Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs.1 S.1 GG) vs. strafrechtliche Beleidigung (§ 185 StGB)
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte sich im Dezember 2020 mit einer Verfassungsbeschwerde zu beschäftigen, deren Sachverhalt stark an die berühmten „ACAB“- und „FCK CPS“-Fälle erinnert. Warum das BVerfG allerdings deutlich machte, dass dieser Fall anders liegt und welche Besonderheiten sich in der Beurteilung des „FCK BFE“-Falles ergeben, soll dieser Beitrag beleuchten.
Es ereignete sich folgender Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer gehört der Göttinger „linken Szene“ an. Er hatte in der Vergangenheit bereits verschiedene Auseinandersetzungen mit der dortigen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) der Polizei. Nachdem ein Strafverfahren gegen einen Angehörigen der rechtsextremen Szene geführt wurde, nahm der Beschwerdeführer an einer Demonstration mit dem Motto „Kein Platz für Neonazis in Göttingen“ vor dem Gerichtsgebäude teil. Bei diesem Ereignis trug er einen Pullover mit der Aufschrift „FCK BFE“ gut sichtbar unter seiner geöffneten Jacke, unter dem Pullover trug er außerdem ein T-Shirt mit der identischen Aufschrift, wobei ihm bewusst war, dass Mitglieder der BFE vor Ort anwesend sein würden, um den Einlass in das Gebäude und das Verfahren zu sichern. Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer in der Folge wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe in Höhe von 15 Tagessätzen je 40 Euro. Die anschließende Sprungrevision des Beschwerdeführers zum Oberlandesgericht wurde als unzulässig verworfen. Nunmehr rügte der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde die Verletzung seiner Meinungsfreiheit.
Prozessuale Besonderheiten
Vor den materiellen Aspekten ist das Augenmerk jedoch zunächst auf die prozessualen Besonderheiten der Entscheidung zu legen. Das BVerfG verwarf die Verfassungsbeschwerde wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg. Dies begründete das BVerfG allerdings nicht nur inhaltlich, sondern führte unter anderem auch aus: „Sie genügt hinsichtlich einiger Rügen bereits nicht dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) beziehungsweise den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG sich ergebenden Substantiierungsanforderungen.“
JurCase informiert:
Mit diesen beiden prozessualen Aspekten, nämlich der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und den Substantiierungsanforderungen spricht das BVerfG gleich zwei Besonderheiten an, die es in der Examensklausur im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde unbedingt zu beachten gilt!
Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde:
§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG besagt: „Ist gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden.“ Hierin kommt der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde zum Ausdruck. Dieser umfasst einerseits die Pflicht, zunächst den kompletten Instanzenzug zu durchlaufen, bevor das BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde entscheidet – es ist also eine Rechtswegerschöpfung nötig. Andererseits besagt der Grundsatz der Subsidiarität, dass der Beschwerdeführer schon vor den Fachgerichten eine mögliche Grundrechtsverletzung zu rügen und diese damit frühestmöglich zu verhindern hat. Die Auffassung von dieser zweifachen Ausprägung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde vertritt das BVerfG schon seit langer Zeit, in einer Entscheidung aus dem Jahr 2003 liest sich dies beispielsweise so:
„[Der Grundsatz der Subsidiarität] fordert, dass ein Bf. über das Gebot der Rechtswegerschöpfung hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern […]. Es ist geboten und einem Bf. auch zumutbar, vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde die Statthaftigkeit weiterer einfachrechtlicher Rechtsbehelfe sorgfältig zu prüfen und von ihnen auch Gebrauch zu machen, wenn sie nicht offensichtlich unzulässig sind […].“ (BVerfG, Beschluss vom 25. 3. 2003 – 1 BvR 407/03)
Die Substantiierungsanforderungen der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG:
Eine zweite zu beachtende Besonderheit im Hinblick auf die prozessualen Erfordernisse einer Verfassungsbeschwerde sind die Substantiierungsanforderungen der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG.
§ 23 Abs.1 S.2 BVerfGG bestimmt, dass Anträge beim BVerfG zu begründen und die erforderlichen Beweismittel anzugeben sind. § 92 BVerfGG legt fest, dass in der Begründung der Beschwerde das Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlassung des Organs oder der Behörde, durch die der Beschwerdeführer sich verletzt fühlt, zu bezeichnen sind. Das BVerfG schließt seit jeher Folgendes aus diesen beiden Regelungen:
„Nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG muss sich die Verfassungsbeschwerde mit dem zugrunde liegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint […].“ (BVerfG, Beschluss vom 03.12.2012 – 1 BvR 1747/11)
Nun aber zu der inhaltlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts:
„FCK BFE“ – Meinungsfreiheit oder strafrechtliche Beleidigung?
