluss vom 2. 12. 1957 – GSSt 3/57)
Weil die Schwägerin die tätliche Aggressivität des A erkannt hatte und somit nicht arglos war, wurde das Urteil des Landgerichts aufgehoben.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang noch, dass eine Arglosigkeit nach einer tätlichen Auseinandersetzung erneut eintreten kann. Betrachtet das Opfer den Angriff als beendet und versieht sich keiner weiteren tätlichen Auseinandersetzung, ist die Arglosigkeit zu bejahen.
Für Klausuren ist diese Konstellation spannend, weil sie sich mit Aspekten der Notwehr oder den unterschiedlichen Arten von Körperverletzungen kombinieren lässt. Da es hier auf die genaue Auslegung eines Definitionsmerkmals ankommt, ist es wichtig, sauber zu gliedern, keine Gliederungsebene auszulassen und nach dem Schwerpunkt auch alle Ebenen wieder „abzuschließen“ (aka „Wer A sagt, muss auch B sagen“).
BGH, Urteil vom 19.08.2020 – 5 StR 219/20: Zur Rechtsfolgenlösung bei der Heimtücke
Die Rechtsfolgenlösung wurde vom Großen Senat für Strafsachen des BGH entwickelt: In Heimtückefällen tritt bei außergewöhnlichen Umständen auf Rechtsfolgenseite des Mordes an die Stelle lebenslanger Freiheitsstrafe der Strafrahmen des § 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Hiermit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass das Ausmaß der Täterschuld aufgrund dieser Umstände erheblich gemindert ist. (BGH, 19.05.1981 – GSSt 1/81)
Im damals vorliegenden Fall hatte der Onkel des Angeklagten zunächst dessen Ehefrau vergewaltigt. Diese war durch die Tat so traumatisiert, dass sie sich vom Angeklagten aufgrund der Verwandtschaft zum Täter scheiden lassen wollte. Der Onkel rühmte sich vor dem Angeklagten mit seiner Tat und bedrohte diesen massiv verbal, woraufhin dieser ihn wenig später in dessen Stammkneipe aufsuchte und erschoss. Der BGH verurteilte den Angeklagten entgegen dem Wortlaut des § 211 Abs. I StGB nicht zu lebenslanger Freiheitsstrafe und begründete dies wie folgt:
„Die absolute Strafdrohung für Mord (§ 211 Abs. 1 StGB) schließt Zumessungserwägungen aus. Die verfassungskonforme Rechtsanwendung gebietet ihre Ersetzung durch einen für solche Erwägungen offenen Strafrahmen, wenn die Tatmodalität der heimtückischen Begehungsweise mit Entlastungsmomenten zusammentrifft, die zwar nicht nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung zu einer milderen Strafdrohung führen, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe aber als mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar erscheint.“
(BGH, 19.05.1981 – GSSt 1/81)
In einem aktuelleren Fall aus dem Jahr 2020 wurde die Rechtsfolgenlösung vom Landgericht angewandt, in zweiter Instanz jedoch vom BGH verworfen.
Der Angeklagte, bereits mehrfach wegen unter anderem Betäubungsmitteldelikten, Raub, räuberischer Erpressung und Verstoß gegen das Waffengesetz vorbestraft, vermittelte seinem Bekannten einen Drogendeal in Höhe von etwa 12.000 Euro. Da die gekauften Drogen von minderwertiger Qualität waren, forderte der Bekannte vom Angeklagten die Kaufsumme und drohte bei Nichtzahlung „ihm bekannte Moldawier einzuschalten und ihn abknallen zu lassen“. Wegen der immer größer werdenden Drohkulisse nahm der Angeklagte schließlich zu einem Treffen mit dem Bekannten und zwei weiteren Beteiligten eine Waffe mit und erschoss – eingeschüchtert durch die zahlenmäßig überlegene Gruppe – einen der Beteiligten.
Das Landgericht hatte die Rechtsfolgenlösung angewandt, weil vor dem Hintergrund der vorhergehenden Auseinandersetzungen der Angeklagte verständlicherweise angespannt gewesen sei und die anwesenden Beteiligten ihn durch ihre Körperstatur eingeschüchtert hätten. Zudem sei es verständlich, dass er angesichts seiner eigenen Vorstrafen und Verwicklungen in den Drogenhandel nicht die Polizei einschalten wollte.
Gerade hierin sah der BGH jedoch den Grund, in einer Gesamtwürdigung aller Umstände gerade nicht die Rechtsfolgenlösung anzuwenden. Der Angeklagte war durch eigene kriminelle Verwicklung teilweise mitschuldig an den darauffolgenden Ereignissen. Obwohl er zweifach einschlägig unter Bewährung stand, hatte er strafbare Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge begangen. Die resultierenden Konflikte über die Qualität des Rauschgifts seien typisch für diese Art von Geschäften und somit ein einzuberechnendes Risiko gewesen.
Entgegen der Auffassung des Landgerichtes war es dem Angeklagten auch zuzumuten, staatliche Hilfe anzufordern, auch wenn er sich damit erneuter Strafverfolgung ausgesetzt hätte. Zuletzt sei in die Gesamtwürdigung miteinzubeziehen, dass die Tat auf einem öffentlichen Platz mit einer Vielzahl von Anwesenden begangen wurde und daher geeignet war, das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit ganz besonders gravierend zu stören.
„Die verfassungskonforme Rechtsanwendung gebietet die Ersetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe durch einen für Strafzumessungserwägungen offenen Strafrahmen, wenn die Tatmodalität der heimtückischen Begehungsweise mit Entlastungsmomenten zusammentrifft, die zwar nicht nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung zu einer milderen Strafdrohung führten, auf Grund welcher die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe aber als mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar erscheinen würde.
Allerdings kann nicht jeder Entlastungsfaktor, der nach § 213 StGB zur Annahme eines minder schweren Falles zu führen vermag, genügen. Vielmehr kann das Gewicht des Mordmerkmals der Heimtücke nur durch Entlastungsfaktoren, die den Charakter außergewöhnlicher Umstände haben, so verringert werden, dass jener „Grenzfall“ (BVerfGE 45, 187, 266 f.) eintritt, in welchem die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe trotz der Schwere des tatbestandsmäßigen Unrechts wegen erheblich geminderter Schuld unverhältnismäßig ist.“
(BGH, Urteil vom 19.08.2020 – 5 StR 219/20)
Das Urteil des BGH zeigt auf, dass in eine umfassende Gesamtschau tatsächlich alle der Tat zugrundeliegenden Faktoren verwertet und auch bewertet werden müssen. Die Abweichung von der vom Gesetz vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe muss die Ausnahme bleiben und bleibt nur besonders krassen Einzelfällen vorbehalten.
Zusammenfassung
Die heimtückische Tötung gilt als das schwierigste aller Mordmerkmale. Es ist im Gesetz zwar nicht näher bezeichnet, jedoch hat die Rechtsprechung Definitionen entwickelt, die mittlerweile auch in der Literatur anerkannt sind. Die Mischung aus objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen macht diese Fälle für Klausuren interessant, da an vielen Punkten nicht nur gelerntes Detailwissen, sondern auch systematisches und fallbezogenes Gesamtverständnis abgefragt werden kann.