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Fall des Monats April 2022: Bundesnotbremse II – Schulschließungen

By 14. April 2022Oktober 10th, 2023No Comments
Fall des Monats

Problem: Bundesnotbremse II – Schulschließungen

Einordnung: Grundrechte

BVerfG, Beschluss vom 19.11.2021 1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21

SACHVERHALT

Der ohne Zustimmung des Bundesrates beschlossene § 28b Infektionsschutzgesetz (IfSG) sah in seiner vom 23.4.2021 bis zum 30.6.2021 geltenden Fassung umfassende Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie vor (sog. Bundesnotbremse). Die Maßnahmen waren abhängig von der Überschreitung bestimmter Grenzwerte (Sieben-Tage-Inzidenz) und umfassten auch Vorgaben für den Schulunterricht bis hin zu Schulschließungen (§ 28b III IfSG).

Betroffene Schülerinnen und Schüler sehen sich dadurch in ihrem Grundrecht auf schulische Bildung aus Art. 2 I i.V.m. Art. 7 I GG verletzt. Ist das der Fall?

LEITSÄTZE

1. Aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG folgt ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung).

2. Das Recht auf schulische Bildung umfasst verschiedene Gewährleistungsdimensionen:

a) Es vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten, enthält jedoch keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen.

b) Aus dem Recht auf schulische Bildung folgt zudem ein Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungsangeboten im Rahmen des vorhandenen Schulsystems.

c) Das Recht auf schulische Bildung umfasst auch ein Abwehrrecht gegen Maßnahmen, welche das aktuell eröffnete und auch wahrgenommene Bildungsangebot einer Schule einschränken, ohne das in Ausgestaltung des Art. 7 Abs. 1 GG geschaffene Schulsystem als solches zu verändern.

3. Entfällt der schulische Präsenzunterricht aus überwiegenden Gründen der Infektionsbekämpfung für einen längeren Zeitraum, sind die Länder nach Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet, den für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen unverzichtbaren Mindeststandard schulischer Bildung so weit wie möglich zu wahren. Sie haben dafür zu sorgen, dass bei einem Verbot von Präsenzunterricht nach Möglichkeit Distanzunterricht stattfindet.

4. […]

5. Eine die Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrates gemäß Art. 104a Abs. 4 GG auslösende bundesgesetzliche Verpflichtung der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten liegt nur dann vor, wenn das Gesetz nach seinem objektiven Regelungsgehalt bezweckt, Dritten individuelle Vorteile durch staatliche Leistungen zu verschaffen.

LÖSUNG

Die betroffenen Schülerinnen und Schüler sind durch § 28b III IfSG in ihrem Grundrecht auf schulische Bildung verletzt, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegt, der nicht gerechtfertigt ist.

I. Eingriff in den Schutzbereich

§ 28b III IfSG muss in den Schutzbereich des Grundrechts auf schulische Bildung aus Art. 2 I i.V.m. Art. 7 I GG eingegriffen haben.

1. Eröffnung des Schutzbereichs

Der Schutzbereich muss eröffnet sein.
Da es an einer ausdrücklichen Normierung fehlt, ist fraglich, ob es überhaupt ein Grundrecht auf schulische Bildung gibt.

„[46] […] Kinder selbst haben ein aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitetes, gegen den Staat gerichtetes Recht auf Unterstützung und Förderung bei ihrer Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft; der Staat muss diejenigen Lebensbedingungen sichern, die für ihr gesundes Aufwachsen erforderlich sind.

[47] Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG enthält auch ein Recht gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung gemäß dem Bildungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung).

[48] […] Nach Art. 7 Abs. 1 GG kommt dem Staat die Aufgabe zu, ein Schulsystem zu schaffen, das allen Kindern und Jugendlichen gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet, um so ihre Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft umfassend zu fördern und zu unterstützen. Diese dem Staat zugewiesene Aufgabe ist auf das gleiche Ziel gerichtet wie das in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf Unterstützung ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Der Staat kommt also, wenn er gemäß dem Auftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG die Schulbildung gewährleistet, zugleich seiner ihm nach Art. 2 Abs. 1 GG gegenüber den Kindern und Jugendlichen obliegenden Pflicht nach, sie bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen und zu fördern.

Das durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Recht der Kinder und Jugendlichen ist folglich das subjektiv-rechtliche „Gegenstück“ zur objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG, schulische Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, die deren Persönlichkeitsentwicklung dienen.

Anspruch auf Bildung aus Art. 2 I GG ist Kehrseite der objektiven Pflicht des Staates aus Art. 7 I GG

[49] Der Schutzbereich dieses Rechts umfasst, soweit es nicht um die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte berufsbezogene Ausbildung geht, die Schulbildung als Ganze.“

Umfasst sind z.B. auch Erziehung und Herausbildung sozialer Kompetenzen

Fraglich ist allerdings, was genau Inhalt dieses Rechts auf schulische Bildung ist.

„[52] Das Recht auf schulische Bildung […] gibt den einzelnen Schülerinnen und Schülern im Grundsatz keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung staatlicher Schulen. Das gilt nicht nur, soweit die Schaffung neuer Schulstrukturen begehrt wird. Das Recht auf schulische Bildung vermittelt im Regelfall auch keinen Anspruch auf Beibehaltung vorhandener schulischer Strukturen, wenn diese in Wahrnehmung des Bildungsauftrags nach Art. 7 Abs. 1 GG geändert werden.

Kein originärer Leistungsanspruch

[56] Der Staat kann sich darüber hinaus auch hinsichtlich des Rechts auf schulische Bildung auf einen Vorbehalt des Möglichen berufen. Das gilt nicht nur für den Fall, dass die gewünschten staatlichen Bildungsleistungen wegen aktuell unüberwindlicher personeller, sächlicher oder organisatorischer Zwänge tatsächlich nicht erbracht werden können, sondern auch hinsichtlich der Entscheidung, ob und inwieweit hierfür die nur begrenzt zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel verwendet werden sollen. Denn in erster Linie hat der Gesetzgeber in eigener Verantwortung zu entscheiden, in welchem Umfang die vorhandenen Mittel unter Berücksichtigung anderer gleichrangiger Staatsaufgaben für Zwecke der Schulbildung eingesetzt werden sollen. […]

Weitere Grenze: Staatliche Leistungsfähigkeit / Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers

[57] Vor diesem Hintergrund kann zwar grundsätzlich keine bestimmte Gestaltung von Schule verlangt werden. Aus dem Recht auf schulische Bildung folgt jedoch ein grundrechtlich geschützter Anspruch von Schülerinnen und Schülern auf Einhaltung eines nach allgemeiner Auffassung für ihre chancengleiche Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten an staatlichen Schulen. […]

Aber: Recht auf unverzichtbaren Mindeststandard

[62] […] Die vom Staat zur Verfügung gestellten Bildungsleistungen sind […] dem Zweck gewidmet, Schülern zu ermöglichen, sich gerade in Wahrnehmung ihres Rechts auf schulische Bildung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten zu entwickeln. Folglich kommen Schüler, wenn sie am Unterricht teilnehmen, nicht nur der Schulpflicht nach, sondern üben zugleich ihr nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG geschütztes Recht aus, ihre Persönlichkeit mit Hilfe schulischer Bildung frei zu entfalten. Wird diese spezifisch schulische Entfaltungsmöglichkeit durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt, liegt darin […] ein Eingriff, gegen den sich Schüler wenden können.

Abwehrfunktion des Rechts auf schulische Bildung

[63] Dieses Abwehrrecht reicht nur soweit, wie das vom Staat als Ganzes ausgestaltete Schulsystem in jeder einzelnen Schule eine nach Art, Inhalt und Umfang bestimmte schulische Bildung eröffnet. Daher können sich die Schülerinnen und Schüler nur gegen solche Maßnahmen wenden, die zwar die Ausübung des Rechts auf schulische Bildung einschränken, das vom Staat zur Wahrnehmung dieses Rechts bereitgestellte Schulsystem selbst jedoch unberührt lassen, wie etwa bei belastenden Ordnungsmaßnahmen wie dem Schulausschluss wegen Störung des Schulfriedens. Dabei genügt es – unabhängig von der Schulpflichtigkeit der jeweils Betroffenen – für einen Eingriff in das Recht auf schulische Bildung, wenn in der besuchten Schule aktuell eröffnete und auch wahrgenommene schulische Bildung durch eine staatliche Maßnahme gewissermaßen „von außen“ beeinträchtigt wird.“

Umschreibung des Inhalts der Abwehrfunktion: Schützt nicht gegen Bildungsinhalte und Bildungsstrukturen, sondern gegen Verhinderung von Unterricht durch staatliche Maßnahmen.

