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Fall des Monats Dezember 2021: Wahlfeststellung bei Mordmerkmalen

By 15. Dezember 2021Oktober 10th, 2023No Comments
Fall des Monats

Problem: Wahlfeststellung bei Mordmerkmalen

Einordnung: Strafrecht BT III, Tötungsdelikte

BGH, Beschluss vom 16.02.2021 2 StR 391/20

EINLEITUNG
Der BGH konnte bei einem Mord nicht genau feststellen, ob der Angeklagte mit Ermöglichungs- oder Verdeckungsabsicht gehandelt hatte und führt aus, dass aber auch dann eine eindeutige Verurteilung wegen Mordes auf wahldeutiger Tatsachengrundlage möglich ist.

SACHVERHALT
Der Angeklagte A tötete in der Nacht vom 19. auf den 20.11.2018 das ihm seit längerer Zeit bekannte 79-jährige Tatopfer G durch massive Gewalthandlungen mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz in dessen Wohnhaus. Für den konkreten Tathergang hat die Strafkammer alternativ zwei mögliche Geschehensabläufe festgestellt:

Entweder drang A unbemerkt in das Wohnhaus des G ein und wurde von diesem entdeckt, nachdem er bereits Geld und/oder geldwerte Gegenstände an sich genommen hatte (Variante 1) oder die Entdeckung erfolgte bereits, bevor er sein Vorhaben, Geld oder geldwerte Gegenstände an sich zu nehmen (teilweise) umsetzen konnte (Variante 2). Die Tötung des G erfolgte entweder unmittelbar nachdem G den A auf frischer Tat ertappt hatte oder im Anschluss an ein nachfolgendes Streitgespräch, wobei A jedenfalls in der Absicht handelte, das an sich genommene Geld bzw. den oder die an sich genommenen geldwerten Gegenstände zu behalten oder sein Vorhaben umsetzen zu können.

Hat A sich wegen Straftaten aus dem 16. Abschnitt des StGB strafbar gemacht?

[Anm.: Das Mordmerkmal der Habgier ist nicht zu prüfen.]

LEITSÄTZE DER REDAKTION

  1. Eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage ist auch im Hinblick auf die alternative Verwirklichung verschiedener Mordmerkmale rechtlich möglich; dies setzt jedoch voraus, dass bei sämtlichen Sachverhaltsvarianten, welche der Tatrichter für möglich erachtet, eines der Mordmerkmale erfüllt ist.
  2. Verdeckungsabsicht und bedingter Tötungsvorsatz schließen einander nicht grundsätzlich aus, sondern können auch zusammen bestehen; dies kann der Fall sein, wenn die maßgebliche Handlung vom Täter vorgenommen wird, um eine vorangegangene Straftat zu verdecken, dieser Erfolg nach seinem Vorstellungsbild aber auch ohne den Eintritt des für möglich gehaltenen und billigend in Kauf genommenen Todeserfolgs bewirkt wird, der bedingt vorsätzlich herbeigeführte Tod des Opfers mithin keine verdeckungsspezifische Funktion aufweist.
  3. Geht der Täter dagegen davon aus, dass nur der Tod des Opfers zur Vortatverdeckung führt, können Verdeckungsabsicht und lediglich bedingter Tötungsvorsatz nicht nebeneinander angenommen werden.

PRÜFUNGSSCHEMA: MORD, § 211 StGB

A. Tatbestand

I. Tötung eines anderen Menschen

II. Mordmerkmale der 2. Gruppe des § 211 II StGB

III. Vorsatz bzgl. I. und II.

IV. Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB

B. Rechtswidrigkeit und Schuld

LÖSUNG

Im vorliegenden Sachverhalt ist unklar, ob A den G vor oder nach der Wegnahme der Wertgegenstände getötet hat. Im ersteren Fall käme das Mordmerkmal der Ermöglichungsabsicht in Betracht, im letzteren dasjenige der Verdeckungsabsicht.

„[14] […] eine Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage auch im Hinblick auf die alternative Verwirklichung verschiedener Mordmerkmale rechtlich möglich ist. Dies setzt jedoch voraus, dass bei sämtlichen Sachverhaltsvarianten, welche der Tatrichter nach Ausschöpfung aller Beweismittel unter Ausschluss anderweitiger Geschehensabläufe für möglich erachtet, eines der Mordmerkmale erfüllt sein muss.

BGH, Urteil vom 08.12.2012, 4 StR 498/11, NstZ 2012, 441

Dann müsste A allerdings nach beiden in Betracht kommenden Varianten mindestens ein Mordmerkmal verwirklicht haben.

A. 1. Variante: A tötete G vor der Wegnahme

I. Strafbarkeit gem. § 211 StGB z.N.d. G

Sollte A den G durch eine Handlung vor Wegnahme der Wertsachen getötet haben, könnte er sich wegen Mordes gem. § 211 StGB zum Nachteil des G strafbar gemacht haben.

