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„Polizeiflucht“: Ein verbotenes Kraftfahrzeugrennen iSd. § 315 d StGB?

By 3. Mai 2022Oktober 23rd, 2023No Comments
Strafrecht

Das Oberlandesgericht Stuttgart (OLG Stuttgart) entschied in seinem Beschluss vom 4. Juli 2019, dass auch die Fälle der „Polizeiflucht“ den Straftatbestand § 315d StGB („Verbotene Kraftfahrzeugrennen“) erfüllen können. Damit lag die erste obergerichtliche Rechtsprechung zu diesem Rechtsproblem vor. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte im Jahr 2021 in einem ähnlich gelagerten Fall ebenfalls darüber zu entscheiden, wie die Fälle der „Polizeiflucht“ rechtlich einzuordnen sind, so dass nun auch eine höchstrichterliche Rechtsprechung hierzu existiert. Die Examensrelevanz der „Polizeifluchtfälle“ drängt sich damit nahezu auf. Dieser Beitrag soll anhand der Beschlüsse des OLG Stuttgart und des BGH einen Überblick über die rechtliche Behandlung der „Polizeifluchtfälle“ geben.

JurCase informiert:

Das Prüfungsschema des § 315d StGB im Überblick
I. Tatbestand

1. Objektiver Tatbestand
a. Im Straßenverkehr
b. Tathandlung (alternativ § 315 d Abs. 1 Nr.1-3 StGB)
Nr.1: ein nicht erlaubtes Kraftfahrzeugrennen ausrichten oder durchführen
oder
Nr.2: als Kraftfahrzeugführer an einem nicht erlaubten Kraftfahrzeugrennen teilnehmen
oder
Nr.3: sich als Kraftfahrzeugführer mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegen

 2. Subjektiver Tatbestand
– Vorsatz
ACHTUNG: Wenn die Tathandlung des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB einschlägig ist, dann ist eine überschießende Innentendenz zu prüfen. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB normiert: „um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“. Der Täter muss also mit der Absicht gehandelt haben, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen.

II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
Achtung: Im § 315d Abs. 2 StGB ist eine Qualifikation und in § 315d Abs. 5 StGB eine Erfolgsqualifikation geregelt.

Zum Sachverhalt im Verfahren vor dem OLG Stuttgart (Beschluss vom 04.07.2019 – 4 RV 28 Ss 103/19)

Der Angeklagte flüchtete im Jahr 2018 mit seinem PKW vor einer Streifenwagenbesatzung der Polizei, die eine Verkehrskontrolle durchführen wollte. Dabei fuhr er mit einer Geschwindigkeit durch eine Ortschaft, die die zulässige Höchstgeschwindigkeit deutlich überschritt. Statt mit den erlaubten 50 km/h raste er mit 145 km/h über die Straßen, befuhr die Gegenfahrbahn und überfuhr eine „Rot“ anzeigende Ampel. Die Polizeibeamten mussten letztlich die Verfolgung des PKW abbrechen, um sich und andere Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden.

Das Amtsgericht Müsingen verurteilte den Angeklagten wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens zu einer Geldstrafe. Ihm wurde die Fahrerlaubnis entzogen und sein Führerschein eingezogen. Die Sperrfrist für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis wurde auf neun Monate festgesetzt. Der Angeklagte ging mit der Sprungrevision gegen das Urteil vor.

Die Entscheidung des OLG Stuttgart:

Das OLG Stuttgart verwarf die Revision als unbegründet.

Das Amtsgericht Müsingen habe fehlerfrei festgestellt, dass der Angeklagte sich gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB strafbar gemacht habe, so das OLG Stuttgart. Insbesondere habe das Amtsgericht Müsingen zutreffend angenommen, dass der Angeklagte in der Absicht gehandelt habe, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen.

JurCase informiert:

Da es in den „Polizeifluchtfällen“ um einen „Alleinraser“ geht, ist in diesen Fällen regelmäßig die Tathandlung nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB einschlägig, so dass im subjektiven Tatbestand die überschießende Innentendenz („um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“) zu erörtern ist. Hier verstecken sich regelmäßig rechtliche Probleme.