Demnach ist der Schutzbereich des Grundrechts auf schulische Bildung aus Art. 2 I i.V.m. Art. 7 I GG eröffnet.

2. Eingriff

Es muss ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegen.

„[76] […] das Verbot von Präsenzunterricht beruhte weder auf schulgestalterischen Erwägungen, wie etwa einer Ausweitung von Distanzunterricht aus pädagogischen oder didaktischen Gründen, noch wurde damit auf eine Knappheit öffentlicher Mittel reagiert. Vielmehr diente die Maßnahme allein dem gefahrenabwehrrechtlichen Ziel der Bekämpfung der Pandemie durch Verhinderung zwischenmenschlicher Kontakte an Schulen. Das zur Wahrnehmung des Rechts auf schulische Bildung geschaffene Schulsystem an sich, das den Präsenzunterricht als Regelunterrichtsform vorsieht, blieb dabei unverändert bestehen. In dieses bestehende Bildungsangebot wurde zu außerschulischen Zwecken eingegriffen und so die spezifisch schulische Entfaltungsmöglichkeit der beschwerdeführenden Schülerinnen und Schüler eingeschränkt.

Eingriff (+), da es nicht um Ausgestaltung des Schulsystems oder der Lerninhalte ging, sondern um Verhinderung des Präsenzunterrichts.

II. Rechtfertigung des Eingriffs

Die aufgezeigten Grundrechtseingriffe sind gerechtfertigt, wenn sie von den Schranken der betroffenen Grundrechte gedeckt sind.

Obersatz

1. Festlegung der Schranke
Art. 2 I GG
steht unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt (sog. Schrankentrias), kann also durch jedes Gesetz eingeschränkt werden, hier durch § 28b III 2, 3 IfSG.

Schrankentrias

2. Schranken-Schranken

a) Formelle Verfassungsmäßigkeit des § 28b III 2, 3 IfSG

aa) Gesetzgebungskompetenz
Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes könnte sich aus 74 I Nr. 19 GG ergeben. Die Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19), deren Bekämpfung § 28b IfSG ausweislich seiner amtlichen Überschrift dient, ist eine übertragbare Krankheit bei Menschen.

Art. 74 I Nr. 19 GG

„[86] […] Zu dem danach allein der Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnis der Länder unterfallenden Gebiet des Schulwesens gehört als ein wesentlicher Bestandteil die Ausgestaltung schulischen Unterrichts. In diesen Bereich greift die Vorschrift des § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG über, wenn sie bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen den nach dem Schulrecht der Länder als Regelunterrichtsform vorgesehenen Präsenzunterricht ganz oder teilweise untersagt. Daraus folgt hier jedoch nicht, dass die Vorschrift nach ihrem unmittelbaren Regelungsgegenstand und Zweck dem Schulrecht zuzuordnen ist. Infektionskrankheiten wie COVID-19 werden unmittelbar von Mensch zu Mensch übertragen. Daher müssen Maßnahmen zur Bekämpfung solcher Infektionskrankheiten an Situationen anknüpfen, in denen sich Menschen begegnen. Eine wirksame Infektionsbekämpfung kann folglich auch Regelungen zu solchen Kontaktorten notwendig machen, die – wie die Gemeinschaftseinrichtung „Schulen“ – an sich in anderen Zusammenhängen der Gesetzgebungskompetenz der Länder unterfallen. Solche Regelungen sind jedoch nur dann dem Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zuzuordnen, wenn sie allein darauf beschränkt sind, von den entsprechenden Kontaktorten ausgehende Infektionsgefahren einzudämmen.

Problem: Schule ist Sache der Länder

Entscheidend ist, ob es um Schulinhalte geht oder um Infektionsschutz.

[87] Ausgehend davon stellte das Verbot von Präsenzunterricht […] nach Regelungsgegenstand und Zweck eine ausschließlich auf die Bekämpfung von Erkrankungen durch das Coronavirus SARS-CoV-2 bezogene Maßnahme dar. […] Der Präsenzunterricht wurde nicht aus schulgestalterischen Erwägungen heraus zum Gegenstand der „Bundesnotbremse“, sondern nur deshalb, weil es sich […] um einen Ort zwischenmenschlicher Zusammentreffen handelt, von dem Infektionsgefahren ausgehen können.

Subsumtion: Es ging um Infektionsschutz und nicht um Gestaltung des Unterrichts.

Demnach folgt die Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 I Nr. 19 GG.

bb) Gesetzgebungsverfahren

Hinsichtlich des Gesetzgebungsverfahrens ist nur fraglich, ob § 28b III 2, 3 IfSG der Zustimmung des Bundesrates bedurfte, um wirksam zustande zu kommen. Die Zustimmungspflicht könnte aus Art. 104 IV GG folgen. Da weder eine bundeseigene Verwaltung noch eine Bundesauftragsverwaltung im Grundgesetz angeordnet ist, wird das IfSG – wie von Art. 104 IV GG gefordert – von den Ländern als eigene Angelegenheit i.S.v. Art. 83, 84 GG ausgeführt. Fraglich ist, ob § 28b III 2, 3 IfSG die Länder i.S.v. Art. 104 IV GG zur Erbringung von Geldleistungen gegenüber Dritten verpflichtete. Eine solche Pflicht könnte sich aus § 56 Ia IfSG ergeben.

Problem: Musste Bundesrat zustimmen?

Zustimmungsbedürftigkeit wegen Art. 104 IV GG?

Art. 104 IV Fall 1 GG: Erbringung von Geldleistungen
Anknüpfungspunkt: § 56 Ia IfSG

„[95] […] Dieser Entschädigungsanspruch erfasste nicht das Verbot von Präsenzunterricht nach § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG. Dabei kann dahinstehen, ob dieses Verbot als „vorübergehende Schulschließung“ oder als „Aufhebung der Präsenzpflicht in einer Schule“ anzusehen ist. Jedenfalls beruhte es nicht, wie von § 56 Abs. 1a Nr. 1 IfSG in der bei Verabschiedung des Gesetzes geltenden Fassung noch vorausgesetzt, auf einer Maßnahme „der zuständigen Behörde“, sondern trat unmittelbar kraft Gesetzes ein […].“

(-), da § 56 Ia IfSG nicht greift

Im Übrigen hatte der Bundesrat dem Erlass des § 56 Ia IfSG in seiner ursprünglichen Fassung zugestimmt (s. Rn 96 der Entscheidung).

Möglicherweise begründete aber § 28b III 1 IfSG eine Pflicht der Länder zur Erbringung von geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten, indem eine Teilnahme am Präsenzunterricht nur nach Durchführung eines Coronatests zulässig war.

Art. 104 IV Fall 2 und 3 GG: Erbringung von geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen

Anknüpfungspunkt: Testung der Schüler und Lehrer verursacht Kosten für die Länder

„[100] Bereits der Wortlaut der Vorschrift macht deutlich, dass sich die Zustimmungsbedürftigkeit nicht auf Aufwendungen der Länder […] bezieht, die nicht der eigentliche Zweck der den Ländern bundesgesetzlich aufgegebenen Aufgabe sind, sondern die nur deshalb als faktische Pflicht der Länder entstehen, weil der Gesetzeszweck anders nicht erreicht werden kann. Vielmehr muss die durch das Bundesgesetz „begründete“ Pflicht der Länder darauf ausgerichtet sein, „Leistungen gegenüber Dritten zu erbringen“. Darin kommt die Vorstellung eines zielgerichteten Handelns zum Ausdruck, was nahelegt, dass es nicht um alle bei Gelegenheit der Ausführung des Bundesgesetzes anfallenden drittnützigen Aufwendungen der Länder gehen soll, sondern um bundesgesetzliche Regelungen, deren Zweck gerade darin besteht, Dritten individuelle Vorteile durch staatliche Leistungen zukommen zu lassen.

Aber: Art. 104 IV GG erfasst nur Kosten, die zielgerichtet entstehen (z.B. Pflicht der Länder zur Schaffung von Aufnahmeeinrichtungen für Asylbegehrende) und nicht nur „bei Gelegenheit“ der Ausführung von Bundesgesetzen.

Das BVerfG hat zudem die Entstehungsgeschichte des Art. 104 IV GG zur Bestätigung dieser Auslegung herangezogen (Rn 101 f. der Entscheidung).

[104] Ausgehend davon verpflichtete § 28b Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 IfSG die Länder nicht dazu, Dritten gegenüber geldwerte Sachleistungen im Sinne von Art. 104a Abs. 4 GG zu erbringen. […] Es ging […] allein darum, die durch das Zusammentreffen von Schülern und Lehrkräften bedingte Gefahr von Infektionen zu verringern. Dass die Testungen aus verwaltungspraktischen Gründen von den Schulbehörden angeboten werden mussten und den Ländern dadurch Ausgaben entstanden, stellte lediglich eine Nebenfolge der gefahrenabwehrrechtlichen Regelung dar. Insoweit unterschieden sich diese Aufwendungen nicht von Aufwendungen der Länder, die etwa notwendig wurden, um Präsenzunterricht unter Einhaltung angemessener Schutz- und Hygienemaßnahmen durchführen zu können.“

Hier (-), finanzielle Belastung der Länder durch die Testungen ist nur Nebenfolge einer gefahrenabwehrrechtlichen Regelung.

Folglich ist Art. 104 IV GG nicht einschlägig, sodass § 28b III 2, 3 IfSG nicht der Zustimmung des Bundesrates bedurfte und damit formell verfassungsmäßig ist.

Das BVerfG hat auch noch eine Zustimmungspflicht aufgrund des – allerdings evident nicht einschlägigen – Art. 80 II GG untersucht (Rn 106 der Entscheidung).

b) Materielle Verfassungsmäßigkeit des § 28b III 2, 3 IfSG

Materiell-rechtlich ist die Vereinbarkeit des § 28b III 2, 3 IfSG mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip fraglich.
Die Bestimmungen sollten durch Kontaktreduzierungen in der Schule das Leben und die Gesundheit schützen sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sicherstellen. Zwar erkranken Kinder und Jugendliche nur selten schwer an COVID-19. Sie übertragen das Virus jedoch an Lehrer, Erzieher und andere Personen auf dem Weg zur Schule und im familiären Umfeld. Deshalb war eine Kontaktreduzierung durch das Verbot von Präsenzunterricht geeignet, die aufgezeigten Ziele zu fördern.

Legitime Zwecke

Geeignetheit
Zusammenfassung der zentralen Argumente des BVerfG; s. im Detail Rn 113-120 der Entscheidung

Weiterhin müssen die Kontaktbeschränkungen erforderlich gewesen sein. Hier steht dem Gesetzgeber in Abhängigkeit von der Eingriffsintensität und der Komplexität der zu regelnden Materie ein mehr oder minder weiter Beurteilungsspielraum zu. Als mildere Alternative zur Schulschließung kommt eine konsequente Testung aller Lehrer und Schüler sowie eine strikte Beachtung strenger Hygieneregeln in Betracht. Allerdings lassen sich auf diesem Weg nicht Infektionen im Schulumfeld (z.B. in Bus und Bahn) sicher verhindern. Ferner fehlt es an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass sich Infektionen bei hohen Inzidenzen ebenso gut durch Testungen und Hygieneregeln verhindern lassen wie durch Schulschließungen, sodass sich die gesetzlichen Anordnungen innerhalb des Beurteilungsspielraums bewegten. Eine stärkere Beschränkung von Kontakten im Arbeitsbereich und eine bessere Abschirmung vulnerabler Gruppen ist im Übrigen keine zulässige Alternative, weil dadurch die Belastungen auf Dritte verschoben würden.

Erforderlichkeit
Zusammenfassung der zentralen Argumente des BVerfG; s. im Detail Rn 121-132 der Entscheidung

Wichtig: Schutz der eigenen Freiheit auf Kosten anderer Personen ist kein milderes Mittel!

Hinsichtlich der Angemessenheit ist in Anbetracht der schon vorher erfolgten Schulschließungen seit Pandemiebeginn, der erheblichen Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen, der entstandenen Lerndefizite (insbesondere bei Grundschülern und Schülern aus sozial benachteiligten Familien) sowie der Tatsache, dass der Präsenzunterricht nicht vorwiegend durch Digitalunterricht, sondern durch die Bereitstellung von Aufgaben ersetzt wurde, von einem erheblichen Eingriffsgewicht auszugehen. Andererseits diente § 28b III 2, 3 IfSG dem Schutz überragender Gemeinwohlbelange und war Teil eines Gesamtkonzepts, das darauf angelegt war, in einer Notsituation die Dynamik des Infektionsgeschehens möglichst umfassend und rasch zu durchbrechen. Des Weiteren erfolgte eine vollständige Schulschließung erst ab der Überschreitung eines Inzidenzwertes von 165 und nicht schon – wie bei den Einschränkungen gem. § 28b I IfSG – ab dem Wert 100. Ferner blieb gem. § 28b III 6 IfSG eine Notbetreuung möglich. Darüber hinaus konnten Bildungsdefizite und Lerneinbußen zumindest teilweise durch Distanzunterricht ausgeglichen werden, zu dessen Angebot die Länder als Inhaber der Bildungshoheit aufgrund des Art. 7 I GG verpflichtet sind, da der Mindeststandard staatlicher Bildungsleistungen unterschritten wird, wenn über einen längeren Zeitraum keinerlei Unterricht stattfindet. Weiterhin hat der Bund Finanzmittel bereitgestellt, um die Lüftungsverhältnisse in den Schulgebäuden und die Digitalisierung des Unterrichts zu verbessern, es kann ihm insoweit also kein Versäumnis nachgewiesen werden, das auf die Angemessenheit des Verbots von Präsenzunterricht Einfluss hätte. Schließlich mildert auch die zeitliche Befristung der „Bundesnotbremse“ deren Eingriffswirkung. Daher ist insgesamt betrachtet davon auszugehen, dass § 28b III 2, 3 IfSG angemessen und somit verhältnismäßig war. Die Vorschrift waren folglich verfassungskonform.

Angemessenheit / Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Zusammenfassung der zentralen Argumente des BVerfG; s. im Detail Rn 133-199 der Entscheidung

Beachte: Pflicht zum Distanzunterricht¢Anspruch der Schüler auf Durchführung von Distanzunterricht, wenn keine erheblichen Hindernisse personeller, sächlicher oder organisatorischer Art bestehen (z.B. Computer können nicht schnell genug beschafft werden, vgl. Rn 174 der Entscheidung).

FAZIT

Herausragende Bedeutung haben die Ausführungen des BVerfG zum Recht auf Bildung, womit Art. 7 I GG quasi „versubjektiviert“ wurde. Allerdings kann sich der Einzelne nicht ein individuelles Schulsystem wünschen, sondern geschützt sind „nur“ der Anspruch auf einen unverzichtbaren Mindeststandard (wozu auch Distanzunterricht gehört) und die Möglichkeit, staatliche Eingriffe von außen in den Schulbetrieb (wie Schulschließungen) abwehren zu können. Des Weiteren sind die Ausführungen des Gerichts zur Gesetzgebungskompetenz und zum Gesetzgebungsverfahren (zustimmungspflichtiges Gesetz) examensrelevant.

Relativ kurz ist das BVerfG zudem auf Art. 3 II 2, 6 I, II 1 GG eingegangen (Beeinträchtigungen des familiären Zusammenlebens durch Wegfall des Präsenzunterrichts; Benachteiligung der Mütter, die überwiegend die Betreuung der Kinder übernommen haben). Soweit überhaupt ein staatlicher Eingriff vorlag, war dieser gerechtfertigt, weil es die Möglichkeit der Notbetreuung und finanzielle Entlastung durch den Staat gab (§ 56 Ia IfSG, § 45 IIa SGB V).

Rn 200-221 der Entscheidung

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Beitragsautor:

Jura Intensiv

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