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Fall des Monats März 2021: Haftung des Großvaters bei Filesharing des Enkels

By 15. März 2021Oktober 10th, 2023No Comments
Fall des Monats

Problem: Haftung des Großvaters bei Filesharing des Enkels

Einordnung: Deliktsrecht

LG Frankfurt, Urteil vom 29.10.2020 2-03 O 15/19

 

SACHVERHALT

K stellt Computerspiele her, die sie unter der Marke „D“ über das Internet vertreibt. Zu ihren Produkten gehört das Computerspiel „S“. Am Urheberrecht der K bestehen keine Zweifel. B1 ist der Großvater des B2. B2 hielt sich am Wochenende bei B1 auf. B1 verfügt über einen Internetanschluss. Über diesen lud der zur Tatzeit 11-jährige B2 über das „Filesharing“-Netzwerk „Bittorrent“ und die Website „www….ro“ das in Rede stehende Computerspiel „S“ herunter und hielt es aufgrund der Funktionsweise von „Filesharing“-Netzwerken damit zugleich auch zum „Download“ für andere Nutzer bereit. Es steht fest, dass „S“ über den Internetanschluss des B1 zum „Download“ angeboten wurde. „S“ kostete im Einzelhandel zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung zwischen 40,- € und 60,- €, über den Bezugsweg des „Downloads“ 40,- €. Nach der anwaltlichen Abmahnung seitens K und der entsprechenden Aufforderung gab B1 eine Unterlassungserklärung ohne Anerkennung einer Rechtspflicht ab, künftig von seinem Anschluss aus „S“ nicht downzuloaden. K verlangt von B1 und B2 gesamtschuldnerisch Schadensersatz in Höhe der Abmahnkosten. B1 verweist darauf, dass der sorgeberechtigte Vater des B2 zur Tatzeit anwesend gewesen sei, er B2 mehrfach verboten habe, von seinem Anschluss aus Filesharing zu betreiben und er B2 auch über die Rechtswidrigkeit aufgeklärt habe. B2 ist der Meinung, er könne als Elfjähriger den Unterschied zwischen Portalen und Tauschbörsen nicht erkennen, die freie oder kostenpflichtige Software zum Filesharing anbieten. Auch sei er angesichts der Abstraktheit der Rechtsverletzung nicht in der Lage gewesen, das Unrecht seiner Tat und die Folgen richtig einzuschätzen. Zu Recht?

Anmerkung: Eine Störerhaftung des B1 ist nicht zu prüfen.

Die Sachverhaltsdarstellung erfolgt hier, angepasst an die Erfordernisse der 1. juristischen Pflichtfachprüfung (1. Examen), stark verkürzt. Ausführungen zu § 97a UrhG sowie zur Berechnung eines Lizenzanalogieschadens fehlen, weil Kenntnisse hierzu allenfalls im Assessorexamen erwartet werden können. Wer sich, auch aus privatem Interesse, für diese Zusammenhänge interessiert, wird durch Lektüre des Urteils im Original gut befriedigt. Der Tatbestand ist sehr ausführlich.

LEITSATZ

  1. Hält sich der 11-Jährige Enkel über ein Wochenende beim Großvater auf, begründet dies noch keine stillschweigende, vertragliche Übernahme einer Aufsichtspflicht nach § 832 BGB.
  2. Bei einem 11-Jährigen kann die Einsichtsfähigkeit nach § 828 Abs. 3 BGB in Bezug auf die Komplexität einer Urheberrechtsverletzung im Wege des Filesharing fehlen, weil es in diesem Alter regelmäßig am Verständnis für die komplexe und abstrakte Begehungsweise fehlen dürfte.

LÖSUNG

A. Anspruch K gegen B1 auf Ersatz der Abmahnkosten aus §§ 97 II UrhG, 832 BGB
K könnte gegen B1 einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe der Abmahnkosten aus §§ 97 II UrhG, 832 BGB haben.

I. Widerrechtliche Schadenszufügung durch einen Minderjährigen

Die Verletzung der Urheberrechte durch ein Verhalten des B2 steht ebenso fest wie die Abmahnkosten, die K infolge der Rechtsverfolgung aufgewendet hat. Ferner handelt es sich bei B1 um eine Person, die als Elfjähriger gem. §§ 2, 106 BGB zur Tatzeit minderjährig war. Damit steht eine widerrechtliche Schadenszufügung durch einen Minderjährigen bei K fest.

Fassen Sie feststehende sowie unproblematische Tatbestandsmerkmale zusammen und vermeiden Sie jede Weitschweifigkeit.

