OLG Stuttgart, Beschluss vom 01.07.2021 – 1 Rv 13 Ss 421/21
Das Oberlandesgericht Stuttgart (OLG) hatte sich in seinem Beschluss vom 01.07.2021 (1 Rv 13 Ss 421/21) ausführlich mit dem Begriff der prozessualen Tat, dem Strafklageverbrauch und dem Doppelbestrafungsverbot – also einer Reihe klausurrelevanter juristischer Themen – zu beschäftigen. Die Examensrelevanz dieses Beschlusses drängt sich daher – besonders für die Klausuren im Zweiten Staatsexamen – geradezu auf. Dieser Beitrag soll die wesentlichen Erwägungen des Beschlusses vom 01.07.2021 zusammenfassen und einen Überblick über den Begriff der prozessualen Tat i.S.d. § 264 StPO und sein Zusammenspiel mit dem Strafklageverbrauch und dem Doppelbestrafungsverbot geben.
Dem Beschluss lag der folgende Sachverhalt zugrunde:
Dem Angeklagten wurde in dem Verfahren, in welchem der Beschluss des OLG Stuttgart erging, vorgeworfen, er habe am 28.03.2020 gegen 19:33 Uhr seinen PKW in der B.-Straße ca. 200-300 Meter von einer Wendeplatte zu seiner Wohnadresse in der B.-Straße gefahren, obwohl er infolge vorangegangenen Alkoholgenusses fahruntüchtig gewesen sei. Er war in diesem Verfahren also wegen einer Tat nach § 316 StGB – Trunkenheit im Verkehr – angeklagt. Das Amtsgericht Schwäbisch Gmünd verurteilte ihn am 23.07.2020 auch wegen dieser vorsätzlichen Trunkenheit im Verkehr und ordnete die Entziehung der Fahrerlaubnis, die Einziehung des Führerscheins sowie eine Sperre von 6 Monaten für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis an. Der Angeklagte ging gegen dieses Urteil mit der Berufung vor. Diese wurde jedoch vom Landgericht Ellwangen (Jagst) am 15.02.2021 verworfen. Das Oberlandesgericht Stuttgart hatte nunmehr über die Revision des Angeklagten zu entscheiden.
Kurz vor dem Urteil des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd vom 23.07.2020 – am 07.07.2020 – erging gegen den Angeklagten jedoch bereits ein Strafbefehl. Gegenstand dieses Strafbefehls war ein tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung. Der Angeklagte wurde am Tag der Trunkenheitsfahrt, am 28.3.2020 gegen 19.50 Uhr, nach einer Fahndung wegen der angezeigten Trunkenheitsfahrt durch Streifenbeamte auf dem Fahrersitz seines an der B.-Straße abgestellten Fahrzeugs angetroffen. Nachdem die Streifenbeamten den Angeklagten auf den Verdacht der Trunkenheitsfahrt angesprochen hatten, zeigte dieser ein aggressives Verhalten und es kam zu einer körperlichen Auseinandersetzung, bei der eine Streifenbeamtin verletzt wurde. Während dieser Tat stand der Angeklagte unter Alkoholeinfluss, war jedoch nicht in seiner Unrechtseinsichts- oder Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Dieser Strafbefehl vom 07.07.2020 wurde am 30.07.2020 – also noch vor der Entscheidung des Landgerichts Ellwangen (Jagst) vom 15.02.2021 – rechtskräftig.
Das OLG Stuttgart hatte nunmehr über die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ellwangen (Jagst) vom 15.02.2021 in dem Verfahren wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu entscheiden.
Die Entscheidung des OLG Stuttgarts:
Das OLG Stuttgart hob das Urteil des Landgerichts Ellwangen (Jagst) vom 15.02.2021 samt den dort getätigten Feststellungen infolge der zulässigen und begründeten Revision des Angeklagten auf und stellte das Verfahren ein. Es begründete seine Entscheidung wie folgt:
„Es liegt ein von Amts wegen zu beachtendes dauerndes Verfahrenshindernis vor. Die prozessuale Tat […] wurde bereits mit rechtskräftigem Strafbefehl des AG Schwäbisch Gmünd vom 7.7.2020 abgeurteilt […]. Aufgrund des Doppelbestrafungsverbots ist Strafklageverbrauch eingetreten […]. Der Senat hat das Urteil folglich aufzuheben und das Verfahren einzustellen […]. Da beim Strafklageverbrauch ein Verfahrenshindernis in Form eines Befassungsverbots vorliegt, sind mit dem Urteil auch die Feststellungen aufzuheben […].“
Der Verurteilung wegen Trunkenheit im Verkehr stehe hier also das von Amts wegen zu beachtende Verfahrenshindernis des Strafklageverbrauchs entgegen. Dies folge laut OLG Stuttgart daraus, dass „[d]as Geschehen am 28.3.2020 in der B.-Straße in S. G. zwischen 19.33 Uhr und 19.50 Uhr mit der vorgeworfenen Trunkenheitsfahrt und dem unmittelbar nachfolgenden tätlichen Angriff […] eine prozessuale Tat i.S.v. § 264 StPO [sei].“
JurCase informiert:
Die Definition der „prozessualen Tat“ i.S.v. § 264 StPO lieferte das OLG Stuttgart in seinem Beschluss direkt mit:
„Tat im prozessualen Sinne ist der von der zugelassenen Anklage umgrenzte geschichtliche Lebensvorgang einschließlich aller damit zusammenhängenden oder darauf bezogenen Vorkommnisse und tatsächlichen Umstände, die geeignet sind, das in diesen Bereich fallende Tun der in der Anklage konkret bezeichneten Person unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt als strafbar erscheinen zu lassen […]. Zur Tat in diesem Sinne gehört das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang darstellt […].
Überblick: Die prozessuale Tat
In der Examensklausur kann der Begriff der prozessualen Tat vor allem im Rahmen der Nachtragsanklage, des Strafklageverbrauchs, des Doppelbestrafungsverbots sowie im Rahmen der Einstellung des Verfahrens nach den §§ 153 ff. und § 170 Abs. 2 StPO relevant werden.
Hilfreich für die Beurteilung, ob eine einheitliche prozessuale Tat vorliegt, kann insbesondere die Orientierung an den §§ 52, 53 StGB sein. Das OLG Stuttgart gab hierfür die folgende Faustformel vor:
„Wenn materiell-rechtlich mehrere Taten i.S.v. § 53 StGB vorliegen, führt dies in der Regel […] auch zu mehreren getrennten prozessualen Taten i.S.v. § 264 StPO […].“
Hier ist jedoch Vorsicht geboten. Die §§ 52, 53 StGB sind lediglich eine Orientierungshilfe, entbinden jedoch nicht von der Würdigung aller Umstände im konkreten Einzelfall. Das OLG Stuttgart führte diesbezüglich weiter aus, dass in Ausnahmefällen auch nur eine prozessuale Tat vorliegen könne, obwohl es sich materiell-rechtlich um eine Tatmehrheit i.S.d. § 53 StGB handele:
„Mehrere selbstständige Handlungen bilden nach übereinstimmender Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum erst dann eine Tat i.S.v. § 264 StPO, wenn darüber hinaus die einzelnen Handlungen unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung auch innerlich derart miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs erscheinen würde […]. Die notwendige innere Verknüpfung der Straftaten muss sich unmittelbar aus den ihnen zugrunde liegenden Handlungen oder Ereignissen unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung ergeben […]. Es muss folglich neben einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang auch ein innerer Beziehungs- und Bedingungszusammenhang bestehen […].“
Aus der Rechtsprechung der letzten Jahre sind verschiedene Fallgruppen hervorgegangen, bei denen ein derartiger Zusammenhang regelmäßig vorliegt. Das OLG Stuttgart nannte in seinem Beschluss beispielsweise die Fälle, in denen es um Verkehrsunfälle aufgrund von Trunkenheitsfahrten geht und sich eine Unfallflucht anschließt (§§ 315 c Abs. 1 Nr. 1, 316, 142 StGB). Ebenso hob das OLG Stuttgart die Fälle hervor, die Widerstandshandlungen gegen Vollstreckungsbeamte gem. § 113 StGB nach vorläufiger Festnahme aufgrund einer unmittelbar vorangegangenen Trunkenheitsfahrt zum Gegenstand haben. Es verwies jedoch auch darauf, dass diese Fälle von denjenigen Fällen abzugrenzen sind, „[…] in denen dem Widerstand eine andere Straftat in einem völlig anderen Lebensvorgang vorangeht.“
JurCase informiert:
Ein Beispiel für einen derartigen Fall, bei der dem Widerstand eine andere Straftat mit einem völlig anderen Lebenssachverhalt vorangehe, sei laut OLG Stuttgart der „Schmuggelfall“ (BVerfG, Beschluss vom 11.01.2005 – 2 BvR 2125/04). Dem Widerstand lag im „Schmuggelfall“ eine Steuerstraftat nach § 373 Abs. 1 AO [Abgabenordnung] zugrunde. Hier entschied das Bundesverfassungsgericht sich dafür, nicht nur eine prozessuale Tat anzunehmen.