Letztlich verwarf das BVerfG die Verfassungsbeschwerde als unbegründet. Der Beschwerdeführer sei durch die angegriffenen Entscheidungen der Fachgerichte nicht in seiner Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S.1 GG) verletzt. Zwar stelle die Verurteilung wegen einer Beleidigung iSd. § 185 StGB durch das Zurschaustellen des Pullovers mit dem Schriftzug „FCK BFE“ grundsätzlich einen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar, dieser sei hier jedoch gerechtfertigt.
Bei der Frage, ob der Eingriff in die Meinungsfreiheit gerechtfertigt ist, spielt § 185 StGB eine große Rolle. Wie aus Art. 5 Abs. 2 GG folgt, ist die Meinungsfreiheit nicht vorbehaltlos gewährleistet, sondern unterliegt den Schranken der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und dem Recht der persönlichen Ehre. § 185 StGB stellt ein solches „allgemeines Gesetz“ dar, kann also eine taugliche Schranke sein. Insofern geht es also immer um die Abwägung, ob es sich vorliegend noch um eine zulässige Meinungsäußerung handelt, oder aber bereits eine strafbare Beleidigung vorliegt, der Ehrschutz der betroffenen Personen also Vorrang haben muss. Die Beurteilung der Frage, ab wann eine Meinungsäußerung in eine strafbare Beleidigung umschlägt, hat das BVerfG in seiner „FCK CPS“-Entscheidung anschaulich dargelegt:
„Meinungen sind im Unterschied zu Tatsachenbehauptungen durch die subjektive Einstellung des sich Äußernden zum Gegenstand der Äußerung gekennzeichnet. Sie enthalten sein Urteil über Sachverhalte, Ideen oder Personen […]. Sie genießen den Schutz des Grundrechts, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird […]. Der Aufdruck ‚FCK CPS’ ist nicht von vornherein offensichtlich inhaltlos, sondern bringt eine allgemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck. Es handelt sich um eine Meinungsäußerung iSd Art. 5 I GG. Die an die Äußerung anknüpfende strafrechtliche Verurteilung greift in das Grundrecht ein.“ (BVerfG, Beschluss vom 26.2.2015 – 1 BvR 1036/14) (Hervorhebungen durch die Verfasserin)
Das BVerfG umschreibt hier die Grenzen der Meinungsfreiheit, wenn also die Äußerung „von vornherein offensichtlich inhaltlos“ ist. Diese Fälle werden auch als „Formalbeleidigung“ oder „Schmähkritik“ bezeichnet. Sofern eine Äußerung als „Formalbeleidigung“ oder „Schmähkritik“ qualifiziert wird, führt dies automatisch dazu, dass die Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Ehrschutz anderer Personen vor einer strafrechtlichen Beleidigung zugunsten des Ehrschutzes auszugehen hat. Beim BVerfG klingt dies so:
„Einen Sonderfall bei der Auslegung und Anwendung der §§ 185 ff. StGB bilden herabsetzende Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Dann ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurücktreten wird […]. Diese für die Meinungsfreiheit einschneidende Folge gebietet es aber, hinsichtlich des Vorliegens von Formalbeleidigungen und Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden […].“ (BVerfG, Beschluss vom 14.6.2019 – 1 BvR 2433/17)
Zuletzt muss man in der Examensklausur natürlich wissen, wann eine „Schmähung“ / „Schmähkritik“ oder eine „Formalbeleidigung“ vorliegt, um die Abwägung richtig vorzunehmen. Anerkannt ist besonders die folgende Definition:
„Eine Äußerung nimmt dann den Charakter der Schmähung an, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht; sie muss jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der Herabsetzung der Person bestehen […].“ (BVerfG, Beschluss vom 29. 7. 2003 – 1 BvR 2145/02)
Die Formalbeleidigung wird weitestgehend ähnlich definiert:
„[Ein] kleine[r] Kreis sozial absolut tabuisierter Schimpfwörter, deren einziger Zweck es ist, andere Personen herabzusetzen (Formalbeleidigung).“ (BVerfG, Beschluss vom 16.10.2020 – 1 BvR 1024/19)
Die Begriffe „Schmähung“ / „Schmähkritik“ und „Formalbeleidigung“ werden zumeist gleichbedeutend verwendet, eine genaue Unterscheidung dieser Begriffe wird oftmals nicht vorgenommen. Erst dann, wenn keinerlei sachliche Information mehr in einer Äußerung zu erblicken ist, sondern es nur noch darum geht, mit der Äußerung eine Person anzugreifen, ist also die Grenze zur „Schmähung“ / „Schmähkritik“ bzw. „Formalbeleidigung“ überschritten.