II. Gesetzliche Aufsichtspflicht des B1 gem. § 832 I BGB

§ 832 I BGB verlangt, dass der Schuldner des Schadensersatzanspruchs kraft Gesetz zur Führung der Aufsicht über die zu beaufsichtigende Person verpflichtet gewesen sein muss. Sorgeberechtigt gem. § 1626 BGB und damit aufsichtspflichtig gem. § 1631 BGB waren die Eltern, hier der zur Tatzeit im Haus des B1 anwesende Vater des B2 und damit nicht B1. Eine Haftung nach § 832 I BGB scheidet aus.

Kraft Gesetz aufsichtspflichtig waren die Eltern des B1, hier konkret der anwesende Vater des B2.

III. Haftung gem. § 832 II BGB wegen vertraglicher Übernahme der Aufsichtspflicht
Nach § 832 II BGB haftet auch, wer die Aufsichtspflicht durch Vertrag übernommen hat.

[47] Für die vertragliche Übernahme genügt bereits eine stillschweigende Übereinkunft (…). Eine tatsächliche Übernahme genügt nicht (…). An die Annahme einer konkludenten Übernahme der Aufsichtspflichten sind strenge Anforderungen zu stellen, um überraschende Haftungslagen für den Dritten zu vermeiden und ihm die Möglichkeit der Absicherung und Schadensvorsorge einzuräumen (…). Indizien, die im Einzelfall für eine stillschweigende Übereinkunft sprechen können, sind z.B. die Entgeltlichkeit der Aufsichtsübernahme oder die Frage, inwieweit die Einräumung einer umfassenden Personenfürsorge mitsamt der Erziehung gewollt ist. Demgemäß genügt für eine konkludente Übernahme der gesetzlichen Aufsichtspflichten nicht bereits das gemeinsame Spiel von eigenen und fremden Kindern bei einer Mutter und die damit verbundene Aufsicht (…), ebenso wenig die Beaufsichtigung der Kinder durch einen Familienangehörigen (…), außer, die Aufsicht über das Kind wird für längere Zeit infolge der räumlichen Trennung unmöglich (…).

Strenge Anforderungen

Indizien: Entgeltlichkeit und Wunsch nach Erziehung

Gemeinsames Spielen von Kindern unterschiedlicher Eltern genügt nicht

[48] Der Aufenthalt des damals 11-jährigen Beklagten zu 2) an einem Wochenende bei seinem Großvater, dem Beklagten zu 1), führt schon aufgrund der Kürze des Aufenthaltes zu keiner Aufsichtspflicht des Beklagten zu 1) im Sinne des § 832 Abs. 2 BGB, wobei dahingestellt bleiben kann, ob nach dem – bestrittenen – Vortrag der Beklagten, sich der in M von der Mutter des Beklagten zu 2) getrennt lebende Vater an diesem Wochenende ebenfalls mit seinem Sohn im Haus seines Vaters, dem Beklagten zu 1), in B aufhielt. Eine Beaufsichtigung des minderjährigen Kindes durch einen Familienangehörigen reicht regelmäßig nicht aus, solange keine Aufsicht über das Kind für längere Zeit infolge der räumlichen Trennung zu den Erziehungsberechtigten vorliegt. (…).

Wochenendbesuch genügt nicht

Zeitlich längere räumliche Trennung nötig, Grüneberg/Sprau, BGB § 832 Rn 15; Münch.Komm./Wagner, BGB, § 832 Rn 45

Somit steht fest, dass B1 keine unerlaubte Handlung begangen hat und nicht gem. §§ 97 II UrhG, 832 BGB haftet.

B. Anspruch der K gegen B2 auf Schadensersatz gem. § 97 II UrhG

K könnte gegen B2 einen Anspruch aus § 97 II UrhG auf Erstattung der Abmahnkosten haben.

I. Widerrechtliche Urheberrechtsverletzung seitens B2

Es steht fest, dass B2 das Urheberrecht der K am Spiel „S“ widerrechtlich verletzt hat.

II. Verschulden des B2

§ 97 II UrhG verlangt vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln des Täters. Aufgrund des deliktischen Charakters des § 97 II UrhG ist zur Haftung eine Deliktsfähigkeit des Elfjährigen B2 erforderlich. Der eigentlichen Verschuldensprüfung hat eine Prüfung der deliktischen Verantwortlichkeit des Täters vorauszugehen. Diese ist gem. § 828 III BGB zu beurteilen. Dann muss B2 zur Tatzeit die erforderliche Einsichtsfähigkeit besessen haben. Diese hat, wer nach seiner individuellen Verstandesentwicklung fähig ist, das Gefährliche seines Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen seines Tuns bewusst zu sein. Für die Bejahung der Einsichtsfähigkeit reicht ein allgemeines Verständnis dafür aus, dass die Handlung gefährlich ist und die Verantwortung begründen kann.