1. Tatbestand

a) Tötung des G

A hat G durch eine eigene Handlung getötet.

b) Vorsatz bzgl. a)

A handelte auch mit (bedingtem) Tötungsvorsatz.

c) Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB
A könnte in der Absicht gehandelt haben, eine andere Straftat zu ermöglichen. Sollte A den G vor der Wegnahme der Wertsachen getötet haben, so erfolgte die Tötung, um sein Vorhaben der Durchführung eines Diebstahls, § 242 I StGB, durchzusetzen. A handelte also mit Ermöglichungsabsicht.

2. Rechtswidrigkeit und Schuld
A handelte rechtswidrig und schuldhaft.

3. Ergebnis

A ist strafbar gem. § 211 StGB.

II. Strafbarkeit gem. § 212 I StGB z.N.d. G
Der mitverwirklichte Totschlag gem. § 212 I StGB zum Nachteil des G tritt hinter dem Mord zurück.

B. 2. Variante: A tötete G nach der Wegnahme

I. Strafbarkeit gem. § 211 StGB z.N.d. G

Auch wenn A den G durch eine Handlung nach der Wegnahme getötet haben sollte, könnte er sich wegen Mordes gem. § 211 StGB zum Nachteil des G strafbar gemacht haben.

1. Tatbestand

a) Tötung des G

A hat G durch eine eigene Handlung getötet. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

b) Vorsatz bzgl. a)
A handelte mit (bedingtem) Tötungsvorsatz.

c) Mordmerkmale der 1. und 3. Gruppe des § 211 II StGB
A könnte in der Absicht gehandelt haben, eine andere Straftat, nämlich den zuvor begangenen Diebstahl § 242 I StGB, zu verdecken.

„[15] […] Die rechtliche Wertung der Strafkammer, der Angeklagte habe mit Verdeckungsabsicht gehandelt, sofern der körperliche Übergriff und der Todeseintritt erfolgten, nachdem der Angeklagte jedenfalls einen Teil der [Wertsachen] des Geschädigten bereits entwendet, das heißt eingesteckt hatte, wird von den Urteilsfeststellungen nicht getragen.

[16] aa) Verdeckungsabsicht und bedingter Tötungsvorsatz schließen einander nicht grundsätzlich aus, sondern können auch zusammen bestehen. Dies kann der Fall sein, wenn die maßgebliche Handlung vom Täter vorgenommen wird, um eine vorangegangene Straftat zu verdecken, dieser Erfolg nach seinem Vorstellungsbild aber auch ohne den Eintritt des für möglich gehaltenen und billigend in Kauf genommenen Todeserfolgs bewirkt wird, der bedingt vorsätzlich herbeigeführte Tod des Opfers mithin keine verdeckungsspezifische Funktion aufweist. Geht der Täter dagegen davon aus, dass nur der Tod des Opfers zur Vortatverdeckung führt, können Verdeckungsabsicht und lediglich bedingter Tötungsvorsatz nicht nebeneinander angenommen werden. [17] bb) […] Das Landgericht hat nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen, dass dem bedingt vorsätzlich herbeigeführten Tod des Opfers aus der Sicht des Angeklagten eine verdeckungsspezifische Funktion zukam. Mit Blick darauf, dass dieser nach den Feststellungen mit dem Tatopfer gut bekannt war, bestand die erörterungsbedürftige Möglichkeit, dass seine (des Angeklagten) Vorstellung dahinging, das Opfer werde ihn im Fall des Überlebens als Täter benennen. In dieser Sachverhaltskonstellation können Verdeckungsabsicht und bedingter Tötungsvorsatz regelmäßig nicht nebeneinander angenommen werden.“

BGH, Urteil vom 19.08.2020, 1 StR 474/19, NJW 2021, 326; Beschluss vom 29.01.2020, 4 StR 564/19, NStZ-RR 2020, 141

Nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ ist also davon auszugehen, dass A den G bei einer Tötung nach vollendeter Wegnahme nicht mit Verdeckungsabsicht getötet hat.

2. Ergebnis

A ist nicht strafbar gem. § 211 StGB.

II. Strafbarkeit gem. § 212 I StGB z.N.d. G
Durch die vorsätzliche, rechtswidrige und schuldhafte Tötung des G hat A sich aber jedenfalls wegen Totschlags gem. § 212 I StGB zum Nachteil des G strafbar gemacht.

Wäre der Sachverhalt umfassend zu begutachten, so wäre bei einer Tötung des G vor Vollendung der Wegnahme wohl noch eine Strafbarkeit wegen Raubes mit Todesfolge, §§ 249 I, 251 StGB gegeben, bei einer Tötung nach Vollendung der Wegnahme u.U. eine solche wegen räuberischen Diebstahls mit Todesfolge, §§ 252, 251 StGB. Zwischen diesen Delikten wäre dann eine echte Wahlfeststellung möglich.

C. Gesamtergebnis

Nach der 1. Variante ist A strafbar gem. § 211 StGB, nach der zweiten gem. § 212 I StGB. Allerdings kann § 211 StGB auf den darin enthaltenen § 212 I StGB reduziert werden, was dazu führt, dass nach beiden Varianten eine Strafbarkeit wegen Totschlags gegeben ist und somit durch eine (unechte) Wahlfeststellung eine eindeutige Strafbarkeit des A wegen Totschlags gem. § 212 I StGB festgestellt werden kann.

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Beitragsautor:

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