Trunkenheitsfahrt und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte – Eine prozessuale Tat im Sinne des § 264 StPO
Im vorliegenden Fall wies das OLG Stuttgart daraufhin, dass der Trunkenheitsfahrt und dem tätlichen Angriff auf die Polizeibeamten zwar zwei verschiedene Handlungen des Angeklagten i.S.d. § 53 StGB – das Fahren unter Alkoholeinfluss und der Angriff auf die Beamtin – zugrunde lägen, also von einer Tatmehrheit nach § 53 StGB auszugehen sei. Allerdings greife hier die vorgenannte Ausnahme ein, nach der lediglich eine Tat im prozessualen Sinne gemäß § 264 StPO anzunehmen sei. Der jeweilige Unrechts- und Schuldgehalt sei hier so identisch, dass „[…] ihre getrennte Verfolgung eine unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhalts darstellen würde.“
Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, würdigte das OLG Stuttgart alle Umstände dieses Falles bis ins kleinste Detail. Nach dem OLG Stuttgart spreche für die Annahme einer einheitlichen prozessualen Tat im vorliegenden Fall:
- der enge örtliche und zeitliche Zusammenhang
- der enge situative Beziehungs- und Bedingungszusammenhang zwischen der Trunkenheitsfahrt und dem tätlichen Angriff (vorliegend sei es zu dem tätlichen Angriff nur aufgrund der Trunkenheitsfahrt gekommen)
- der Angeklagte sei von den Streifenbeamten noch im Auto sitzend aufgesucht und auf die Trunkenheitsfahrt angesprochen worden
- der Motor seines Wagens sei noch warm gewesen
- das Auto habe noch am ruhenden Verkehr teilgenommen und der Angeklagte habe seine Trunkenheitsfahrt jederzeit fortsetzen können
- die Polizei sei nur aufgrund der angezeigten Trunkenheitsfahrt auf den Angeklagten aufmerksam geworden
Nach alledem stellte das OLG Stuttgart ausdrücklich fest:
„Ein Ausnahmefall liegt mithin vor. Wenn ein betrunkener Kraftfahrer noch im Auto sitzend von der Polizei angetroffen wird und noch vor Ort bei Maßnahmen der Feststellung der Alkoholkonzentration alsbald die Polizei tätlich angreift, stellen Trunkenheitsfahrt und tätlicher Angriff eine prozessuale Tat i.S.v. § 264 StPO dar.“
Eine prozessuale Tat – Konsequenzen für die Entscheidung über die Revision
Da der Strafbefehl des AG Schwäbisch Gmünd vom 07.07.2020 seit dem 30.7.2020 formelle und materielle Rechtskraftwirkung entfaltete, bestand im Verfahren des OLG Stuttgart ein Verfahrenshindernis. Das OLG Stuttgart nahm hierfür Bezug auf § 410 Abs. 3 StPO. Dieser bestimmt: „Soweit gegen einen Strafbefehl nicht rechtzeitig Einspruch erhoben worden ist, steht er einem rechtskräftigen Urteil gleich.“
Gemäß § 373 a Abs.1 StPO kann ein Verfahren, das durch einen rechtskräftigen Strafbefehl abgeschlossenen wurde, zwar auch zuungunsten des Verurteilten wiederaufgenommen werden, dies jedoch nur dann, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früheren Beweisen geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begründen. Nach § 373 a Abs. 2 StPO gelten im Übrigen die allgemeinen Wiederaufnahmegründe. Das OLG Stuttgart stellte sodann fest, dass dem Strafbefehl ein tätlicher Angriff in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zugrunde lag und die Trunkenheit im Verkehr in dem Verfahren des OLG Stuttgart lediglich als Vergehen i.S.d. § 12 StGB zu qualifizieren ist. Die Rechtskraft des Strafbefehls war damit nicht mehr zu durchbrechen. Das OLG Stuttgart zog die notwendige Konsequenz:
„Mit dem rechtskräftigen Strafbefehl des AG Schwäbisch Gmünd vom 7.7.2020 ist Strafklageverbrauch hinsichtlich der prozessualen Tat vom 28.3.2020 eingetreten. Der Angekl. darf mithin wegen dieser Tat nicht nochmals bestraft werden. Das Doppelbestrafungsverbot – ne bis in idem – hat Verfassungsrang gem. Art. 103 III GG.“
JurCase informiert:
Das OLG Stuttgart konturierte in seinem Beschluss auch den Begriff der „Tat“ i.S.v. Art. 103 Abs. 3 GG:
„Ob dieselbe ‚Tat’ i.S.v. Art. 103 III GG vorliegt, ist dabei unabhängig vom Begriff der Tateinheit i.S.v. § 52 StGB zu beurteilen, weil die Rechtsfiguren der Tateinheit (§ 52 StGB) und der Tatidentität (Art. 103 III GG) verschiedene Zwecke verfolgen […]. Tat i.S.v. Art. 103 III GG ist vielmehr der geschichtliche – und damit zeitlich und sachverhaltlich begrenzte – Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht hat […]. Die prozessuale Tat i.S.v. § 264 StPO entspricht damit im Wesentlichen dem verfassungsrechtlichen Begriff der sogenannten Tatidentität gem. Art. 103 III GG.“
Für die Klausur bedeutet dies also: Die vorgenannten Grundsätze für die Beurteilung, ob eine prozessuale Tat i.S.d. § 264 StPO vorliegt, sind ebenso auf den Tatbegriff in Art. 103 Abs. 3 GG anwendbar.
Zuletzt gab das OLG Stuttgart noch den prozessualen Hinweis, dass der Strafklageverbrauch ein von Amts wegen zu berücksichtigendes dauerndes Verfahrenshindernis darstellt. Das OLG Stuttgart musste das Urteil des LG Ellwangen (Jagst) vom 15.2.2021 daher gemäß § 354 Abs. 1 StPO aufheben und das Verfahren nach § 206 a StPO einstellen.
JurCase informiert:
Vorliegend handelte es sich außerdem um einen Fall des § 353 Abs. 2 StPO. Diese Vorschrift bestimmt, dass gleichzeitig die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben sind, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, wegen deren das Urteil aufgehoben wird. Das OLG Stuttgart kam zu dem Ergebnis, dass der Strafklageverbrauch ein Befassungsverbot i.S.d. § 353 Abs. 2 StPO und nicht nur ein bloßes Bestrafungsverbot nach sich ziehe, sodass hier sämtliche Feststellungen, die in dem Urteil des LG Ellwangen (Jagst) vom 15.2.2021 getroffen wurden, mitaufzuheben seien.
Fazit
Der Begriff der prozessualen Tat i.S.d. § 264 StPO findet sich an vielen Stellen – sowohl in der Klausur als auch in der Praxis – wieder. So spielt er vor allem eine Rolle für die Beurteilung des Strafklageverbrauchs und des Doppelbestrafungsverbots. Er ist jedoch auch nahezu identisch mit dem Begriff der Tat i.S.d. Art. 103 Abs.3 GG und kann in letzter Konsequenz – wie hier – dazu führen, dass die Verurteilung einer Tat nicht möglich ist, da ihr ein Verfahrenshindernis entgegensteht. Eine saubere Vorgehensweise bei der Prüfung, ob eine identische prozessuale Tat i.S.d. § 264 StPO vorliegt, ist daher unerlässlich. Die Grundsätze des prozessualen Tatbegriffs i.S.d. § 264 StPO, die Orientierungshilfen der §§ 52, 53 StPO und vor allem auch die durch die Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen, bei denen trotz einer materiellen Tatmehrheit dennoch nur eine prozessuale Tat anzunehmen ist, sollten daher präzise beherrscht werden.