Vor dem Fahrlässigkeitsvorwurf ist vorab die Verantwortlichkeit des Kindes gem. § 828 III BGB zu prüfen.

Grundlegend zur getrennten Prüfung von Verantwortlichkeit und Fahrlässigkeit: BGH, Urteil vom 10.03.1970, VI ZR 182/68

Anforderungen an die Einsichtsfähigkeit und Verantwortlichkeit

[52] Zur Überzeugung der Kammer fehlt bei einem 11-jährigen Kind regelmäßig noch das Verständnis für die Rechtswidrigkeit des „Downloadens“ eines Computerspiels in das Netz. Bei der Urheberrechtsverletzung aufgrund der Nutzung eines „Filesharing“-Netzwerkes handelt es sich um eine überdurchschnittlich komplexe Verletzungshandlung, die nicht allein darin besteht, eine Datei unentgeltlich aus dem Internet herunterzuladen, sondern diese bei dem Vorgang und aufgrund der Funktionsweise von einem „Filesharing“-Netzwerk wiederum gleichzeitig auch anderen Nutzern zum „Download“ anzubieten. Der genutzte Computer wird insofern Teil des Netzwerkes, über das die Datei zum „Download“ bereitgehalten wird.

Die Kammer des LG sieht im illegalen Filesharing eine überdurchschnittlich komplexe Verletzungshandlung.

[55] Es ist unstreitig, dass es sich bei dem Beklagten zu 2) um ein im Zeitpunkt der Verletzungshandlung 11-jähriges Kind handelte. Die Kammer teilt die Einschätzung des AG Koblenz (…), in einem Fall des Kopierens eines Fotos im Internet, dass einem Kind in diesem Alter – auch einem überdurchschnittlich intelligenten – regelmäßig noch das Verständnis für die Rechtswidrigkeit des „Downloadens“ eines Computerspiels im Internet fehlt. Es handelt sich bei dieser Art von Rechtsverletzung um eine der abstraktesten Verletzungen, die im Rechtsverkehr überhaupt denkbar sind. Diese Verletzung ist nicht ansatzweise vergleichbar mit Körper- oder Eigentumsverletzungen, die greifbar in der realen Umwelt geschehen und damit für Kinder anschaulich sind. Daher kann selbst dann, wenn die Eltern einem Kind die Nutzung einer Internet-Tauschbörse untersagt haben, nicht ohne weiteres von der Einsichtsfähigkeit des hiergegen verstoßenden Kindes ausgegangen werden (…). Zwar ist der Beklagte zu 2) – nach seinem Vortrag – mehrfach darüber belehrt worden, nichts Illegales aus dem Internet herunterzuladen und sich nicht an illegalen Tauschbörsen zu beteiligen. Allerdings setzt dies voraus, dass der Beklagte zu 2) zunächst überhaupt erkennt, dass es sich bei der Plattform um eine illegale „Filesharing“-Plattform handelt, eine durchaus technisch komplexe Angelegenheit. Großen Teilen der Bevölkerung – auch der erwachsenen! – fehlt oft die Einsicht, dass ein Kopieren von Daten bzw. ihre Veröffentlichung eine Rechtsverletzung darstellt, zumal wenn man den Vortrag des Beklagten zu 2) berücksichtigt, dass er im Internet die legale kostenlose Nutzung sowie auch legale kostenlose „Downloads“ in Anspruch genommen hat. (…)

AG Koblenz, Urteil vom 19.02.2015, 164 C 1485/14

Kinder sind nach Ansicht der Zivilkammer des LG Frankfurt am Main sowohl damit überfordert, die Rechtsverletzung zu durchschauen als auch die Tragweite des Filesharings abzusehen.

Dies soll sogar dann gelten, wenn die Eltern das Kind über die Rechtswidrigkeit des Filesharings belehrt haben.

Schon das Erkennen einer illegalen Filesharing-Plattform ist für ein Kind nicht so einfach, denn es gibt auch Plattformen, die freie, kostenlose Software anbieten.

Folglich fehlte es bei B2 zur Tatzeit an der für eine Haftung aus § 97 II UrhG nach § 828 III BGB notwendigen Verantwortlichkeit. B2 folglich haftet nicht auf Schadensersatz gem. § 97 II UrHG.

ERGEBNIS

K hat weder gegen B1 noch gegen B2 einen Anspruch auf Schadensersatz wegen der Abmahnkosten. Eine Prüfung der gesamtschuldnerischen Haftung nach § 840 BGB erübrigt sich folgerichtig.  

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