Zu den Anforderungen an die überschießende Innentendenz im Fall des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB führte das OLG Stuttgart aus:

„Dies verlangt nicht die Absicht, das Fahrzeug mit objektiv höchstmöglicher Geschwindigkeit zu führen oder es bis an die technischen bzw. physikalischen Grenzen auszufahren […]. Die Gesetzesformulierung soll vielmehr möglichst viele relevante Komponenten wie fahrzeugspezifische Höchstgeschwindigkeit und Beschleunigung, subjektives Geschwindigkeitsempfinden, Verkehrslage und Witterungsbedingungen auf einen Nenner bringen […]. Gefordert ist demnach das Abzielen auf eine relative Höchstgeschwindigkeit […], die sich an den genannten Kriterien orientiert.“

Es komme also nicht darauf an, tatsächlich die Höchstgeschwindigkeit des Fahrzeuges zu erreichen, sondern vielmehr darauf, dass der Fahrer unter den vorherrschenden Bedingungen, die in der jeweiligen Situation mögliche Höchstgeschwindigkeit ausreize.

Schließlich äußerte sich das OLG Stuttgart auch zu der umstrittenen Frage, ob die überschießende Innentendenz im Rahmen der Tathandlung des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB, also die Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, den Hauptgrund für die Fahrt bilden muss:

„Die Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, muss auch nicht Haupt- oder Alleinbeweggrund für die Fahrt sein […].“

Dies begründete das OLG Stuttgart unter Zuhilfenahme der juristischen Auslegungsmethoden:

  • Der Gesetzgeber habe in § 315 d Abs.1 Nr. 3 StGB nicht das Wort „allein“ vorangestellt. Dass die Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, der Hauptgrund für die Fahrt gewesen sein muss, ergebe sich nicht aus dem Wortlaut.
  • Auch die Gesetzesbegründung lege es nahe, die „Polizeifluchtfälle“ zu erfassen. Die Vorschrift sei für Fahrten mit Renncharakter geschaffen worden und solle vor den Risiken eines Rennens im Straßenverkehr schützen. Bei derartigen Rennen sei einerseits die Motivation der Rennteilnehmer durch den Wettbewerb verstärkt und andererseits auch die Aufmerksamkeit der Rennteilnehmer nicht – wie bei bloßen Geschwindigkeitsbeschränkungen – nur auf den Straßenverkehr gelenkt, sondern auch auf ihre Mitbewerber. Eine Polizeiflucht sei mit einem Rennen vergleichbar, denn eine Polizeiflucht gehe mit vergleichbaren Risiken einher.

Das OLG Stuttgart formulierte dies wie folgt:

„Sowohl der Gesetzeswortlaut als auch die Begründung sprechen deshalb dafür, auch die Polizeiflucht als tatbestandsmäßig anzusehen. Schließlich ist sie von einem spezifischen Renncharakter geprägt, in dem sich gerade die in der Begründung genannten besonderen Risiken wiederfinden, auch wenn das Ziel des Wettbewerbs hier nicht im bloßen Sieg, sondern in der gelungenen Flucht liegt. Die risikobezogene Vergleichbarkeit mit den sportlichen Wettbewerben liegt auf der Hand. Es wäre vor dem Hintergrund des Schutzzwecks der Vorschrift und der intendierten Abgrenzung zwischen Fahrten mit Renncharakter – und damit abstrakt höherem Gefährdungspotential – und bloßen Geschwindigkeitsüberschreitungen auch sinnwidrig und kaum vertretbar, für eine Strafbarkeit – bei identischer Fahrweise und gleicher abstrakter Gefährdungslage – allein danach zu differenzieren, welche Motive die Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, letztlich ausgelöst haben oder begleiten.“

Das OLG Stuttgart verwies außerdem darauf, dass eine Aufklärung der konkreten Motivation – also der inneren Tatseite – im Einzelfall kaum möglich sei.

Schließlich lege auch eine systematische Auslegung eine Strafbarkeit der Polizeifluchtfälle nach § 315 d Abs.1 Nr. 3 StGB nahe, so das OLG Stuttgart:

  • In § 315 3 Nr. 1a StGB sei es für eine Strafbarkeit unerheblich, wenn der Täter neben der „Absicht, einen Unglücksfall herbeizuführen“ weitere Ziele verfolge.
  • Auch im Rahmen der Besitzerhaltungsabsicht des § 252 StGB und der Bereicherungsabsicht des § 263 StGB seien weitere Motive des Täters irrelevant für die Frage der Strafbarkeit.

Somit entschied das OLG Stuttgart:

„Die Auffassung, die Verfolgungsjagd könne bei der Polizeiflucht nicht als Wettbewerb oder Leistungsprüfung eingestuft werden und unterliege deshalb nicht der Strafbarkeit nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB, findet weder einen Anhalt im Wortlaut der Norm noch in der Gesetzesbegründung. Vielmehr sprechen diese wie auch der Sinn und Zweck der Vorschrift auch in Fällen der Polizeiflucht für eine Strafbarkeit nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB, soweit die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen im Einzelfall – wie hier – festgestellt werden können.“

Der BGH zu Polizeifluchtfällen:

So wie das OLG Stuttgart sah es auch der BGH in einem ähnlich gelagerten Fall im Jahr 2021 (Beschluss vom 24. März 2021 – 4 StR 142/20):

„Die Absicht des Täters, nach seinen Vorstellungen auf einer nicht ganz
unerheblichen Wegstrecke die nach den situativen Gegebenheiten maximal
mögliche Geschwindigkeit zu erreichen, muss nicht Endziel oder Hauptbeweggrund des Handelns sein. Es reicht vielmehr aus, dass der Täter das Erreichen der situativen Grenzgeschwindigkeit als aus seiner Sicht notwendiges Zwischenziel anstrebt, um ein weiteres Handlungsziel zu erreichen. Dieses Verständnis des Absichtsmerkmals in § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB hat zur Folge, dass beim Vorliegen der weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen auch sogenannte Polizeifluchtfälle – wie hier – von der Strafvorschrift erfasst werden, sofern festgestellt werden kann, dass es dem Täter darauf ankam, als notwendiges Zwischenziel für eine erfolgreiche Flucht über eine nicht ganz unerhebliche Wegstrecke die höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen.“
(Hervorhebungen durch die Verfasserin)

Auch der BGH subsumiert die Polizeifluchtfälle also unter § 315 d Abs.1 Nr. 3 StGB, sofern alle Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen und der Täter eine höchstmögliche Geschwindigkeit als notwendiges Zwischenziel für eine erfolgreiche Flucht ansieht.

JurCase informiert:

Der BGH wies in seinem Beschluss noch darauf hin, dass sich aus der Fluchtmotivation allein nicht die Absicht, höchstmögliche Geschwindigkeiten zu erreichen, ableiten lasse. Hier ist in der Klausur also die Würdigung aller Umstände des Einzelfalles und Subsumtionsarbeit gefragt.

Fazit

Dass Polizeifluchtfälle der Vorschrift des § 315 d Abs. 1 Nr. 3 StGB unterfallen können, ist spätestens seit dem Beschluss des BGH aus dem Jahr 2021 klar. Interessanter ist in der Examensklausur jedoch der Weg zu diesem Ergebnis. Das OLG Stuttgart hat es in seiner Entscheidung vorgemacht: Die juristischen Auslegungsmethoden – Wortlaut, Telos und Gesetzessystematik – liefern die entscheidenden Argumente und ersparen das Auswendiglernen!

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Beitragsautor:

Laureen

Laureen

Laureen war zu ihrer Zeit bei uns Diplom-Juristin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich des Strafrechts bei Nagel Schlösser Rechtsanwälte. Sie hat bei uns über verschiedene Themen berichtet, etwa zu ihrem Referendariat und vor allem zu #Gewusst: Aktuelle Rechtsprechung.

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