Im vorliegenden Fall entschied das BVerfG zugunsten des Ehrschutzes der durch die Äußerung „FCK BFE“ betroffenen Personen, indem es ausführte:
„Die in erster Linie den Strafgerichten obliegende Auslegung und Anwendung des die Meinungsfreiheit beschränkenden § 185 StGB begegnet in den differenziert festgestellten Umständen des Falles keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Eine Missachtung der aus dem Grundsatz praktischer Konkordanz folgenden verfassungsrechtlichen Maßgaben für Verurteilungen nach § 185 StGB […] und ein Überschreiten des bei der Anwendung dieser Maßgaben bestehenden fachgerichtlichen Wertungsrahmens sind nicht erkennbar.“
Vorliegend hatten die Fachgerichte also die zutreffende Wertung vorgenommen, dass es sich bei der streitgegenständlichen Äußerung um eine „Schmähung“ / „Schmähkritik“ bzw. „Formalbeleidigung“ handelt und damit die Grenze zur strafbaren Beleidigung überschritten ist.
Maßgeblich für die Qualifizierung als strafrechtliche Beleidigung sei laut dem BVerfG, dass „[…] die Fachgerichte die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die tatgerichtliche Feststellung einer Individualisierung potenziell beleidigender Schriftzüge auf konkrete Personen oder Personengruppen beachtet […] [hätten].“
JurCase informiert:
In den berühmten „ACAB“- und „FCK CPS“-Fällen wurde ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die Meinungsfreiheit durch eine strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung angenommen, wenn „[…] hinreichende Feststellungen dazu fehlen, dass sich die Äußerung auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe […] bezieht.“ (BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 26.2.2015 – 1 BvR 1036/14)
Sofern also keine Individualisierung eines Personenkreises möglich ist, auf den sich die Äußerung beziehen soll, ist nach dieser Rechtsprechung die Grenze zur „Schmähung“ / „Schmähkritik“ bzw. „Formalbeleidigung“ noch nicht überschritten und eine strafrechtliche Beleidigung in diesen Äußerungen nicht zu erblicken.
Das BVerfG entschied hier, dass der Fall anders liege als die berühmten „ACAB“- und „FCK CPS“-Fälle, denn hier sei der Personenkreis, den die Äußerung in Form des Schriftzuges auf dem Pullover treffen sollte, hinreichend individualisierbar. Vorliegend sei die Äußerung nicht mehr als „allgemeine politische Stellungnahme“ zu einem „Kollektiv Polizei“ zu qualifizieren. Dies folge daraus, dass der Beschwerdeführer bereits eine Vorgeschichte mit der Polizeieinheit in diesem Fall gehabt habe und „[…] das ausdrücklich in Bezug genommene Kollektiv der BFE – auch ohne den Ortszusatz – erheblich spezifischer und eher abgrenzbar ist als der Begriff ‚cops’. Bei Letzterem [sei] nicht einmal erkennbar, ob sich dieser auf die deutsche Polizei oder ganz allgemein auf alle Personen mit polizeilichen Funktionen auf der Welt bezieh[e].“
JurCase informiert:
Sofern also Äußerungen Bezug auf einen Personenkreis nehmen, ist immer zu prüfen, ob dieser Personenkreis hinreichend individualisierbar ist oder aber ein „Kollektiv“ angesprochen wird, denn diese Bewertung entscheidet nach dieser gefestigten Rechtsprechung letztlich über die Einordnung als strafbare Beleidigung. Eine treffende Begründung für dieses Vorgehen lieferte das BVerfG in seinem „FCK CPS“-Fall gleich mit:
„Je größer das Kollektiv ist, auf das sich die herabsetzende Äußerung bezieht, desto schwächer kann auch die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorwürfen an große Kollektive meist nicht um das individuelle Fehlverhalten oder individuelle Merkmale der Mitglieder, sondern um den aus der Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivs und seiner sozialen Funktion sowie der damit verbundenen Verhaltensanforderungen an die Mitglieder geht.“ (BVerfG, Beschluss vom 26.2.2015 – 1 BvR 1036/14)
Fazit
Im Rahmen der Beurteilung, ob eine von der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs.1 S.1 GG) geschützte Äußerung vorliegt oder diese schon als strafrechtliche Beleidigung (§ 185 StGB) zu erfassen ist, gibt es eine sehr systematische Rechtsprechung. In der Examensklausur gilt es diese systematische Rechtsprechung auf den vorliegenden Einzelfall anzuwenden. Letztlich müssen folgende zwei Fragen beantwortet werden:
- Liegt eine „Schmähung“ / „Schmähkritik“ bzw. „Formalbeleidigung“ vor?
- Ist die Äußerung an einen hinreichend individualisierten Personenkreis gerichtet?
Führt man sich diese Grundsätze vor Augen und hält man sich strikt an die vorgegebenen Abwägungsmaßstäbe, ist jeder Fall von „problematischen Äußerungen“ schnell und einfach in den Griff zu bekommen. Zusätzlich gilt es in der Examensklausur im Fall der Verfassungsbeschwerde die prozessualen Besonderheiten zu beachten. Im vorliegenden Fall lautet das Ergebnis: Ja, das Zurschaustellen eines Pullovers mit dem Schriftzug „FCK BFE“ kann eine strafbare Beleidigung darstellen – jedenfalls unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles.